Sie waren ein Vierteljahrhundert in Wahlkämpfen engagiert. Was ist Ihnen dieses Mal aufgefallen?

Franz Steinegger: Dass die Parteien mehr als in früheren Jahren Sachthemen weit gehend verdrängt haben.

Worüber hätte diskutiert werden müssen?

Steinegger: Zum Beispiel über die Sozialpolitik. Bundespräsident Couchepin hat mit dem Begriff des Rentenalters 67 die Debatte lanciert. Die Linke reagierte darauf mit der Bemerkung, sobald die Wirtschaft wieder wachse, löse sich das Problem von selber. Auf der rechten Seite sagte die SVP, wenn man das Nationalbankgold für die AHV verwende, sei die Finanzierung geklärt. Und schon hatte man ein Nichtproblem.

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Ihre Partei, die FDP, hat sich auch nicht besonders hervorgetan.

Steinegger: Diese Feststellung ist richtig. Die FDP hat es verpasst, aus Couchepins schlecht vorbereiteter Steilvorlage eine gründliche Diskussion um die Zukunft der Sozialwerke zu machen.

Was halten Sie vom Aufruf der SVP zur «Allgemeinen Mobilmachung»?

Steinegger: Jede Partei will vor den Wahlen mobil machen und möglichst viel Wähler an die Urnen bringen. Trotzdem halte ich den Begriff für problematisch, weil er auch Isolierung und Abgrenzung gegen aussen signalisiert, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sich die Schweiz nicht abschotten darf, sondern sich als Antwort auf die zunehmende Globalisierung öffnen muss.

Rechtfertigt der Zustand der Schweiz solche Parolen denn überhaupt?

Steinegger: Nein. Unser politisches System ist leistungsfähig. Wir haben die Bilateralen Verträge und sind Mitglied der Uno. Es besteht Klarheit in der Energie- und Finanzpolitik, das Volk hat die Kapitalgewinnsteuer abgelehnt und im vergangenen Mai alle links-grünen Anliegen bachab geschickt. Defensiv ist unsere Wirtschaftspolitik eine Erfolgsstory.

Und offensiv?

Steinegger: Hier haben wir leider stagniert. In der ersten Hälfte der Legislatur hat sich das Parlament gegenüber Liberalisierungen noch offen gezeigt. Mit dem Nein des Volks zur Strommarkt-Liberalisierung, das gerne als Warnung gegen weitere Öffnungsschritte interpretiert wird, änderte sich das jedoch schlagartig. Auffallend ist, dass die Fronten von Befürwortern und Gegnern nicht mehr entlang den traditionellen Parteigrenzen verlaufen. Es gibt heute links und rechts konservative Kräfte, die in der sehr mobilen und schnellen Zeit auf Beharrung drängen.

Ist deshalb das Liberalisierungstempo in unserem Land so langsam?

Steinegger: Ganz abgesehen von den Besonderheiten unseres Landes trägt die Wirtschaft selber einen grossen Teil der Verantwortung. Die Seifenblase «New Economy» mit ihren Fehlentwicklungen in den Finanz- und Versicherungsmärkten blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen, indem sie die gesamte Wirtschaftspolitik inklusive die Liberalisierungen tief greifend diskreditierte. Zu spüren bekamen dies nicht zuletzt die politischen Kräfte, die sich für gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft engagierten.

Wie?

Steinegger: Sie haben die frühere Glaubwürdigkeit nicht wieder zurückgewonnen. Denn noch immer wird Liberalisierung mit der Abzockermentalität einer bestimmten Wirtschaftselite assoziiert. Folglich will man mit dieser Wirtschaftspolitik und den Kräften, die sie politisch vertreten, nichts mehr zu tun haben. Kommt hinzu, dass unsere politische Konkurrenz von links und rechts, vor allem die SVP mit Christoph Blocher, diese Identifizierung unter dem negativen Schlagwort «FDP-Filz» bewusst herangeschrieben hat.

Trägt die FDP als wirtschaftsnahe Partei nicht auch ein Stück Verantwortung für die Fehlentwicklung, weil sie der Wirtschaftsethik zu wenig Beachtung schenkte?

