Das hatte so wohl kaum jemand so auf dem Schirm: Mark Schneider, 2017 als erster Konzernchef von aussen seit Jahrzehnten bei der Nestlé gestartet, muss Knall auf Fall gehen. An seiner Stelle übernimmt Laurent Freixe, krisenerprobter Zonenchef und Einmal-Nestlé-immer-Nestlé-Manager. Der Franzose ist seit 38 Jahren an Bord, unter anderem als Zonen-Chef Europa und Amerika.

Das kommt einem Erdbeben gleich. Wie tief die Zäsur geht, zeigt ein Blick auf das Drehbuch, das die Unternehmensgeschichte in solchen Fällen eigentlich vorsieht. Da folgt auf das Kapitel CEO in der Regel nahtlos das des Verwaltungsratspräsidenten. So gesehen hätte Mark Schneider in nicht allzu ferner Zukunft den bald 70-jährigen Paul Bulcke ablösen sollen. Nur: Ist nicht. Stattdessen verschwindet der 59-jährige Deutsche so spurlos, wie er 2016 aus dem Nichts aufgetaucht war.

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Magere Würdigung

Noch lassen sich erst Konturen ausmachen, was die Gründe sind, die den Verwaltungsrat bewogen haben, die Reissleine zu ziehen und den einst als Ausnahmemanager gefeierten Mark Schneider von heute auf morgen vor die Tür zu setzen. Eine Overpromising an einer Investorenkonferenz mit der amerikanischen Investmentbank JP Morgan und der anschliessende Kurstaucher nach den Halbjahreszahlen sollen eine Rolle gespielt haben. Für ein konservatives Unternehmen wie Nestlé, dessen entscheidendes Asset Verlässlichkeit ist und dessen Valoren in vielen Portfolios als Bond-Ersatz figuieren, ist das ein unverzeihliches No-Go. Gleichzeitig dürfte das nur der Auslöser gewesen sein, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. 

Auffällig ist die magere Würdigung, mit der der einst als Shootingstar gestartete Deutsche verabschiedet wurde. Da ist von Verdiensten um die Nachhaltigkeit die Rede. Bedeutenderes, wie der von Mark Schneider massgeblich vorangetriebene Portfolio-Umbau und die Dynamik, mit der er die lahmende Innovation beschleunigte und die einst weitgehend abgeriegelten und um sich selbst kreisenden Forschungsabteilungen einem subtilen, aber effektiven Konkurrenzverhältnis mit externen Impulsgebern aussetzte, bleiben unerwähnt. Auch dass Nestlé heute ein konfliktfreieres Verhältnis mit der Zivilgesellschaft pflegt und dass das Unternehmen, das zuvor den zweifelhaften Ruf hatte, so etwas wie der Vatikan von Big Business zu sein, heute zugänglicher ist, gehört zu den Verdiensten von Mark Schneider. 

Aus dem Umfeld des Unternehmens ist von einer Entfremdung zwischen der Belegschaft und dem eher introvertierten Konzernchef die Rede. Davon, dass Mark Schneider unter dem Eindruck von Wachstumsschwäche, Preissteigerungen und einem schwächelnden Aktienkurses den Blick für die grossen Linien verloren habe und mit hektischen Aktionen für zusätzliche Verunsicherung gesorgt habe. Beides deutet darauf hin, dass der gegenseitige Ablösungsprozess alles andere als schmerzfrei verlief.

Wie integrationsfähig ist Nestlé?

Klar ist: Mit dem abrupten Abgang von Schneider findet das Experiment Externer ein jähes Ende. Ob es auch gescheitert ist, werden die nächsten Monate zeigen, wenn wir wissen, wo der Neue den Hebel ansetzt, wie weit er die Hinterlassenschaften seines Vorgängers eingreift und das Rad wieder zurückdreht. Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke versuchte die Risse, welche das Beben vom Donnerstagabend verursacht hat, heute Morgen notdürftig mit dem nicht gerade überzeugenden Slogan «zurück zu den Wurzeln in die Zukunft» zuzukleistern. Doch so schnell wird sich die Vergangenheit nicht ad acta legen können. Dazu hat es am Donnerstagabend zu laut geknallt. Und dafür sprechen auch die verhaltenenen Reaktionen am Kapitalmarkt.

Denn auch das ist klar: Mark Schneider wurde Konzernchef, weil der Verwaltungsrat zum Schluss gekommen war, dass es die Dynamik von aussen braucht. Eben weil sie innerhalb des Unternehmens fehlte. So gesehen wirft sein abrupter Abgang auch die Frage nach der Integrationsfähigkeit des Unternehmens auf und danach, ob die Toleranzschwelle für Impulse von aussen in Vevey womöglich doch tiefer ist, als es in den vergangenen Jahren den Anschein machte. Die Absetzung mag ein Sieg für das Nestlé-System sein. Der Beweis dafür, dass sie auch ein Gewinn für das Unternehmen ist, muss erst noch erbracht werden.