Am Tag X werden die Homepages der Newsseiten rund um den Globus alle das gleiche Bild zeigen: Mark Zuckerberg, wie er einen grossen symbolischen Knopf drückt, um den Handel mit den Aktien seiner Firma Facebook an der Technologiebörse Nasdaq zu eröffnen. Er wird dabei ein breites Grinsen aufsetzen, im Wissen, dass er mit diesem Knopfdruck 28facher Milliardär wird. Noch ist nicht klar, wann genau der Tag X ist – höchstwahrscheinlich Ende Mai oder Mitte Juni. Klar ist aber: Es wird der Börsengang des Jahres, vermutlich des Jahrzehnts, und der grösste bisher in der Internetbranche. Stolze 100 Milliarden Dollar beträgt die Bewertung, die zuletzt auf den ausserbörslichen Handelsplätzen SharesPost und SecondMarket für Facebook errechnet wurden. Eine gewaltige Zahl für eine Firma mit 3500 Angestellten und drei Milliarden Dollar Umsatz. Gelingt das Début, kann Zuckerberg die Anlegerstimmung an den Finanzplätzen der Welt herumreissen und für ein neues Börsenrally sorgen.
Wenn es denn gelingt. Wenn nicht, wenn die Facebook-Aktie abstürzt, werden Hunderttausende Anleger rund um die Welt nichts zu lachen haben. Und es gibt deutliche Anzeichen, dass genau das passieren könnte. Denn vor dem Börsengang pustet derzeit eine ganze Industrie eine Blase auf, die in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten mit jener von 2001 aufweist: Es sind Business Angels und Venture Capitalists, die eine hohe Rendite auf ihre Investitionen wollen. Es sind die Investmentbanken wie Morgan Stanley und J.P. Morgan, die beim IPO auf hohe Kommissionen hoffen. Und es sind Firmengründer wie Mark Zuckerberg selber. Auf seiner eigenen Facebook-Profilseite veröffentlicht der 27-Jährige nur selten etwas, und wenn, dann ist es meist belanglos. Doch sein Posting vom Ostermontag liess die Finanzwelt erbeben: «Ich bin begeistert mitzuteilen, dass wir Instagram übernommen haben», liess er seine 13 Millionen Abonnenten wissen. Den Kauf entschied er im Alleingang, seinen Verwaltungsrat stellte er vor vollendete Tatsachen. Eine Milliarde Dollar, davon 300 Millionen in bar, war ihm die Softwarefirma wert, über deren Smartphone-App man Fotos aufnehmen, verfremden und austauschen kann. Eine Milliarde für ein Unternehmen, dessen Wert die Woche zuvor noch halb so hoch taxiert wurde? Eine Milliarde für ein Unternehmen, das gerade erst 18 Monate alt ist, das 13 Mitarbeiter beschäftigt, das null Dollar Umsatz hat, ja noch nicht einmal ein Geschäftsmodell? «Wenn die Bewertungen von Facebook und von Instagram nicht eine Blase signalisieren, was dann?», fragt der einflussreiche Technologieblogger Bill Snyder. Er sieht diese Blase bereits nahe am Platzen – zahlreiche Experten teilen seine Meinung.
Und man muss sich ja nur anschauen, was mit den anderen Internetaktien passiert ist, die die letzten Monate an die Börse gegangen sind. Groupon etwa, das Schnäppchenportal, in drei Jahren von null auf 1,6 Milliarden Umsatz hochgestemmt und mit einer Hauruckübung im November in die Nasdaq gedrückt: 18 Milliarden Dollar wurden für die Firma damals bezahlt, heute ist sie noch 7,6 Milliarden wert. Oder Zynga, die Online-Spiele auf Facebook anbietet und damit wie keine andere Firma abhängig ist vom Erfolg des sozialen Netzwerkes: Der Kurs hat sich in den letzten zwei Monaten halbiert und liegt nun unter dem Ausgabepreis von Dezember. Facebooks chinesischer Konkurrent Renren hat seit seinem Gang an die New Yorker Börse vor einem Jahr sogar zwei Drittel seines Wertes eingebüsst. Und als letzte Woche die Suchmaschine Baidu, die 80 Prozent des chinesischen Marktes dominiert, die Erwartungen der Analysten um nur wenige Prozent verfehlte, schmierte der Aktienkurs an der Nasdaq prompt um neun Prozent ab – ein Zeichen, wie nervös die Anleger bereits geworden sind.
