Die letzte Beurteilung eines Unternehmensleiters», orakelte Fritz Gerber mit Blick auf seinen bevorstehenden Rücktritt von der Kommandobrücke des Basler Pharmagiganten Hoffmann-La Roche, «hängt von der Frage ab, wie es ihm gelungen ist, seine Nachfolge zu regeln.» Das war im Oktober 1997. Wochen später überliess Gerber dem Marketingmann Franz Humer, Sohn eines Croupiers aus Salzburg, die Verantwortung für das operative Geschäft.
Seither hat bei Roche eine beispiellose Kapitalvernichtung stattgefunden, wurden Eigenmittel von weit über zehn Milliarden Franken «verspielt». Als die Folgen des Vitaminskandals finanziell schon einigermassen verdaut schienen, wurden im Zuge der Börsenkorrektur der letzten Jahre abermals Milliarden von Franken in den Sand gesetzt. Kaum ein anderes Schweizer Industrieunternehmen hätte einen derart massiven Substanzverlust heil überlebt.
Auch wenn er es selbst so gewollt hat, wäre es nicht ganz fair, Gerbers Leistungen rückblickend auf seine nicht eben glückliche Hand bei der Auswahl seiner Nachfolger zu reduzieren. Immerhin geniesst der gebürtige Emmentaler den Ruf, einer der erfolgreichsten, wenn nicht der erfolgreichste Topmanager der letzten 25 Jahre zu sein.
Beim BILANZ-Interview im Grand Hotel Victoria-Jungfrau in Interlaken, dort, wo sich im Zweiten Weltkrieg der Generalstab der Schweizer Armee einquartiert hatte, übt sich Gerber bezüglich seiner Verdienste als Konzernlenker in Bescheidenheit. In einem Besprechungszimmer des noblen Fünf-Sterne-Etablissements, einem Raum, der annähernd die Dimension eines Ballsaals aufweist, beugt sich der ehemalige Regimentskommandant, der über fünf Jahre seines Lebens im Militärdienst zugebracht hat, geschmeidig über den barocken Holztisch und beantwortet ruhig und verständnisvoll sämtliche Fragen. Nicht ohne Dankbarkeit blickt dieser höfliche Hardliner, der mit seinen bald 75 Jahren noch immer hellwach ist, am Vorabend seines Ausscheidens als ordentlicher Roche-Verwaltungsrat und Sprecher der Basler Familienaktionäre auf eine bewegte Laufbahn zurück.
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Als der Sohn eines Schreinermeisters aus Huttwil 1978 bei Roche den Vorsitz übernahm, befand sich die Firma in einer tiefen Krise. «Wie ein Mühlstein», so Gerber, hing die Chemiekatastrophe von Seveso, die sich zwei Jahre zuvor ereignet hatte, über dem Basler Traditionsunternehmen. Das Valium-Patent, das Roche während Jahren fette Gewinne beschert hatte, lief damals gerade aus, und in der Pipeline befanden sich nur wenige Erfolg versprechende Nachfolgeprodukte. In dieser schwierigen Situation gewann Paul Sacher den 49-jährigen Berner Fürsprech für das Amt eines eigentlichen Troubleshooters. Fritz Gerber empfahl sich für den heiklen Job, weil es ihm eben erst auf eindrückliche Weise gelungen war, die Zürich-Versicherung wieder auf Kurs zu bringen.
Wie sich herausstellen sollte, hatte sich der Basler Stardirigent in Gerbers Fähigkeiten nicht getäuscht. Der fackelte nämlich nicht lange und wechselte nach der Amtsübernahme fast die gesamte Konzernleitung aus, stiess zielstrebig Geschäftsbereiche ab, die mit dem Kerngeschäft nichts zu tun hatten, und verpasste dem Chemiemulti ein Rechnungswesen, das diesen Namen verdiente.
Anfang der Achtzigerjahre sorgte Gerber erstmals für branchenweites Aufsehen. Mit der britischen Glaxo handelte er ein innovatives Abkommen aus, wonach Roche das Erfolgsmedikament Zantac gegen Magengeschwüre in den USA gegen Provision vermarkten durfte. Netto spülte der Kooperationsvertrag den Baslern annähernd gleich viel in die Kasse, wie diese auf dem amerikanischen Markt zuvor mit dem Blockbuster Valium verdient hatten. Im Versicherungsumfeld hatte Gerber den Wert
einer guten Verkaufsorganisation schätzen gelernt. «Dieser Deal wäre mir nie gelungen, wenn ich in der Pharmabranche gross geworden wäre», sagt der fintenreiche Berner und lehnt sich zufrieden in seinem Stuhl zurück.
