Als Melk M. Lehner vor fünf Jahren das Verwaltungsratspräsidium der Sihl-Gruppe übernahm, versprach er eine Neuausrichtung und Gesundung des Konzerns bis ins Jahr 2001. Daraus ist nichts geworden. Im Gegenteil: Sihl präsentierte sich nach Ablauf des vergangenen Geschäftsjahres in prekärem Zustand. Zwar wurde der Schuldenberg von über 300 auf 155 Millionen Franken abgebaut, doch das Eigenkapital schmolz auf bedrohliche 21 Millionen, und das Unternehmen rutschte erneut in die tiefroten Zahlen. Nur weil UBS und Zürcher Kantonalbank sich zum zweiten Mal nach 1996 gegen den Konkurs stemmten und auch die drei grossen Aktionärsfamilien den traditionsreichen Papierkonzern nicht untergehen lassen wollten, erhält dieser jetzt seine letzte Chance. Kernelemente des Sihl-Sanierungsplans sind ein Kapitalschnitt, ein Forderungsverzicht der Banken in Höhe von knapp 20 Millionen und eine Kapitalerhöhung um 42 Millionen Franken. Durch den Verkauf von nicht strategischen Einheiten soll eine weitere Entschuldung um 58 Millionen erreicht werden; letztlich sollen der Gruppe mehr als 30 Millionen an neuen Mitteln zufliessen.

Lehner oder den 1998 von Attisholz geholten CEO Helmuth Elkuch für das Malaise verantwortlich zu machen, wäre angesichts der übernommenen Altlasten indes verfehlt; Lehner erhielt denn in fünf bewegten Sihl-Jahren auch weit weniger Prügel als zu seiner Zeit als CEO von Saurer. Und das, obwohl Sihl schon immer eine im Verhältnis zu ihrer Grösse überproportionale mediale Präsenz genoss. Diese Anteilnahme ist historisch begründet, zählt Sihl doch zu den ältesten Unternehmen der Schweiz.

Es war im Jahr 1471, kurz nach der Erfindung der Buchdruckkunst durch Gutenberg, als ein gewisser Heinrich Walchwiler auf der heute verschwundenen Papierwerdinsel in der Limmat mitten in Zürichs Altstadt eine Papiermühle erbaute. Angeführt von den Bodmers, von Schulthess und Schwarzenbachs, stiegen vor rund 300 Jahren mehrere der angesehensten Zürcher Familien ins wachsende Papiergeschäft ein, das lange Zeit zur vollen Zufriedenheit aller gedieh. Einige Meilensteine: 1835 konnte im neuen Werk in Zürich Wiedikon die maschinelle Papierfabrikation aufgenommen werden, 1904 wurde die Spinnerei Wollishofen gekauft, wo 1968 das grösste mechanische Hochregallager Europas hingestellt wurde, und 1973 erfolgte die Fusion mit den Papierfabriken Landquart. Grösstes Ereignis in der Firmengeschichte aber war die 500-Jahr-Feier von 1971. Zum Geburtstag wurde die weltweit leistungsfähigste Maschine zur Produktion von transparentem Papier gekauft, der Weltmarktanteil in diesem Bereich belief sich auf 30 Prozent. «Weil der Papiermarkt auch noch so schön kartellisiert war», erinnert sich ein früherer Sihl-Verwaltungsrat, «fühlten wir uns ausgesprochen wohl – im Nachhinein betrachtet viel zu wohl».

Zum Wohlbefinden des Verwaltungsrates trug auch bei, dass an der operativen Spitze des Unternehmens ein Mann stand, in dessen Qualitäten alle ein blindes Vertrauen hatten: Hans Ulrich Ryser war der «Papierpapst» schlechthin. Der junge Rechtsanwalt Ryser trat 1952 als Sekretär des Verwaltungsrates in die damalige Papierfabrik an der Sihl ein, erwarb sich rasch das Vertrauen der honorigen Herren – und entwickelte einen ungeheuren Ehrgeiz. 1973 war er Direktionspräsident, fünf Jahre später VR-Delegierter.

Von da weg, erst recht aber nach dem Rückzug von Eric von Schulthess und dessen Nachfolger Hans Bodmer senior als VR-Präsidenten in den Achtzigerjahren, war Armee-Oberst Ryser uneingeschränkter Herrscher über das Papierimperium. Und prompt entschied er sich für eine waghalsige Wachstumsstrategie: Nach dem Motto «Was wir nicht posten, postet die Konkurrenz» sackte er reihenweise Firmen ein, bis die Produktionspalette sich in einzigartiger Unüberschaubarkeit präsentierte. Grösster Brocken war die 1990 erworbene deutsche Renker-Gruppe, wodurch Sihl ihr Geschäftsvolumen schlagartig fast verdoppelte; die Kaufsumme in dreistelliger Millionenhöhe gilt rückblickend als viel zu hoch.