Steinegger: Ich kann mir nicht vorstellen, wie man eine selbsternannte Wirtschaftselite, die sich zudem an amerikanischen Vorstellungen orientierte, politisch hätte in den Griff bekommen können. Die «New Economy» hatte sich irgendwie vollständig von der Politik abgekoppelt.

Aber nochmals: Im Unterschied zu SP und CVP hat sich die FDP nie intensiv mit der Corporate Governance auseinandergesetzt.

Steinegger: Ich sehe in der Corporate Governance auch ein neues Einfallstor, durch das der Staat versucht, mit Verweis auf die Moral wieder stärker auf die Wirtschaft Einfluss zu nehmen. Das ist traditionell im Sinn von SP und CVP, während Freisinnige auf Selbstregulierungskräfte vertrauen.

Die Entwicklung der vergangenen acht Jahre zeigt, dass die Selbstregulierungskräfte nicht genügen.

Steinegger: Mit Blick auf die krassesten Fälle in den USA würde ich das bestätigen, für die Schweiz aber nicht unbedingt. Die Krisen bei ABB oder Swissair sind durch falsche Strategien oder Managementfehler entstanden, welche die Politik nun einmal nicht korrigieren kann. Was in der Schweiz jedoch offenkundig nicht genügt, ist die Insidergesetzgebung. Meines Erachtens ist der heutige Zustand skandalös, und es ist höchste Zeit, dass der Bund endlich handelt.

Die Wirschaftsentwicklung macht das soziale Klima rauer. Hat das Auswirkungen auf die Politik?

Steinegger: Ich fürchte, dass wir sehr harte und schwierige Zeiten vor uns haben.

Was meinen Sie damit?

Steinegger: Es gibt einige Bereiche, in denen die Politik die Bürgerinnen und Bürger mit Zumutungen konfrontieren muss, vor allem in der Sozialpolitik, aber auch im Zusammenhang mit dem Zustand der Bundesfinanzen oder der verstärkten Globalisierung. Ich habe den Eindruck, dass sich hier harte Auseinandersetzungen abzeichnen, die sich unter dem Stichwort «Neoliberalismuskritik» zusammenfassen lassen. Dass die Frontlinien quer durch die eigenen Reihen gehen, macht die Situation für die Parteien und Bürger unübersichtlich und die Suche nach Lösungen sehr schwierig.

Wie verhält sich ein Freisinniger da, der traditionell Lösungen sucht, die den Betroffenen mehr persönliche Freiheit versprechen?

Steinegger: Es klingt zwar paradox, aber es könnte in diesem Zusammenhang doch ein freisinniges Revival geben. Egal, zu welchen Lösungen man auch kommt, ohne mehr Eigen- und Selbstverantwortung geht es nicht. Man muss nur den Mut haben, dies auch klar und deutlich zu sagen. Man braucht ja mit dieser Botschaft nicht 80% der Bürger überzeugen, aber es gibt sicher 20 bis 30%, die ähnlich denken. Eine solche Basis wäre ja schon gut.

Was ja eine Verstärkung gegenüber heute bedeuten würde und angesichts der neuen Zusammenarbeit zwischen SVP und SP, die in wesentlichen Punkten immer deutlicher zu Tage tritt, für die FDP recht interessant wäre.

Steinegger: Es trifft zu. Wir hatten in jeder Session mehr Abstimmungen, bei denen es eine Koalition von links und rechts gab. Die SP bekennt sich heute klar zu dieser Doppelstrategie zwischen konservativem Beharren und reformerischem Aufbruch.

Führt diese Konstellation nicht zur politischen Blockade?

Steinegger: Dies ist zu befürchten. Bisher ist es immer wieder gelungen, Fronten zu durchbrechen und Lösungen zu finden. Mit Blick auf die Zukunft bin ich nicht mehr so optimistisch.

Warum nicht?

Steinegger: Es muss doch auffallen, wie oft heute mit Referenden gedroht wird. Das zeigt, dass die Auseinandersetzungen ideologischer und frontaler geführt werden. Weil man dabei mehr den politischen Kampf als die Lösung im Auge hat, kommt es unweigerlich zu einer Verhärtung.