Der Genentech-Kauf – ein grosser Coup
Mit der Übernahme der kalifornischen Biotechnologiefirma Genentech landete Gerber 1990 dann seinen ersten ganz grossen Coup – ein für damalige Verhältnisse ausgesprochen mutiger Schachzug, von dessen Früchten der Pharmamulti bis heute zehrt. 1994 folgte der Kauf der US-Gesellschaft Syntex, mit welcher der Konzern seine starke Stellung im Spitalmarkt zementierte, und drei Jahre später schliesslich die Akquisition der im Diagnostikbereich führenden Boehringer-Mannheim-Gruppe.
Ein Solitär blieb Hoffmann-La Roche unter den Schweizer Blue-Chip-Gesellschaften trotzdem, allein schon deshalb, weil die Erben des Firmengründers den Pharmamulti kraft ihrer privilegierten Stimmrechtsaktien kontrollieren und die Kleinbasler «Weltapotheke» deshalb nie eine echte Publikumsgesellschaft war. Dies sollte Fritz Gerber allerdings nicht daran hindern, aus dem pharmazeutischen Traditionsbetrieb ein gut geöltes Börsenvehikel zu machen. Als einer der Ersten folgte er dem Lockruf des Shareholder-Value und trimmte Roche – Hand in Hand mit seinem Finanzchef Henri B. Meier – im Verlauf der Neunzigerjahre zu einer veritablen Geldmaschine.
Auch in der Schweiz wurde es seinerzeit zunehmend chic, Erträge zu zeigen, anstatt diese verschämt den stillen Reserven zuzuweisen. In den Achtzigerjahren hatte der Hang, diskrete Finanzpolster anzulegen, bei den meisten inländischen Firmen noch eine vergleichsweise tiefe Börsenkapitalisierung zur Folge gehabt. Unter Henri B. Meier, einem Kenner der internationalen Finanzmärkte, den Gerber 1986 bei der Handelsbank NatWest in Zürich abgeworben hatte, sollte sich dies bei Roche nachhaltig ändern.
Um Schwankungen im Pharmageschäft zu glätten und die Gewinndynamik des Konzerns planbar zu machen, spielte Meier virtuos auf der Finanzklaviatur. Regelmässig verzückte er die Kapitalgeber des Basler Pharmakonzerns mit so genannt nicht operativen Finanzüberschüssen – Sondererträge, die der einfallsreiche Kassenwart mit Wandelanleihen, taktischen Firmenbeteiligungen, Devisenspekulationen und mancherlei Aktiengeschäften erzielte. In Sachen Geldvermehrung funktionierte Meiers System beinahe so zuverlässig wie ein Uhrwerk. Regelmässig baggerten er und seine verschworene Crew mit rund einem Dutzend Mitarbeitern 25 Prozent der gesamten Vorsteuergewinne heran; in guten Börsenjahren sogar noch mehr. Da wurde in Finanzkreisen bald einmal gewitzelt, Roche sei eigentlich gar kein Produktionsunternehmen, sondern eher eine verkappte Bank.
Die anachronistische Kapitalstruktur des Konzerns mit der bis heute bestehenden Zweiteilung in stimmrechtsfähige Inhaberaktien und Genussscheine (ohne Stimmrecht) kam Meiers stupender Fingerfertigkeit in idealer Weise entgegen. Da Genussscheine streng juristisch keine Aktien sind, konnte er die eigenen Titel in beliebiger Stückzahl kaufen oder verkaufen. Über diverse gut geölte Kanäle im Markt «organisierte» die graue Eminenz bei Roche den Absatz von Genussscheinen und betrieb auf diesem Weg eine ebenso diskrete wie effiziente Kurspflege.
Einer der Ersten, bei dem der aktionärsfreundliche Kurs auf fruchtbaren Boden fiel, war Finanzjongleur Martin Ebner. Schon als Vontobel-Analyst hatte sich dieser eingehend mit den Kennziffern des verschwiegenen Pillen- und Salbenkonzerns beschäftigt und war dabei zur Überzeugung gelangt, dass es sich bei Roche um eine von den Anlegern zu Unrecht vernachlässigte Substanzperle handeln musste. Nach Gründung seiner eigenen Finanzboutique im Jahr 1985 akkumulierte er die aussichtsreichen Titel vom ersten Tag an. Auf der Basis der Beteiligungsgesellschaft Pharma Vision, die ihm Fritz Gerber zu Beginn der Neunzigerjahre freiwillig überliess, stockte er seine Beteiligung an der Basler Geldmaschine in den Folgejahren instinktsicher auf.
