Mehr als die Hälfte des Schweizerischen Wohnungsbestandes entstammt den Boomjahren der Nachkriegszeit. Ganze Stadtteile und Agglomerationsgürtel entstanden in der euphorischen Wachstumsphase der 50er bis 70er Jahre. In aufgelockerten Zeilen spielerisch komponiert, wurde an den damaligen Siedlungsrändern das «moderne Wohnen im Grünen» und im grossen Massstab verwirklicht.
Nach nunmehr einigen Jahrzehnten blickt diese Generation von Wohnbauten einem Sanierungszyklus entgegen. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass ein grosser Teil noch nie eine Auffrischung erfahren hat. Wie aus einer Umfrage des ETH Wohnforums in Investorenkreisen resultiert, erweist sich in der Praxis die anstehende Sanierung als derjenige Problemkreis, der unter den aktuellen Fragestellungen an erster Stelle steht. Die Erneuerung der Generation «Bauboom» gehört zu den vordringlichen Zukunftsaufgaben, doch bereitet sie erhebliches Kopfzerbrechen und zeigt deutlich die Grenzen des Möglichen auf: Inwieweit lassen sich Wohnbauten der Nachkriegszeit überhaupt an gegenwärtige Bedürfnisse adaptieren?
Der Zustand des «Erbes»
Veraltete, wenig anpassbare und heute kaum mehr praktikable Grundrisse sowie haustechnische und bauphysikalische Mängel sind die Schwächen der «Generation Bauboom».
Trittschall- und Wärmeisolation rangieren unter den bauphysikalischen Belangen an erster Stelle. Ist eine verbesserte Wärmedämmung mit einer baulich einfachen jedoch nichtsdestoweniger kostenintensiven Fassaden- und Dachsanierung zu erzielen, so gehört die Optimierung der Trittschalldämmung meist zu den unrealisierbaren Desideraten. Die Aufwendungen dafür sind schlichtweg zu teuer und die geringen Raumgrössen und Deckenhöhen lassen selbst im Zentimeterbereich kaum eine nachträgliche Reduktion zu.
Die Haustechnik wartet gleich mit zwei Aufgabenstellungen auf: Der Ersatz baufälliger Leitungssysteme und das Nachrüsten auf gegenwärtige Anforderungen. Vor allem die Elektroinstallationen lassen im Zeitalter der Unterhaltungs- und Kommunikationstechnologie zu wünschen übrig und die zahlreichen Haushaltgeräte erfordern eine entsprechende Anzahl von Steckdosen. Ein Eingriff im haustechnischen Bereich gehört in jedem Fall bereits zu den aufwendigen Massnahmen, die sich nur im Rahmen eines Gesamtsanierungskonzepts lösen lassen.
Wären denn nun die heutigen Mieterinnen und Mieter mit dem sanierten Statusquo zufrieden? Wohl kaum. Die grösste Herausforderung besteht zweifellos in der Adaption der Grundrisse.
Wohnungsbau heute
War es in den Boomjahren fraglos klar, wer die zukünftigen Benutzer waren und wie sich deren Bedürfnisse gestalteten, so ist in der Zwischenzeit einiges in Bewegung geraten. Obschon die vierköpfige Familie nach wie vor als gesellschaftliches Ideal gilt, handelt es sich nur noch bei jedem dritten Haushalt um die klassische Kleinfamilie. Individualisierung und Pluralisierung zeigen ihre Wirkung und die Haushalte zersplittern sich zunehmend in eine Vielzahl weiterer Gruppen: zum Beispiel Patchwork-Familien, alleinerziehende, Singles, Wohngemeinschaften für Jung wie Alt.
Wie finden sich nun diese heterogenen Haushalte, die sich zudem oft von Lebensphase zu Lebensphase neu ordnen, in den Normwohnungen der Boomzeit zurecht? Entsprechen ein grosses Wohnzimmer, ein bescheidenes Elternzimmer und kleinste Kinderzimmer ihren Wünschen?
Neuer Tagesablauf
Neben der Zusammensetzung der Haushalte verändert sich auch merklich der räumliche und zeitliche Tagesablauf. Die klare Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten, wie sie in der Zeit des Baubooms massgebend war, weicht zunehmend flexibleren Formen. Neue Entwicklungen der Telekommunikation unterstützen diese Verschiebungen. Arbeiten zu Hause ist technisch möglich und gesellschaftlich akzeptiert. Wie stark dies die Wohnungsorganisation beeinflusst, werden die kommenden Jahre noch weisen müssen.