Schwacher Jahresstart. Ähnliches wäre bei Facebook wohl auch passiert, wäre die Firma bereits kotiert. Denn die letzten, soeben veröffentlichten Zahlen spiegelten nicht unbedingt das wider, was man von einem Wachstumsunternehmen kurz vor dem Börsengang erwartet. Erstmals gingen Umsatz und Gewinn zurück (siehe «Ein Taucher zur Unzeit» unter 'Downloads'). Saisonalität, sagt Facebook, das Anzeigengeschäft sei im Frühling nun mal schwächer als im Weihnachtsquartal. Blödsinn, sagen die Finanzanalysten von PrivCo, die Ausrede, die Facebook bemühe, halte den Daten nicht stand: «Der Rückgang ist ein spezifisches Facebook-Problem und widerspiegelt eine klare Verlangsamung des Geschäftes.» PrivCo-Chef Sam Hamadeh warnt: «Allein die Tatsache, dass wir Saisonalität nun als Schlüsselfaktor diskutieren wie bei einem Kaufhaus, sollte Investoren bei dieser abgehobenen Bewertung sehr beunruhigen.»
Didier Sornette, Professor für Entrepreneurial Risks an der ETH, und sein Oberassistent Peter Cauwels haben den Wert von Facebook wissenschaftlich errechnet: 20 bis 25 Milliarden Dollar seien fundamental gerechtfertigt. Weitere 25 bis 30 Milliarden könne man mit viel, mit sehr viel gutem Willen durch Wachstumsfantasien begründen. Die restlichen rund 50 Milliarden? Nichts, heisse Luft, Blase. «Aber die Investoren benehmen sich schon jetzt wie Schafe, keiner will das IPO verpassen», sagt Peter Cauwels.
Wie viele User bräuchte Facebook, um die Bewertung zu rechtfertigen? «Mehr, als dass es Menschen auf der Erde gibt.» Wann platzt die Blase? «Es hat bereits angefangen, schauen Sie Zynga an und Groupon.» Beide Firmen halten die ETH-Forscher noch immer für massiv überbewertet – trotz dem Kurssturz. Weitere Korrekturen werden folgen, mit möglicherweise dramatischen Folgen: Im Fall von Facebook mit einer Bewertung von 100 Milliarden Dollar spricht Cauwels von kapitalmarkt- und systemrelevanten Ausmassen.
Erinnerungen an eToys & Co. Wiederholt sich die Geschichte? Erleben wir wegen Facebook ein zweites Dotcom-Desaster wie zur Jahrtausendwende? Als der virtuelle Spielzeughändler eToys an der Börse acht Milliarden Dollar wert war und vier Monate später in Konkurs ging? Als der Online-Tierfutterhändler Pets.com nach dem IPO in nur acht Monaten zum Bankrott eilte? Als die Technologiebörse Nasdaq die unglaubliche Summe von sechs Billionen Dollar verlor und die Finanzplätze rund um den Globus danach jahrelang im Koma lagen? Es gibt Unterschiede: Die heutigen Internetfirmen haben meist ein etabliertes Geschäftsmodell, sie erwirtschaften häufig solide Umsätze und wachsende Erträge, sie gehen zu einem viel späteren Zeitpunkt an die Börse als ihre Vorgänger in der New Economy. Aber es gibt auch beunruhigende Gemeinsamkeiten: «Die Bewertungen sind ausser Kontrolle geraten», sagt Kara Swisher vom einflussreichen Onlinemagazin «AllThingsDigital». Für dieses Jahr erwarten die Analysten im Schnitt einen Facebook-Umsatz von 6,7 Milliarden Dollar. Um die gegenwärtige Bewertung rechtfertigen zu können, müsste Facebook den Umsatz in den nächsten Jahren aber auf 70 Milliarden steigern, urteilt Anant Sundaram, Finanzprofessor an der renommierten Tuck School of Business. 100 Milliarden für eine Firma, die eine Milliarde Gewinn erwirtschaftet, entsprechen einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 100. Zum Vergleich: Die wertvollste Firma der Welt, Apple, liegt bei 18, Google bei 21. Soll das Unternehmen Facebook in halbwegs vernünftige Bewertungssphären kommen, müsste es den Reingewinn vervierfachen. Nicht ausgeschlossen, aber schwierig – und die Kosten für die Übernahme von Instagram und für den Kauf von Microsoft-Patenten im Wert von 550 Millionen Dollar werden dieses Jahr erst einmal stark auf den Profit drücken.
