Kinder und Nachbarn nennen ihn «Spatzenbaron». Auf dem Weg zur Arbeit füttert er Hühner und Spatzen, in seinem Arbeitszimmer lässt er Vögel herumflattern und richtet ein kleines Vogelspital ein. Die Tiere sind die einzige Ablenkung für den etwas seltsamen Herrn an der Neuen Beckenhofstrasse 14 in Zürich Unterstrass. Denn sonst beschäftigt Friedrich von Rothkirch nur eines: Seine «Schweizerische Handelszeitung», die er als Gründer und Redaktor seit dem 31. Dezember 1861 bis zu seinem Tod 1886 praktisch im Alleingang herausgibt.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Journalist und «Spatzenbaron» – nichts könnte weiter entfernt sein von dem, was ihm bei seiner Geburt vorgezeichnet schien. Am 21. April 1826, als Friedrich Hiob Erdmann von Rothkirch und Panthen in ein schlesisches Adelsgeschlecht hineingeboren, tritt er als Zögling in das königliche Kadettenhaus zu Berlin ein. Mit 16 Jahren erhält er das Offiziersbrevet. Aber er dient dem preussischen König Friedrich Wilhelm IV. nur drei Jahre. Die politischen und sozialen Zustände in Berlin erscheinen ihm unerträglich. Als es 1848 in Deutschland zu revolutionären Aufständen kommt, schliesst sich von Rothkirch zum Entsetzen der Familie der freiheitlichen Bewegung an.

Nach Festungshaft in die freie Schweiz

Die Revolutionäre streben politische Freiheiten, demokratische Reformen und die nationale Einigung der deutschen Fürstentümer an. Die sogenannte März-Revolution wird 1849 nach ersten Erfolgen gewaltsam niedergeschlagen. Das ist eine bittere und prägende Erfahrung für den jungen von Rothkirch. Er kommt in Festungshaft, eine  Freiheitsstrafe, die Verurteilten mit «ehrenhafter Gesinnung», vorwiegend Adligen oder politischen Straftätern, zugebilligt wird. So entgeht er dem Arbeitszwang für normale  Häftlinge und hat Zeit für das Studium der Nationalökonomie.

Als er am 28. Februar 1853 aus der Haft entlassen wird, findet er wegen der politischen Meinungsverschiedenheit bei seinen Standesgenossen keine Lebensgrundlage mehr. Er zieht nach Dresden und später in die Schweiz. Anfang der 1860er-Jahre lässt er sich in Zürich nieder. Er nennt sich jetzt Friedrich von Taur, erwirbt das Bürgerrecht der  Gemeinde Riesbach und kauft um 1870 ein kleines Haus in Zürich Unterstrass. Er ist verheiratet mit Isabella Elisabeth Olof und hat fünf Töchter, die alle vor ihrem Vater  sterben.

1860 veröffentlicht von Taur eine statistische Grundlagenstudie: «Der Staatshaushalt der Schweiz. Eidg. 1849–58». Im «Archiv für schweizerische Statistik» publiziert er  vierzehntäglich alles erhältliche Material über die Verwaltung von Bund und Kantonen, über Eisenbahnen, Banken, Versicherungen, Bevölkerungsbewegungen und  Wohltätigkeit. Am 31. Dezember 1861 erscheint erstmals die «Schweizerische Eisenbahn und Handelszeitung», eine Wochenzeitung, die er anfänglich zusammen mit einem Partner herausgibt. Ab 1868 heisst sie nur noch «Schweizerische Handelszeitung».

«Jedem Schwindel, jeder Täuschung entgegentreten»

Es grassiert das Gründerfieber: Eisenbahngesellschaften, Banken, Versicherungen und Fabriken entstehen. Es herrscht Wildwest, das Recht hält mit der rasanten  Entwicklung nicht Schritt. Bauernfängerei und Betrug bei Gründung und Aufbau von Unternehmungen sind alltäglich, das Spekulationsfieber grassiert. Von Taur macht die  «Handelszeitung» zum Kampfblatt für Freiheit, Recht, Transparenz und den Schutz der Anleger. Er werde «jedem Schwindel, jeder beabsichtigten Täuschung des Publikums  entgegentreten und namentlich den frevelhaften Grundsatz bekämpfen, dass die Moral in politischen und öffentlichen Verkehrsverhältnissen eine andere sein dürfe, als die,  welche im Privatleben heilig gehalten werden soll», verspricht er allen, die sein Blatt für 12 Franken im Jahr abonnieren.

