Das Büro im zweiten Stock am Zürcher Stampfenbachplatz macht auf Wohlfühlatmosphäre: Von der Decke hängen Grünpflanzen, ein Getränkekühlschrank steht zur freien Verfügung, sogar ein Spirituosenwägelchen wie im Edelrestaurant lädt ein zur Selbstbedienung. Kostenloses Mittagessen ist selbstverständlich. Bei der Europazentrale von Evernote stand offensichtlich Google Pate.

Das Unternehmen hat eine kurze, dafür turbulente Geschichte hinter sich: 2007 wurde der Clouddienst gegründet als digitales Elefantengedächtnis. Informationen jeglicher Art per Knopfdruck abspeichern und von jedem Gerät aus finden zu können, war das Versprechen. Schnell gewann man weltweit über 100 Millionen User und 270 Millionen Dollar Wagniskapital. 2012 feierte das Silicon Valley die Firma als Einhorn, als Start-up mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar. Dann verlor Evernote erst den Fokus, dann die User, die Coolness und schliesslich die guten Mitarbeiter: «Das erste tote Einhorn», spottete die Konkurrenz. Fünf Millionen Dollar verbrannte man pro Monat.

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Zürich als Europazentrale

Jetzt läuft das Revival. Mittendrin: Beat Bühlmann. «Die Schweiz ist Evernote-Land», sagt der 42-jährige Zuger. Knapp jeder zehnte Einwohner nutzt den Dienst hierzulande. Eine höhere User-Dichte hat Evernote nur in Japan. Bühlmann ist seit Juli 2016 Chef für Europa, Afrika und den Nahen Osten (EMEA), den zweitwichtigsten Markt nach Nordamerika, und damit verantwortlich für 30 Prozent des Umsatzes.

Zürich als Europazentrale wurde aber schon vor seiner Zeit gewählt: «Wir sind hier aus einem wichtigen Grund: Zugang zu Talenten», sagt Bühlmann. Und Zürich sei gut gelegen, mit Direktflügen aus dem Silicon Valley erreichbar, wirtschaftsfreundlich und von hoher Lebensqualität. Rund 25 Mitarbeiter sind am Stampfenbachplatz stationiert, weitere Stellen sind ausgeschrieben, auch für Programmierer: Wichtige Codeteile wurden hier entwickelt, der Präsentationsmodus etwa oder der Web Clipper, mit dem sich ganze 
Websites auf Knopfdruck in der Cloud 
ablegen lassen.

Allerlei Zusatzgeschäfte

Der schnelle Erfolg von Evernote entwickelte sich zum Problem: Weil Investorengeld reichlich vorhanden war, vernachlässigte man die Monetarisierung. 99 Prozent der User nutzten nur den kostenlosen Basisdienst. Das brachte zwar Marktanteile, aber keine Umsätze. Stattdessen suchte man sein Glück in allerlei Zusatzgeschäften wie Scannern oder analogen Notizbüchern.

Phil Libin, Mitgründer und Vorgänger des jetzigen CEO, liess Evernote sogar als Modemarke schützen und verkaufte Socken (fünf Paar für 75 Dollar) oder Taschen (250 Dollar) mit dem Firmenlogo, einem hellgrünen Elefantenkopf. Im Juli 2015 wurde er abgelöst vom Amerikaner Chris O’Neill (45). «Man wollte unternehmerisch sein und Wetten eingehen», sagt dieser zu den Irrwegen. «Aber man muss in seinem Kerngeschäft der Beste sein.»

(K)Aderlass

Also griff er nach seinem Amtsantritt durch. Er wechselte fast das gesamte Topmanagement aus und machte Bühlmann zum Europachef. Auch weiter unten setzte er die Drehtür in Bewegung: O’Neill baute netto ein Fünftel der Stellen ab (von 400 auf 320), doch allein in den letzten 18 Monaten fingen 130 Mitarbeiter neu an. Er verkaufte die eigenen Rechenzentren und migrierte Millionen von Terabytes Kundendaten auf die Google Cloud (die Daten sind jedoch verschlüsselt und für Google nicht einsehbar).

«Wir können uns nicht differenzieren, indem wir Data Center betreiben», begründet er diesen ungewöhnlichen Schritt. «Andere haben allein dafür Tausende Mitarbeiter.» Und es reduzierte die Kosten um satte 50 Prozent.

Das Geld investierte O’Neil in die Entwicklung. «Vieles davon ist unter der Haube. Man sieht es nicht, aber es verbessert das Produkterlebnis», sagt er. Und in den Vertrieb: So liegt der Fokus heute nicht mehr allein auf Wachstum, sondern auf der Monetarisierung des Dienstes.