Und das Wachstum wird zwangsweise abflauen. Denn von den weltweit 2,27 Milliarden Internetbenutzern sind bereits 901 Millionen bei Facebook aktiv, 2,9 Millionen davon in der Schweiz. In vielen Wachstumsregionen kommt Facebook gar nicht zum Zug: In China etwa, mit über einer halben Milliarde Usern der grösste Internetmarkt der Welt, ist der Zugang gesperrt – lokale Facebook-Klone wie Renren oder QZone beherrschen den Markt. Das boomende Vietnam ist ebenfalls Facebook-freie Zone. Koreaner, Russen und Japaner bevorzugen einheimische Angebote, in den bevölkerungsreichen Ländern Brasilien und Indonesien tut sich Facebook sehr schwer gegen Google mit deren Orkut.
Wie weit kann Facebook noch wachsen? Noch einmal 100 Millionen neue Benutzer könne das soziale Netz gewinnen, dann sei das Ende der Fahnenstange erreicht, erwartet ETH-Mann Cauwels. Ob diese Milliarde User in Zukunft mehr Zeit bei Facebook verbringen als heute, ist fraglich: Bereits jetzt wird jede siebte Online-Minute Facebook zugeschrieben, sagen die Marktforscher von ComScore.
Werbeoffensive. Der einzige Ausweg: Facebook muss den Werbeumsatz steigern. Viereinhalb Dollar sind es derzeit pro Benutzer und Jahr, ein Vielfaches soll es werden, hofft Sheryl Sandberg, Zuckerbergs rechte Hand und kommerziell Verantwortliche bei Facebook. Rechtzeitig vor dem Börsengang führt sie deshalb einen ganzen Strauss neuer Anzeigenformate ein: grössere Werbeflächen, Anzeigen mit Video und Ton, interaktive Reklame, Anzeigen zwischen den Nachrichten der Freunde.
Statt wie bisher mit vier wird der Benutzer nun mit bis zu sieben Werbebotschaften gleichzeitig bombardiert – plötzlich gibt es nicht mehr viele Plätze auf ihrer Website, die Facebook noch nicht vermarktet. Die grösste Hoffnung setzt man aber auf mobile Werbung: Mehr als die Hälfte der Benutzer greift regelmässig mit dem Smartphone oder dem Tabletrechner auf Facebook zu. Diese Geräte waren bei Facebook bislang werbefreie Zonen ohne Umsatz. Das soll sich nun ändern. Aber ob die Benutzer Anzeigen auf dem kleinen Handydisplay akzeptieren? Bis heute gibt es kein Beispiel einer Anwendung, bei der das in grösserem Masse gelungen wäre. Dafür sind aber auch völlig neue Werbeformen möglich, weil Facebook über die Smartphone-Apps den Standort ihrer Kunden lokalisieren kann. Das läuft so: Es ist Mittagszeit, Sie befinden sich in der Nähe Ihres Lieblingsrestaurants – und dieses beamt Ihnen einen Rabattgutschein für das Mittagsmenu aufs Handy, gültig nur hier und jetzt. In den USA informieren bereits die lokalen Walmart-Filialen ihre Facebook-Fans über Angebote und Aktionen vor Ort.
In Westeuropa startet Sandberg gerade eine Charmeoffensive und schenkt 50 000 Kleinunternehmen Werbefläche im Wert von je 120 Franken. So will sie neue Anzeigenkunden gewinnen und Facebook langfristig zu einer mächtigen lokalen Werbeplattform ausbauen. Aus dem gleichen Grund übernahm Zuckerberg wenige Tage nach dem Instagram-Deal auch noch den Coupon-Spezialisten Tagtile aus San Francisco für einen nicht kommunizierten Preis. Und erneut gibt es Gerüchte, wonach Facebook bereits im Herbst ein eigenes Handy lancieren will. Das würde eine noch tiefere Integration des sozialen Netzwerkes in ortsbezogene Funktionen erlauben.
Kundendaten als Trumpf. 94 Milliarden Dollar ist der weltweite Markt für Onlinewerbung derzeit schwer, Google schöpft davon 45 Prozent ab, Facebook erst 8. Luft nach oben gäbe es also. Und es klingt ja auch verlockend: Weil Facebook über ihre Kunden dank deren Selbstdeklaration mehr weiss als jeder Geheimdienst über seine Bürger, kann sie die Werbung extrem genau zielen. Die Anzeige des Hochzeitsfotografen geht nur an jene User, deren Beziehungsstatus auf «verlobt» steht, die Werbung für ein Wirtschaftsmagazin sehen nur Benutzer von 20 bis 65, die studiert haben und in oder nahe einer Schweizer Grossstadt wohnen.