Mehr Verantwortung - Boni erst nach Abgang

Die Rechnungslegung der Unternehmen täuschen Werte vor und verheimlichen Risiken. Neben mehr Öffentlichkeit verlangt von Taur die Verschärfung der Verantwortlichkeit der Organe, um Missbräuche zu verhindern. Die Boni heissen noch «Tantiemen», aber das Problem ist das gleiche wie heute. Von Taur wirbt für eine weitsichtige Lösung:  «Die Tantiemen sollten erst nach längerem, einen zuverlässigen Überblick des ganzen Geschäftsganges gestattenden Zeitraum bewilligt werden.» Ein Direktor sollte die Tantieme erst nach mehreren Jahren oder am besten erst bei seinem Austritt ausbezahlt erhalten, und sein Nachfolger sollte sie als Grundlage für die Berechnung der eigenen, künftigen Tantieme anzuerkennen haben. Von Taur ist seiner Zeit um über 150 Jahre voraus.

Kein politisches Mandat

Er führt eine spitze Feder. Als Finanzkritiker ist er geachtet und gefürchtet. Er deckt Betrug und irreführende Rechnungslegung auf, er geisselt Pflichtvernachlässigung in Politik  und Verwaltung und die Vergeudung öffentlicher Gelder. «Friedrich von Taur ist der grosse Rechenmeister und gefürchtete moralische Zensor», schreibt die «Neue Zürcher Zeitung». Und die «Züricher Post» lobt: «Mancher stolze Götze ist durch Friedrich von Taurs ‹Handelszeitung› gefällt worden. Die Zahl der Gentlemen aus den Kreisen der  Finanz, des Handels, der Bürokratie und selbst der Gelehrsamkeit, welche vor dieser scharfen Feder bangte, ist gross.»

Von Taur gehört keiner wirtschaftlichen oder politischen Gruppe an und wahrt seine Unabhängigkeit kompromisslos. Einem befreundeten Direktor einer Grossbank, der sich über Kritik an der Bank beschwert, schickt er den Anzeigenvertrag zerrissen zurück. Er verkörpert den konsequenten Liberalen, radikal bis zum Anarchismus. Der Staat soll seiner Meinung nach nur im äussersten Notfall Schulden machen. Die spätere Generation darf, «weil nicht befragt, auch nicht geplagt werden». Aus der Erfahrung mit der  niedergeschlagenen Revolution in Deutschland wird er zum feurigen Verteidiger der persönlichen Freiheit und Selbstverantwortung.

«Der freiheitswürgende Staatsmoloch»

Dabei kritisiert er links und rechts gleichermassen, erkennt er doch zwischen den Parteien wenig grundsätzliche Unterschiede: «Nur um das Tempo, in welchem man dem  unvermeidlichen Ziel jedes allmächtigen Kulturstaates, der vollständigen kommunistischen Knechtung, entgegenzugehen habe, dreht sich der ganze Streit unserer Parteien. Abgesehen von diesem subsidiären Gezänke beten alle Parteien zu demselben Götzen: Dem freiheitswürgenden, wohlstandsverschlingenden Staatsmoloch.» Rechtliche Gleichheit versteht er so, dass jedem Individuum die gleiche Möglichkeit zustehen soll, seine persönlichen Eigenschaften zu entwickeln. Handels- und Gewerbefreiheit und freie Vertragsschliessung sind Grundstützen seiner Ordnung. Dass er in der Schweiz gefunden hat, was ihm Deutschland verweigerte, macht ihn zum grossen Bewunderer: «Hie Schweiz, hie Freiheit.»

Ab 1873 gibt er die «Handelszeitung» täglich heraus. Er scheint unermüdlich, arbeitet ohne Ferien und Feiertage. Doch 1886 kann er nicht mehr. «Möge ein anderer an meiner Stelle die Schweiz ebenso ehrlich und treu, aber auch ebenso rücksichtslos lieben, wie ich es getan habe», kommentiert er den Abschied von seiner «Handelszeitung».