Ende der Neunzigerjahre kontrollierte der BZ-Banker 16,2 Prozent aller Roche-Stimmen, was ihn – vom Clan der Oeris und Hoffmanns abgesehen – zum mit Abstand grössten Teilhaber machte.
Win-win-Beziehung zu Martin Ebner
Gerber hat dem Zürcher Financier umgekehrt auch vieles zu verdanken: etwa die Tatsache, dass er heute privat über ein Vermögen von 300 bis 400 Millionen Franken verfügt (BILANZ-Schätzung). Kein zweiter lohnabhängiger Industrielenker hat es hier zu Lande zu ähnlichem Reichtum gebracht. Fritz Gerber war eben nicht nur als Architekt von zwei multinationalen Konzernen ein Ausnahmefall, er hat während Jahren auch entsprechend üppig verdient. Allein bei Roche soll er bereits vor mehr als einem Jahrzehnt mindestens fünf Millionen Franken im Jahr nach Hause getragen haben – weit mehr jedenfalls als jeder andere angestellte Manager seiner Generation. «Gerbers Salär wurde von Paul Sacher festgelegt. Und dies auf Vorschlag von Gerber», erklärt schmunzelnd ein Firmenveteran, der mit den damaligen Usanzen vertraut ist.
«Die rentabelste Akquisition von Roche ist mit Sicherheit Fritz Gerber selbst gewesen», lobhudelte sein langjähriger Vize Andres F. Leuenberger anlässlich des siebzigsten Geburtstags seines Mentors und relativierte damit dessen Spitzengehalt. War der Pharmakonzern bei Gerbers Eintritt noch mit bescheidenen 6 Milliarden Franken bewertet, betrug die Börsenkapitalisierung zwanzig Jahre später 150 Milliarden Franken oder 25-mal so viel. Kein Wunder, wuchs der Wert der Optionen, die sich der Roche-Steuermann im Verlauf seiner langen Karriere gutschreiben liess, buchstäblich in den Himmel. Für den Multiplikator im fulminanten Vermögensaufbau sorgte allerdings – ja, richtig! – der Mann mit der Fliege.
Auch wenn Gerber dies offiziell nicht wahrhaben will und diesbezügliche Fragen höflich ins Leere laufen lässt: Fakt ist, dass er zumindest einen Teil seiner stattlichen Bezüge von Martin Ebner verwalten und mehren liess. «Jeder der grossen Kunden hatte anfänglich auch ein privates Konto bei der BZ Bank und wurde bei Emissionen privilegiert bedient», bestätigt ein ehemaliger Mitstreiter Ebners. Unter solchen Voraussetzungen erstaunt es nicht, dass Gerber im November 1986 bei der Lancierung der allerersten Stillhalter-Option (auf die Titel von Ciba-Geigy) zu den von Ebner privilegierten Vorabzeichnern gehörte, was dem geschäftstüchtigen Emmentaler damals ganz nebenbei und völlig unbürokratisch ein paar Hunderttausend Franken zusätzlich einbrachte. Vom fehlgeschlagenen Raid auf die Bank Leu bis hin zu Ebners fanatischem Sturmlauf gegen die alte Bankgesellschaft: Direkt oder indirekt war der Roche-Gewaltige auch in späteren Jahren stets involviert und verdiente als Privatmann mit.
Im Speisesaal des «Victoria-Jungfrau» legt Gerber seine Antipasto-Gabel zur Seite, wischt sich mit der Serviette sorgfältig über den Mund und verrät im Flüsterton: «I ha ou Glück ghaa im Läbe.» An der Seite eines Finanzchefs, dessen Geldvermehrungsinstinkt legendär ist, und diskret beraten von einem Kaliber wie Ebner, surfte der meist braun gebrannte Manager auf einer Woge des Erfolgs. So lange, bis im Mai 1999 die Vitaminbombe platzte. In der bis dahin schier makellosen Vita des Roche-Präsidenten markierte das Publikwerden der jahrelangen Mauscheleien – nach Einschätzung der US-Justiz die «grösste je aufgedeckte Kartellkonspiration» – einen absoluten Tiefpunkt. «Das war wie ein Hammer», beschreibt Gerber sein Erwachen, «etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte.»