In den USA sind 96 der 100 grössten Werbetreibenden mit Facebook-Anzeigen präsent, auch in der Schweiz schalten Firmen wie Migros, SBB oder Nestlé fleissig Reklame. Bei AdParlor, einer der weltweit grössten Agenturen für Reklame auf Facebook, erwartet man, dass Zuckerbergs Netzwerk Google einst bei den Werbeeinnahmen überholen wird. «Social Advertising ist eine enorm starke Bewegung», sagt CEO Hussein Fazal.
Stark mag sie sein, aber ist sie auch effektiv? Nein, sagt Nate Elliott von Forrester Research. «Facebook verbirgt ein kleines schmutziges Geheimnis: Marketing darauf funktioniert nicht sehr gut.» Die renommierten US-Marktforscher bemerken bereits ein abnehmendes Nutzerinteresse auf den Seiten der Markenartikler. «Die meisten grossen Werbekunden sagen uns, sie hätten nicht viel für ihre Investitionen auf Facebook bekommen.» Vielleicht liegt es daran, dass Facebook zwar weiss, was die Nutzer mögen, aber nicht weiss, wann sie es wollen – anders als bei einer Google-Suche. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich der Erfolg weniger präzis messen lässt als bei der Suchmaschinen-Konkurrenz.
Das ist gefährlich, macht das Anzeigengeschäft doch derzeit 82 Prozent der Facebook-Umsätze aus. Um diese Abhängigkeit zu reduzieren, will sich Facebook zu einer Plattform entwickeln, auf der zunehmend Dienste von Drittfirmen integriert werden sollen – ähnlich wie das bei Apple, Google und Amazon der Fall ist. «Wir bauen eine Plattform auf, über die sich Menschen vernetzen können, und wir ermöglichen all den verschiedenen Firmen, grossen und kleinen, dort anzudocken», sagt Zuckerberg. Seine Vision: Facebook als geschlossene Gesellschaft, die man nicht mehr verlassen soll – ein Netz im Netz. Spielen kann man auf dem sozialen Netzwerk schon lange – Marktführer Zynga allein steuert mit Klassikern wie FarmVille und neuen Hits wie Hidden Chronicles 15 Prozent des Umsatzes von Facebook bei. Ebenfalls zunehmend beliebt: auf Facebook via Spotify Musik hören, via «Washington Post» Zeitung lesen, via Dailymotion Videos tauschen. Bald wird Facebook zum Kinosaal: Das kalifornische Start-up Milyoni will 10 000 Filme von 15 zum Teil namhaften Filmstudios wie Paramount oder Universal zugänglich machen. Ab Juni soll es sogar möglich sein, über das soziale Netzwerk Aktien zu handeln – das US-Unternehmen Loyal3 hat die entsprechende Technologie entwickelt.
Facebook als Kaufhaus. Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Umschlagplatz für Waren. Wer sollte dafür schliesslich besser positioniert sein als Facebook mit ihren 901 Millionen aktiven Nutzern, weit mehr, als Amazon und eBay zusammen haben? Die Unternehmensberater von Booz & Company haben herausgefunden, dass 27 Prozent davon bereit wären, auch physische Güter auf einem sozialen Netzwerk zu kaufen. Auf 30 Milliarden Dollar soll Social Commerce bis 2015 weltweit denn auch wachsen, erwarten die Leute von Booz.
Dumm nur: Wenn 27 Prozent der Nutzer sich einen Kauf via Facebook und Co. vorstellen können, heisst das auch: 73 Prozent können sich das nicht vorstellen – zu gross sind ihre Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Privatsphäre. Bislang sind die Erfahrungen ja auch eher durchzogen. Zwar experimentieren viele Konsumgüterunternehmen mit Facebook-Commerce. Das US-Modelabel Gap und die Warenhauskette J.C. Penney aber haben ihre Facebook-Filialen nach einem Jahr still und leise wieder geschlossen, mangels Nachfrage.
Herzstück des Handels auf Facebook ist die hauseigene Währung Credits. 16 Milliarden dieser virtuellen Münzen im Gegenwert von je 10 Cent wurden letztes Jahr auf Zuckerbergs Netz für Transaktionen ausgegeben. An jedem gekauften Traktor in FarmVille, an jedem bestellten Geschenk auf TheBigGift.net verdient Facebook 30 Prozent – eine traumhafte Marge. Für dieses Jahr erwarten Experten einen Sprung des Handelsvolumens auf 40 Milliarden Credits. Behalten sie recht, würde Facebook allein dadurch mehr Gewinn erzielen als im gesamten Geschäftsjahr 2011.
