Es ist eine versteckte Funktion tief in den Einstellungsmenüs von Facebook: Seit acht Jahren schon können Nutzer des sozialen Netzwerks dort alle Daten herunterladen, die über sie gespeichert sind. Doch bis vor Kurzem war die Funktion wenig populär. Wer will schon sämtliche Facebook-Beiträge, Kommentare, Fotos und Videos auf der Festplatte seines eigenen Computers speichern?
Inzwischen aber wird die Funktion überraschend häufig nachgefragt. Das könnte einen Grund haben: Nutzer, die ihren Facebook-Account löschen wollen, werden dazu aufgefordert, zuvor ihre Daten zu sichern. Zuletzt luden derart viele Menschen ihren kompletten Datensatz herunter, dass die Server nicht hinterherkamen. «In den vergangenen zwei Wochen beobachten wir mehr Download-Anfragen als üblich, deswegen dauert es länger, die Anfragen abzuarbeiten», gab ein Sprecher gegenüber dem Online-Magazin «Recode» zu.
Indiz für den Exodus
Fliehen die Nutzer massenweise aus Mark Zuckerbergs Reich? Ein Indiz für den Exodus ist da – und auch ein Anlass: Mitte November berichtete die «New York Times» über zweifelhafte Methoden, mit denen Facebook liberale Kritiker diskreditiert haben soll – darunter auch den bekannten Investor und Stifter George Soros. Eine Woche später legte das «Wall Street Journal» nach: Zuckerberg habe bei einem Treffen mit seinen Top-Managern verkündet, Facebook sei «im Krieg», die Medien «Angreifer», wer mit Journalisten rede, werde gefeuert. Facebook im Krisenmodus ist kein schöner Anblick für die Nutzer.
Schon vor dem neuen Imageschaden durchlebte Zuckerberg ein Annus horribilis 2018. Sein Netzwerk steht angesichts von Datenschutzpannen und Hass-Propaganda im Dauerfeuer der Kritik. Im zweiten Quartal musste der Konzern erstmals in seiner Geschichte sinkende Nutzerzahlen in Europa und eine Stagnation in den USA melden – in den beiden wichtigsten Märkten wenden sich die Nutzer ab. Der Aktienkurs ist auf den Stand von Frühjahr 2017 abgestürzt, das soziale Netzwerk hat an der Börse gegenüber Juli fast 40 Prozent an Wert eingebüsst.
Ein zweiter Fall Yahoo?
Inzwischen fragen Analysten und Anleger: Wird Facebook ein zweiter Fall Yahoo, verliert der Konzern seine Schlüsselposition im Netz? Vielleicht noch wichtiger: Sind Mark Zuckerberg und seine Co-Chefin Sheryl Sandberg angesichts der Serie von Pannen die richtigen Manager an der Spitze, um Facebook aus der Krise zu führen?
Mitte des Jahres forderten institutionelle Investoren Zuckerberg erstmals öffentlich dazu auf, zumindest seine Position an der Spitze des Verwaltungsrats aufzugeben. Der Forderung des Bostoner Hedgefonds Trillium Asset Management schlossen sich im Oktober der Pensionsfonds der Stadt New York sowie die Investmentfonds der US-Bundesstaaten Illinois, Pennsylvania und Rhode Island an.
«Manager, die nur auf das Wachstum fokussiert sind und dem Verwaltungsrat Informationen vorenthalten, gefährden nicht nur ihre Firma und ihre Aktionäre, sondern – in Facebooks Fall – unsere Demokratie.»
Scott Stringer, Chef des Rechnungshofes der Stadt New York
Bisher ist Zuckerberg sowohl Verwaltungsratschef (Chairman) als auch Vorstandsvorsitzender (CEO). «Ein unabhängiger Vorsitzender hilft dem Verwaltungsrat, das Management zu kontrollieren. Wenn der CEO auch die Rolle des Verwaltungsratsvorsitzes innehat, schwächt das dessen Rolle», argumentieren die Investmentbanker. «Wir glauben, dass diese mangelnde Kontrolle dazu beigetragen hat, dass Facebook eine ganze Reihe von schweren Problemen falsch gehandhabt hat.»
Ähnlich argumentiert Scott Stringer, Chef des Rechnungshofes der Stadt New York: «Manager, die nur auf das Wachstum fokussiert sind und dem Verwaltungsrat Informationen vorenthalten, gefährden nicht nur ihre Firma und ihre Aktionäre, sondern – in Facebooks Fall – unsere Demokratie.»
