Seine Chancen stehen nicht schlecht: Investment-Banker Frank Quattrone, als Erster der vermeintlich grossen Fische aus der Dotcom-Ära wegen Behinderung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen verurteilt, könnte schon bald vom Haken kommen. Der Schuldspruch durch ein New Yorker Gericht steht im Sommer auf dem Prüfstand. Und die einzige wirklich interessante Frage scheint zu sein, welchen Grund das Berufungsgericht für die Revision des Schuldspruchs anführen könnte: die ziemlich dünne Beweislage gegen Quattrone? Oder doch die offensichtliche Parteinahme des zuständigen Richters Richard Owen für die Staatsanwaltschaft?
Ein Rückblick: Im Frühjahr 2000, als Quattrone noch Leiter der legendären Global Technology Group bei CSFB in Palo Alto war, hatten die US-Aufsichtsbehörden National Association of Securities Dealers (NASD) und Securities and Exchange Commission (SEC) unabhängig voneinander Untersuchungen eingeleitet. Dabei ging es um die Behauptung, Credit Suisse First Boston und Quattrone hätten die Vergabe von IPO-Aktien manipuliert. Als Dank für bevorzugte Zuteilungen der begehrten Erstemissionen sollen Quattrone und seine Leute über Jahre fürstliche Provisionen von diversen Hedge-Fund-Managern erhalten haben.
Im November desselben Jahres begann auch die US-Staatsanwaltschaft zu ermitteln. Am 5. Dezember 2000, nur zwei Tage nachdem Quattrone über gewisse Untersuchungen informiert worden war, hatte er die interne E-Mail eines Mitarbeiters abgesegnet. Titel der digitalen Post: «Time to clean up those files» – «Zeit, die alten Dateien zu löschen». Darin wurde Quattrones Mitarbeiter daran erinnert, die «internen Richtlinien im Umgang mit Dokumenten» zu befolgen. Mit anderen Worten: Den Bankern wurde nahe gelegt, bis auf einige Schlüsseldokumente alle Unterlagen über die Deals zu löschen. Das entsprach durchaus gängigen Gepflogenheiten: Die Archivierung aller Daten war laut internen Bestimmungen nur für den Fall eines offiziellen Ermittlungsverfahrens seitens der Aufsichtsbehörden vorgesehen.
Tatsächlich liessen die Fakten Quattrone lange aber in keinem guten Licht erscheinen. Tatsache ist freilich auch, dass der kalifornische Starbanker von den Aktivitäten der Staatsanwaltschaft zunächst gar nicht selbst erfuhr. Die Mitteilung über die Aufnahme eines Untersuchungsverfahrens war vielmehr direkt an die Revisionsanwälte der CSFB in New York gegangen. Alle von den Behörden verlangten Unterlagen im Zusammenhang mit so genannten Kickback-Zahlungen lagen entsprechend interner Archivverordnung ohnehin im Hauptquartier in Manhattan. Die Rechtsanwälte der CSFB wiesen Frank Quattrone und seine Mitarbeiter zunächst bloss an, Dokumente im Zusammenhang mit zwei Börsengängen aufzubewahren, was sie auch taten.
Ohne Quattrones Wissen hatte die SEC im September bereits die Aushändigung von Dokumenten verlangt, die sich auf Hunderte durch die CSFB durchgeführte Börsengänge bezogen. Unerklärlicherweise aber leiteten die Rechtsanwälte von CSFB eine entsprechende Anordnung zur Aufbewahrung nie an Frank Quattrone weiter. Ebenso unverständlich ist auch, warum Richter Owen während des Prozesses dem Verteidigerteam von Quattrone untersagte, eben diese Fragen vor den Geschworenen zu erörtern.