Den Jackpot könnte Zuckerberg knacken, wenn es ihm gelänge, Credits als Parallelwährung auch ausserhalb seines sozialen Netzwerkes zu etablieren. Hier hat bislang die eBay-Tochter PayPal das Monopol. Sie erzielte letztes Jahr einen Umsatz von 4,4 Milliarden Dollar, Tendenz stark wachsend.
Mark Zuckerberg verfügt über einen weiteren Schatz, den er noch nicht gehoben hat: den Social Graph. Gemeint sind damit die Informationen über seine 901 Millionen User – mit wem sie befreundet sind, welche Vorlieben sie haben, wo sie den «Gefällt mir»-Knopf drücken etc. Darauf können auch Drittfirmen mit ihren Apps zugreifen, sofern der Nutzer einverstanden ist – bislang gratis. Doch nichts hindert Zuckerberg daran, eines Tages für jede Abfrage Geld zu verlangen. Und jene Drittanbieter, die ihr Geschäftsmodell auf den Facebook-Usern aufgebaut haben, werden gar keine andere Wahl haben, als zu zahlen – egal, welchen Preis.
Zuckerbergs langfristige Vision geht noch viel weiter: «Unser Ziel ist es, alles ‹social› zu machen», sagt er. Facebook soll jedes Gerät, jeden Ort mit den Vorlieben seiner Nutzer verbinden: Ihr Fernsehgerät zeichnet automatisch jene Serien auf, die Sie auf Facebook mit «gefällt mir» markiert haben, und blendet die Kommentare Ihrer Freunde zur jeweiligen Folge ein. Sie kommen in eine Boutique, und der Verkäufer weiss bereits, welche Marken Sie bevorzugen. Facebook wäre dann nichts weniger als die wichtigste Firma der Welt.
Jeder Dritte ein Millionär. Es sind diese Szenarien, welche die Fantasien der Investoren befeuern; es sind diese Zahlen, welche die 100 Milliarden rechtfertigen sollen. Und hatte man nicht auch bei Google vor einer unrealistisch hohen Bewertung gewarnt, als die Firma 2004 endlich an die Börse ging? Und hat der Wert seither nicht von 28 auf heute 200 Milliarden Dollar zugelegt? Die Optimisten ignorieren die Gefahren, die bei Facebook nach dem Börsengang lauern.
Fraglich ist etwa, wie lange Zuckerberg seine Topleute halten kann. Rund ein Drittel der 3500 Angestellten dürfte mit dem Börsengang Millionär werden; bereits seit Monaten steigen die Grundstückspreise rund um den Firmensitz in Menlo Park rasant, und der lokale Porsche-Händler Carlsen in Redwood City, auf der anderen Seite des Highway 101, meldet Rekordverkäufe. Wenn die Sperrfrist für die Aktien der Mitarbeiter nach sechs Monaten abläuft, werden nicht wenige von ihnen Facebook verlassen, um zu einem neuen Start-up zu gehen, selber eines zu gründen – oder sich, mit 25 oder 30 Jahren, zur Ruhe zu setzen. Für die, die bleiben, wird es nicht mehr die gleiche Firma sein: Zuckerberg hat sich seit der Gründung vor acht Jahren grösste Mühe gegeben, den Start-up-Spirit zu erhalten. «Move fast and break things» oder «Done is better than perfect» ist an den Wänden der Firmenzentrale zu lesen. Diesen Geist zu bewahren, wird mit zunehmender Mitarbeiterzahl schwieriger. Das gilt auch für die Entwicklungsprozesse, die am Facebook-Hauptquartier «so wenig gemanagt wie möglich» (Zuckerberg) ablaufen, um die Kreativität nicht zu beeinträchtigen. Ähnliches hatte Google auch praktiziert – mit dem Ergebnis, dass die Firma irgendwann den Fokus verlor und Larry Page, nachdem er letzten April wieder auf den CEO-Sessel gestiegen war, erst einmal entrümpeln musste und eine ganze Reihe von Produkten und Projekten abschoss. Neu wird für Facebook mit dem Börsengang auch der Druck der Quartalsergebnisse werden: Zwar hat Zuckerberg auch nach dem Tag X die Stimmenmehrheit und kann theoretisch im Alleingang entscheiden. Gegen die Regeln der Wall Street aber wird auch er nicht langfristig spielen können. Google foutierte sich beim Börsengang ebenfalls um die Finanzgemeinde, inzwischen funktioniert die Firma immer mehr wie ein ganz gewöhnlicher Konzern.