Doch der Vorstoss der Fondsmanager perlt an Mark Zuckerberg genauso ab wie alle Kritik. Als der Facebook-Gründer im Interview von der CNN-Journalistin Laurie Segall gefragt wurde, ob er den Verwaltungsratsvorsitz abgeben würde, reagierte er fast irritiert. Segall hakte nach. Zuckerbergs gequälte Antwort: «Das steht nicht auf dem Plan.»
Totale Kontrolle
Den Plan für das Unternehmen schreibt Zuckerberg selbst. Der Gründer hält zwar nur noch etwa zehn Prozent aller Facebook-Aktien, besitzt aber trotzdem 57 Prozent aller Stimmrechte. Bereits in der ersten Risikokapital-Beteiligungsrunde kaufte er den damaligen Investoren einen Grossteil ihrer Stimmrechte zum symbolischen Preis von 100 Dollar ab. So kann er im Alleingang bestimmen, wer im Verwaltungsrat sitzt.
Das Konstrukt sichert Zuckerberg und seinen Erben die totale Kontrolle über das soziale Netzwerk mit seinen rund 2,2 Milliarden Nutzern. «Google, Microsoft, Apple, Oracle und Twitter haben die Rolle von CEO and Verwaltungsratvorsitz getrennt», schreibt Trillium-Direktor Jonas Kron. «Eine Trennung der beiden Funktionen würde dem CEO erlauben, sich auf seine Aufgaben zu fokussieren.»
Ähnlich sieht das der US-Managementguru Jeffrey Sonnenfeld, der für eine Management-Revolution bei Facebook plädiert: Sheryl Sandberg sei überflüssig und habe die aktuellen Krisen überhaupt erst soweit kommen lassen, meint er. Zuckerberg solle ihre Aufgaben selbst übernehmen und dafür den Aufsichtsposten räumen.
Facebook kauft mögliche Konkurrenten
Zuckerberg sieht das naturgemäss anders. Er betonte auf einer Pressekonferenz, dass die Management-Positionen nicht umbesetzt werden – auch Sandberg bleibt ihre Rolle als Chefin des operativen Geschäfts erhalten. Der einzige Manager, der gehen muss, ist Kommunikationschef Elliot Schrage. Er übernahm in einem letzten Opferakt öffentlich die Verantwortung für die verfehlte Krisenkommunikation auf sich. Danach räumte er seinen Schreibtisch.
Das Bauernopfer ändert nichts an der grundlegenden Krise im sozialen Netzwerk. Schlimmer noch aus Sicht der Investoren: Die Nutzer verlieren das Interesse. Aktuell verbringen sie im Heimatmarkt USA deutlich weniger Zeit auf Facebook als noch vor zwei Jahren. Jede schlechte Nachricht treibt mehr Kunden dazu, ihr Engagement auf der Plattform infrage zu stellen.
Dennoch hinkt der Vergleich von Facebook mit Yahoo. Die einst wichtigste Suchseite in Netz hat in Google einen mächtigen Konkurrenten, der die bessere Technologie entwickelt hat. Zuckerbergs Unternehmen hat dagegen bislang grosses Geschick darin bewiesen, mögliche Konkurrenten rechtzeitig zu erkennen und zu neutralisieren. Sie wurden entweder aufgekauft, wie WhatsApp und Instagram, oder kopiert, so wie Snapchat.
Mächtige Gegner
Doch Facebook hat inzwischen einen anderen mächtigen Gegner. Politiker in aller Welt drängen auf eine härtere Gangart gegenüber dem Netzwerk. In der EU sieht sich der Konzern durch neue Datenschutzregeln eingeschränkt, in den USA schwören Senatoren und Kongressabgeordnete, dass sie Facebooks Rolle im politischen System stärker regulieren wollen. Die neuen Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus könnten solche Vorhaben beschleunigen.
Bis dahin sind die Regierungsbehörden die Einzigen, die Zuckerberg aus seiner Doppelrolle drängen könnten. Wie schnell das etwas möglich ist, demonstrierte unlängst die US-Börsenaufsicht SEC an Tesla-Gründer Elon Musk. Nach Tweets, die gegen Börsenregeln verstossen hatten, musste er seinen Sitz im Verwaltungsrat des Elektroautobauers räumen. Nicht ausgeschlossen, dass Zuckerberg bald Ähnliches droht.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «Die Nutzer verlieren das Interesse an Facebook».