Mehr Wohnfläche
Als weitere Rahmenbedingung und zugleich bedeutendste Tendenz ist der gestiegene Bedarf an Wohnfläche zu nennen. Standen pro Bewohner um 1950 rund 25m2 zur Verfügung, so beläuft sich die gegenwärtige Statistik auf etwa 44m2. Die Sprengkraft dieser Entwicklung entfaltet sich gerade bei den Bauten der 50er und 60er Jahre: Die Wohnungen sind zu klein.
Anders als in den Boomjahren ist heute ein vierköpfiger Haushalt kaum mehr mit drei Zimmern und 70m2 Wohnfläche zufrieden. Vergrössern lautet die einfache Devise. Doch wie? Und nicht zuletzt: Wären denn nun mit der Behebung der haustechnischen und bauphysikalischen Mängel und mit der Vergrösserung der Grundrisse alle Problemstellungen beantwortet? Wohl kaum. Die noch grössere Herausforderung liegt im Städtebau. Die Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit zeichnen sich durch einen grossen Landanteil und eine geringe bauliche Dichte aus. Die grosszügigen grünen Aussenräume sind ihr eigentliches Charakteristikum. Zahlreiche Wohngebiete im Agglomerationsbereich haben in den 80er und 90er Jahren eine Aufzonung erfahren.
Vielerorts liesse sich deshalb eine wesentlich höhere Ausnutzung erzielen. Im Sanierungsfall ist es gerade das Argument der Dichte, welches die Zukunft der «Generation Bauboom» gefährdet. Ersatzbauten mit gesetzlich zulässiger Ausnutzung schälen sich gegenüber kostenintensiven Sanierungen, die nur in Teilbereichen befriedigende Lösungen zu bieten vermögen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht als attraktive Alternative heraus.
Die Zukunft des Baubooms: Erneuerungsstrategien
Der Wohnungsbau befindet sich gegenwärtig im Umbruch. Das bestimmende Thema des 19. und 20. Jahrhunderts Wohnungsbau als Grundversorgung verliert an Brisanz. Die Grundversorgung dürfte mit den erwähnten 44m2 pro Kopf abgedeckt sein und die Problemstellung verschiebt sich zur Frage nach der angemessenen Qualität des Wohn- und Stadtraumes.
Reichten in den 80er Jahren noch wenige Eingriffe - Bad und Küche erneuern, Wärmedämmung optimieren und die privaten Aussenräume durch Anbauten vergrössern -, so ist gegenwärtig die Zukunft der «Generation Bauboom» grundsätzlich in Frage gestellt. Die realisierten Erneuerungen reichen von kleinen Anpassungen über die Neukonzeption der bestehenden Grundrisse bis zum Ersatzneubau.
In wirtschaftlich schwachen Regionen wie etwa in den neuen Bundesländern Deutschlands sind es gerade die Wohnbauten der Boomjahre, welche zur Stabilisierung des städtischen Gefüges grossflächig dem Baggerzahn weichen. Zurzeit sind verschiedenste Strategien zu beobachten, was durchaus als Ausdruck einer Verunsicherung verstanden werden kann.
Heidi Stoffel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin ETH Wohnforum, Zürich.
Flexible Nutzung
Wie weiter?
Nach mehr als einem halben Jahrhundert des funktionalen Wohnungsbaus erweisen sich dessen Grundlagen wie minimale Fläche als Hindernisse, den Bestand umzurüsten. Die für die heutigen Erwartungen zu kleinen Wohnungen der Boomjahre sperren sich gegen veränderte Nutzergruppen und -verhalten. Die Wohnbauten des 19. Jahrhunderts hingegen geniessen durch die flexible Nutzung der Individualräume eine hohe Akzeptanz. Ihre grossen und gleichwertigen Räume lassen sich auf unterschiedlichste Weise gebrauchen. Gegenwärtig erfahren Lösungsansätze, die auf klare Nutzungszuweisungen verzichten, eine neue Wertschätzung. Die funktionale Offenheit lässt sich am Einzelobjekt wie auf städtebaulicher Ebene feststellen. Warum sollte ein Wohnbau als Wohnbau festgeschrieben bleiben? Die Umnutzung alter Industrie-, Büro- und Ökonomiebauten zu Wohnraum könnte für anpassbare Bauten und somit auch Wohnbauten eine zukunftsweisende Herausforderung darstellen.