75'000 bis 100'000 neue User täglich

Das zahlt sich aus: «2016 war bisher das beste Jahr», sagt O’Neill. «Wir gewinnen pro Tag 75'000 bis 100'000 neue User.» Bei grob geschätzten 250 Millionen dürfte die Nutzerzahl liegen. Die Anzahl der zahlenden Kunden ist laut O’Neill um 40 Prozent gestiegen, genaue Umsatzzahlen gibt er aber nicht bekannt. Sie dürften wohl im mittleren zweistelligen Millionenbereich liegen. «Unsere Margen haben sich enorm verbessert», so O’Neill. Vor allem ist man seit letztem Sommer Cashflow-positiv. Für Evernote ein wichtiger Meilenstein: «Jetzt kontrollieren wir unser Schicksal selbst.»

Dies auch deshalb, weil man statt Einzelkunden inzwischen vermehrt KMUs anspricht. In der Schweiz gehören unter anderen der Taschenhersteller Freitag oder die HWZ Zürich zu den Kunden. «Wir visieren nicht die grossen Namen an», sagt Bühlmann, der nebenher für die SVP im Gemeinderat der Stadt Zug sitzt und an der HSG Digitale Transformation unterrichtet: «Evernote funktioniert am besten in kleinen Teams.»

Einst gemeinsam bei Google

Auch wenn sie selber nie direkt miteinander gearbeitet hatten: Bühlmann und O’Neill verbindet die Vergangenheit bei Google. Der Schweizer war in Zürich für das Business Development und den Verkauf in den Sparten Handel, Reise und Finanz zuständig und später in London für den Bereich Healthcare. Der Amerikaner war Länderchef in Kanada und später als Leiter des Entwicklungslabors Google X auch verantwortlich für Google Glass.

Aus dem Flop mit der Datenbrille zog er seine Lehren: «Man muss das Problem, das man lösen will, klar identifiziert haben. Sonst hat man eine Lösung, die nach einem Problem sucht.» Und er hat festgestellt, dass man nicht zu harten Entscheidungen gezwungen wird, wenn es zu viele Ressourcen gibt. Oder auf Englisch: «Creativity loves constraint» – die gleiche Erfahrung, die sein Vorgänger bei Evernote machte.

Seine grösste Herausforderung jetzt: die richtigen Leute zu bekommen. 30 bis 40 neue Spezialisten sucht Evernote in 
ihrem neuen Wachstumsschwung jedes Quartal. Schwierig, wenn man im Silicon Valley seine Coolness verloren hat und bei der Rekrutierung gegen Firmen wie Facebook, Uber, Snapchat und Co. antreten muss. «Dort ist man als Mitarbeiter einer unter vielen», sagt O’Neill. «Bei uns kann man viel mehr Impact haben.» Sogar die Praktikanten schrieben am Code mit.

Künstliche intelligenz

Bei den Produktivitätstools ist Evernote Marktführer. Wie gross dieser Markt ist, darüber gehen die Schätzungen auseinander. Viele sehen ihn bei 15 bis 20 Milliarden Dollar. Klar ist: Er wächst sehr stark. Bühlmann und O’Neill treten dabei gegen Nischenanbieter an wie Dropbox oder Slack, aber auch gegen Giganten wie Microsoft (mit One Note) und Google (mit Keep). «Für die ist es kein Kerngeschäft, wir aber sind nur darauf fixiert», sagt O’Neill.

Er hofft, sie mit dem besseren Produkt zu schlagen: So arbeitet Evernote in Zürich und in Redwood City im Silicon Valley etwa daran, den Onlinespeicher mit künstlicher Intelligenz zu versehen. Beispielsweise indem Gesprächsaufnahmen eines Tages automatisch transkribiert werden, was dem User die Abtipparbeit erspart. «Das ist schon ganz gut, aber noch nicht perfekt: Die Trefferquote liegt erst bei 80 bis 90 Prozent», sagt O’Neill. Auch automatische Übersetzungen sind geplant.

Von der «moralischen Verpflichtung eines Börsenganges», von der sein Vorgänger einst schwadronierte, will er für einige Zeit nichts wissen: Kundennutzen zu schaffen, sei die einzige Verpflichtung. Selbst die Bewertung als Unicorn ist ihm egal: «Diese Obsession ist völlig übertrieben. Viele Unternehmen verlieren dadurch nur den Fokus.»

Seine eigene Firma ist dafür das beste Beispiel.