Ist unser Konkordanzsystem in Gefahr?

Steinegger: Man darf dieses System nicht schlechtreden. Denn es hat der Schweiz viele gute Lösungen gebracht. Das Problem scheint mir vielmehr, dass jene, die sich um Reformen und echte Lösung von Problemen bemüht haben, heute schlecht honoriert werden. Man darf nicht vergessen, dass es viele Modernisierungsverlierer gibt, die ihre politische Heimat bei jenen gefunden haben, die ihnen Hilfe versprechen. Das gilt vor allem für die Landwirtschaft, wo der freisinnige Bundesrat Delamuraz Öffnungsschritte einleiten musste, was der FDP, aber auch der CVP massiv schadete, weil alle, die das Gefühl hatten, etwas zu verlieren, zur SVP abwanderten.

Sind Reformen mit parteipolitischen Risiken verbunden?

Steinegger: Ja, wer Veränderungen will, muss einen politischen Preis bezahlen. Und hier zeigt sich, ob man die Kraft und den Mut hat, die Mehrheiten zu beschaffen, die bereit sind, für die notwendigen Veränderungen zu kämpfen. Es ist einfach, Steuersenkungen zu fordern und sogar durchzusetzen. Hingegen ist es unsäglich schwierig, die kartelloiden Verhältnisse in der Schweiz zu beseitigen. Oder die Staatsquote zu senken.

Das wollen doch alle.

Steinegger: Ja, alle schimpfen über die Staatsquote. Nur wird tunlichst verschwiegen, dass das Wachstum der Staatsquote wesentlich mit der Entwicklung des Sozialbereichs zusammenhängt. Wenn man nun bei den Sozialwerken Korrekturen verlangt, herrscht jedoch grosses Schweigen oder gar Widerstand. Dieser Mechanismus bereitet mir Sorgen.

Gibt es politische Projekte, die als Signal des Aufbruchs gewertet werden können?

Steinegger: Sicher, aber man kann nicht irgendetwas Revolutionäres nur in der Meinung machen, damit seien die Probleme automatisch gelöst. Einen Zusammenhang mit der Lösung des Problems müsste der Reformschritt schon haben.

Ein EU-Beitritt als Antwort auf die internationale Herausforderung?

Steinegger: Wenn die Europa-Frage in der Schweiz intensiv diskutiert wird, führt das eher zu einer Abkapselung. Es gibt dafür einfach keine Mehrheit. Und jedesmal, wenn ich die Debatte forciere, wird die Igelhaltung der Mehrheit verstärkt mit dem Effekt, dass die SVP noch weiter zulegt. Ich bin überzeugt, dass wir in der nächsten Legislatur alles daran setzen müssen, die Bilateralen II über die Runden zu bringen. Keine leichte Sache.

Würde es zu einer innenpolitischen Deblockierung führen, wenn die SVP einen zweiten Sitz im Bundesrat bekäme?

Steinegger: Es gehört zum schweizerischen System, dass man politische Kräfte, die sich eher randständig benehmen, integriert.



Steckbrief:

Name: Franz Steinegger

Funktion: Fürsprecher und Notar, Präsident des Schweizerischen Tourismusverbands und des Suva-Verwaltungsrats

Alter: 60

Wohnort: Flüelen UR

Familie: Verheiratet, zwei Kinder

Karriere

1969 Universitätsabschlussals lic. jur.

Seit 1980 Nationalrat, tritt aufEnde der Legislatur zurück

1989-2001 Präsident der FDP Schweiz Schlagworte

«Wenn ich nochmals 20 Jahre alt wäre...

...würde ich nach der RS den ganzen Winter Ski fahren statt gleich mit dem Studium beginnen.»

«Wenn ich nochmals FDP-Präsident wäre...

...würde ich meinen Führungsanspruch vermehrt geltend machen und gleichzeitig das parteiinterne Netzwerk verstärken.»

«Wenn ich nochmals Expo-Präsident wäre...

...würde ich nicht viel andersmachen.»