Ein Jahr später, nach 13 Jahren an der Konzernspitze, wechselte Ryser ins VR-Präsidium und gab die operative Führung an den von der Tochter Sihl + Eika gekommenen Roman Schorta ab. De facto behielt der Patron die Fäden freilich straffer denn je in Händen: Es gab keine nur halbwegs wichtige Verhandlung, die er nicht persönlich führte. Seine Chefs hatten den «Papa», wie er hausintern genannt wurde, für jede Nichtigkeit zu konsultieren. Letztlich bestimmte Ryser gar den Härtegrad der zu kaufenden Bleistifte oder die Beschaffenheit von Radiergummis.

Mit einem Verlust von über 50 Millionen Franken wurde das Geschäftsjahr 1993 zum Fiasko. Ein Jahr später schmiss Schorta entnervt den Bettel hin, und mit diesem Eklat schlug die Stunde des jungen Hans C. Bodmer (siehe Kasten nebenan). Der Sohn des früheren Präsidenten, 1991 in den VR nachgerückt, stellte sich an die Spitze einer Gruppe von Verwaltungsräten, die ein Loslassen des machtbewussten Präsidenten forderte. Schortas Nachfolger, der junge Mettler-Toledo-Manager Hans Gut, konnte darauf als Erster ohne Rysers Einmischung arbeiten.

Doch so rasch war das Versäumte nicht wettzumachen: In der Ära Ryser war der technologische Wandel, insbesondere jener von der Lichtpaustechnik zu digitalen Farbbildträgern, glattweg verschlafen worden. Dass die Nachfrage nach Transparenzpapier für das technische Zeichnen – wichtigster Ertragspfeiler der Gruppe – um jährlich 15 Prozent schrumpfte, wirkte sich gnadenlos aus. Zwar fanden sich auch bei Sihl Leute, die die Entwicklung vorausgesehen hatten, doch waren sie auf taube Ohren gestossen und hatten das Unternehmen nach und nach verlassen.

Als für das Jahr 1995 gar ein Verlust von gegen 85 Millionen Franken ausgewiesen wurde, kam es zu einem für das Zürcher Wirtschaftsestablishment einzigartigen Vorgang: Mit Ausnahme des Delegierten Gut zogen sich sämtliche VR-Mitglieder zurück. «Abgesehen von Ryser und Gut hatte doch keiner eine Ahnung von der Branche, und die heillose Verfilzung in diesem Gremium von Finanzleuten, Juristen und Schöngeistern hätte sich auf Dauer noch fataler ausgewirkt», bringt es ein ehemaliges VR-Mitglied auf den Punkt. Von Putsch könne keine Rede sein, gab Ryser seinerzeit auf entsprechende Fragen gereizt zur Antwort; die Abslösung beruhe auf dem alleinigen und freien Entscheid des Verwaltungsrates.

In Wirklichkeit war es erneut Bodmer gewesen, der die Revolution inszeniert und im Verwaltungsrat den Rücktritt auch des widerspenstigen VR-Präsidenten gefordert hatte. Unterstützung fand er insbesondere bei Peter Heister. Der frühere Renker-Gesellschafter hatte es nie verschmerzt, dass seine Gruppe an Sihl ging, und war mit Ryser regelmässig aneinander geraten. Eine Veränderung wollte auch Alfred Schwarzenbach. Zwar sprach sich dieser letztlich gegen eine Abwahl aus, doch Bodmer kam durch. Ryser, heute 77, zog sich darauf völlig aus der Öffentlichkeit zurück. Sein Nachfolger, Lehner, holte 1998 von Attisholz den Troubleshooter Helmuth Elkuch, der Gut als CEO ablöste. Ansonsten schlug sich der neue VR hauptsächlich mit Altlasten herum. Insbesondere die 1990 beim Börsengang vorgenommene Bewertung der Immobilien, auf die Ryser jeweils Hypotheken zur Finanzierung seiner Einkaufstouren erhielt, erwies sich als haarsträubend: Sie standen mit über 400 Millionen Franken zu Buche, waren bei Licht besehen aber vielleicht 200 Millionen wert.

Mit der Sanierung ist Sihl zwar wieder handlungsfähig und wird von Altlasten nicht mehr erdrückt, doch der Turnaround ist noch längst nicht geschafft. Für das laufende Jahr lässt sich Lehner denn trotz erkennbaren Fortschritten auf mehreren Ebenen keinerlei Prognosen entlocken. Zu konjunkturabhängig ist die Branche, zu sehr hat sich der Himmel gerade über den USA, wo 20 Prozent des Umsatzes erzielt werden, verdüstert. So bleibt Sihl auch weiterhin ein Fragezeichen – und erst recht ein Übernahmekandidat.
Partner-Inhalte