Letztlich gibt es bis heute keinen handfesten Beweis dafür, dass der Zeitpunkt der ominösen E-Mail etwas anderes als ein Zufall war. Ihr Verfasser, Quattrones Mitarbeiter Richard Char, wusste damals weder etwas über die Ermittlungsbemühungen der SEC noch über die Untersuchung durch die US-Staatsanwaltschaft. Bevor er die elektronische Post versandte, hatte Char noch pflichtbewusst einen Entwurf an den Chef der Rechtsabteilung der Technology Group, Adrian Dollard, weitergeleitet. Auch Dollard, der ebenfalls von der New Yorker Zentrale über Vorladung und Strafandrohung im Dunklen gehalten worden war, erhob keinen Einwand. Pikanterweise hielt er am nächsten Tag vor den kalifornischen Technologie-Bankern sogar eine Lehrstunde über den «ordnungsgemässen Umgang bei der Archivierung von Schriftstücken» ab – auch das ein Faktum, das Richter Richard Owen den Geschworenen während des Prozesses vorenthielt.
Das einzige Verbrechen Quattrones beschränkte sich darauf, der E-Mail von Richard Char einen kurzen Zusatz hinzugefügt zu haben – so wie er es schon zuvor bei unzähligen Hausmitteilungen gehandhabt hatte. Inhalt des Addendums: die dringende Bitte, der E-Mail seines Mitarbeiters Beachtung zu schenken. Frank Quattrone bezeugte vor Gericht, dass es seinem damaligen Verständnis nach keine inhaltliche Verbindung zwischen der Aufforderung von Richard Char zur Aktienvernichtung und der schwebenden Untersuchung der Staatsanwaltschaft gab, von der er gerade erst erfahren hatte. Er, so Quattrone, sei davon ausgegangen, dass ihn die Revisionsanwälte über eine etwaige Änderung der allgemeinen Archivierungspolitik schon informieren würden.
Nur drei Tage nach Absenden der E-Mail (und wahrscheinlich zwei Monate zu spät) erliessen die CSFB-Hausanwälte dann eine weit gefasste Archivierungs-Richtlinie. Entsprechend gab es später kaum Beweise für die Zerstörung irgendwelcher inkriminierender Dokumente, die auf Grund der E-Mail von Richard Char erfolgte wäre. Kein Dokument wurde je ans Tageslicht befördert, das ein kriminelles Motiv hinter Frank Quattrones Order begründet hätte. Selbst die NASD und die SEC schlossen ihre Untersuchungen ab, ohne Quattrone je zu einem Verhör gebeten zu haben. Aber auch diese Fakten erklärte Richter Owen während des Prozesses für irrelevant. Sein Argument: Der Versuch, offizielle Untersuchungen der Ermittlungsbehörden zu behindern, muss keineswegs erfolgreich sein, um eine kriminelle Handlung darzustellen.
Unter den Advokaten Manhattans steht Richter Owen seit langem im Ruf, zumeist die Staatsanwaltschaft zu begünstigen. Schon 1988 beschrieb der Journalist Steven Brill in der Fachzeitschrift «The American Lawyer», wie zwei Staatsanwälte «über das ganze Gesicht grinsten» und sich «schulterklopfend gratulierten», als bekannt wurde, dass Richard Owen den Vorsitz über ihr Verfahren führen würde. «Natürlich freuten wir uns», liess einer von ihnen Brill wissen, «etwas Besseres als Owen konnte uns gar nicht passieren.»
Liest man in den Verhandlungsprotokollen im Fall Quattrone, scheint Richter Owen – inzwischen stolze 83 Jahre alt – auch im Alter nicht unparteiischer geworden zu sein. Die National Association of Criminal Defense Lawyers hat den Antrag Quattrones auf Revision des Urteils in einem «amicus brief» (hierin dürfen Personen und Organisationen vor US-Gerichten schriftlich ihre Sicht der Dinge schildern, ohne selbst am Prozess beteiligt zu sein) jedenfalls unterstützt – wegen «offensichtlicher Parteinahme» des Strafrichters. Ein seltener, wenn nicht sogar einmaliger Schritt des Berufsverbandes. Obwohl es im amerikanischen Rechtswesen ungewöhnlich ist, dass ein Beklagter die Revision seiner Verurteilung nur auf Grund der Parteilichkeit des Richters erwirken kann, scheint in diesem Falle nichts unmöglich zu sein. In Kombination mit der dünnen Beweislage gegen Quattrone ist es vorstellbar, dass sich das Berufungsgericht diesmal tatsächlich zu einem ungewöhnlichen Schritt durchringt.