Und der setzt Facebook zunehmend unter Druck: Immer stärker nähern sich die Geschäftsmodelle einander an, spätestens seit die Firma von Larry Page und Sergey Brin ihr eigenes soziales Netzwerk namens Google+ lanciert hat. 190 Millionen Mitglieder hat es in zehn Monaten gewonnen.
Das klingt nach sehr viel. Doch wie erfolgreich der Facebook-Konkurrent wirklich ist, lässt sich schwer abschätzen: Über die Verweildauer auf den Seiten schweigt sich Google aus, und auffallend viele Beiträge auf Google+ drehen sich noch immer um Google+ selber. Klar ist aber auch: Die Bemühungen von Brin und Page, Facebook das Wasser abzugraben, werden zunehmen.
Der grösste Feind von Zuckerberg sind inzwischen jedoch die Datenschützer. Sie akzeptieren nicht mehr, dass Facebook ihre Datenschutzrichtlinien eigenmächtig und meist heimlich zu ihren Gunsten ändert, sie tolerieren nicht mehr, dass Zuckerberg ungefragt neue sensible Funktionen aktiviert wie die automatische Gesichtserkennung auf Fotos. Bislang hinken die Gesetze der Realität hinterher, aber das ändert sich gerade: «Heute sind die Datenschutzbeauftragen wie David, der gegen Goliath kämpft», sagt EU-Kommissarin Viviane Reding: «Ich will, dass in Zukunft Goliath gegen Goliath kämpft.»
Also hat sie die Spielregeln verschärft. So darf das soziale Netzwerk in Europa Nutzerdaten nur noch beschränkt für gezielte Werbung verwenden. Es muss auf Anfrage eines Users alle dessen gespeicherte Daten herausrücken. Und Verstösse gegen Datenschutzgesetze können neu mit bis zu zwei Prozent des Konzernumsatzes gebüsst werden.
Instagram – ein Angstkauf. Auch dem Schweizer Datenschutzbeauftragten Hanspeter Thür ist Zuckerbergs lockerer Umgang mit den Userdaten ein Dorn im Auge. Weil Facebook jedoch keine Schweizer Niederlassung hat, sind ihm juristisch die Hände gebunden. Immerhin konnte er durchsetzen, dass die neuen EU-Regeln auch hierzulande gelten. Und selbst in den USA, wo man für das Thema traditionell wenig Verständnis hat, sind die Behörden aufmerksam geworden, nachdem sie mit Konsumentenbeschwerden überflutet worden waren. Die US-Handelsaufsicht FTC verfügte, dass Facebook ihren Umgang mit Daten die nächsten 20 Jahre regelmässig überprüfen lassen muss. All das macht klar: Es wird für Zuckerberg zunehmend schwieriger, sein grösstes Kapital, die Informationen über seine 901 Millionen Nutzer, zu verwerten.
Doch gehen wir vom optimistischsten aller Fälle aus, nämlich von dem, dass Zuckerberg und sein Team all diese Klippen umschiffen. Erinnern Sie sich noch an AltaVista? Das war jene Firma, die den Suchmaschinenmarkt jahrelang beherrschte – bis Google kam. An AOL? Das war der weltgrösste Internetprovider – bis der Markt sich atomisierte. An My-Space? Das war das soziale Netzwerk, das mit 100 Millionen Nutzern den Markt dominierte – bis Facebook kam. Alle drei sind heute in der Versenkung verschwunden. Klar, keiner von ihnen hatte 900 Millionen Benutzer. Aber auch ein nächstes Facebook wird kommen – die Frage ist nur, wann. Instagram mit ihren inzwischen 40 Millionen Nutzern wird es nun nicht mehr werden, die hat Zuckerberg vom Markt gekauft. Aber der absurde Preis, den er für die Firma zu zahlen bereit war, lässt nur einen Schluss zu: Er hatte grosse Angst, dass sie bereits der Facebook-Killer sein könnte.
Am Tag X mag Zuckerberg auf den Homepages der Newsseiten rund um den Globus breit grinsen. Dass seine Aktionäre langfristig ebenso gut lachen haben, ist unwahrscheinlich.