Den Verdacht, von den krummen Touren seiner Konzernleitungskollegen gewusst oder diese zumindest passiv geduldet zu haben, konnte er nie wirklich entkräften. Eingedenk der Tatsache, dass die Unsitte verdeckter Preisabsprachen bei Roche bis in die frühen Siebzigerjahre zurückreicht (Stichwort: Adams), sorgte Gerbers Naivität in der gesamten Fachwelt für hochgezogene Augenbrauen. Einen Teil dieser moralischen Hypothek trägt er bis heute.
Auch in der Konzernbilanz hinterliess der Vorfall deutliche Spuren. Alle Bussen, Schadenersatzzahlungen und Gerichtskosten zusammengenommen, hat das noch immer nicht abgeschlossene Verfahren Roche bis dato rund fünf Milliarden Franken gekostet. Wenn Gerbers Stern aus heutiger Sicht verblasst, so hat dies nicht nur mit seiner Rolle im Vitaminfall zu tun, sondern auch mit dem tragischen Umstand, dass er sein Lebenswerk offenbar in Hände gelegt hat, die dem Glanz des Familiensilbers bisher nicht zuträglich waren. Schlimmer noch: Gerbers Nachfolger an der Konzernspitze, Franz Humer, gewann mit dem Auffliegen der kriminellen Geschäftspraktiken im Vitaminbereich, von denen er als Quereinsteiger unbefleckt blieb, eine ziemlich ungesunde Machtstellung. Gegenüber Einmischungsversuchen seitens der alten, durch den Skandal desavouierten Führungsriege erschien Humer fortan jedenfalls weitgehend immun.
Humers riskantes Blockbuster-Denken
Als ein in der Wolle gefärbter Marketingmann war Humer anfänglich einem hemmungslosen Blockbuster-Denken verhaftet. So schnell wie möglich müsse man wieder unter die drei führenden Pharmakonzerne der Welt vorstossen, verkündete er nach seiner Beförderung zum CEO im Frühjahr 1998. Um diesem Ziel näher zu kommen, ging der brillante Verkäufer höchste Risiken ein. Der Schlankheitspille Xenical, einer vermeintlichen Wunderwaffe gegen Fettleibigkeit, und einer unverzüglichen Markteinführung des Herz-Kreislauf-Mittels Posicor verlieh er oberste Priorität, forcierte das Marketing und fuhr die Zahl der Ärztebesucher hoch.
Dass sich beide Substanzen letztlich als teure Flopps erwiesen, ist nur das Vorspiel in einer Serie von «Betriebsunfällen», welche die Liquiditätsreserven wie Schnee an der Sonne schmelzen liess und den einst für seine Substanzhaltigkeit gerühmten Pharmakonzern, gemessen am Eigenkapital, auf den Stand von 1996 zurückwarf. Die Tragödie bahnte sich an, als sich Gerbers langjähriger Chefstratege Henri B. Meier Anfang 2001 in den Verwaltungsrat zurückzog. Zu lange hatte CEO Humer mitansehen müssen, wie Meier aus dem Hintergrund die Fäden zog, als dass er sich nach dessen Ausscheiden nicht von ihm abheben und alles anders machen wollte. So dauerte es auch nur ein paar Wochen, bis er sich mit dem neuen Statthalter im Geldressort, dem vormaligen UBS-Generaldirektor Anton Affentranger, entzweite. Nach einem heftigen Disput warf Affentranger im Mai 2001 das Handtuch – pikanterweise just einen Tag nachdem Ebner seine Roche-Beteiligung an den Erzrivalen Novartis abgestossen hatte.
Auch Rolf Hänggi, ehemaliger Finanzchef der «Zürich», den Gerber gewissermassen als Aufpasser für den omnipotenten Henri B. Meier nach Basel geholt und dem er den ehrenvollen Titel eines VR-Vizepräsidenten verliehen hatte, witterte nach dessen Rückzug in den Verwaltungsrat Morgenluft. Erst recht, nachdem das zentrale Finanzressort jetzt vollends verwaist war. Mit ausdrücklichem Einverständnis von Humer ergriff Hänggi im Mai 2001 die operativen Zügel. Behände schlüpfte der Gerber-Intimus, der ohnehin schon den zuständigen Ausschuss im Verwaltungsrat leitete, in die Rolle eines «Schattenfinanzchefs», schaltete alle Maschinen auf Stopp und setzte die Bewirtschaftung des umfangreichen Wertschriftenportfolios kurzerhand aus, was sich als gravierender Fehler erweisen sollte.
Zum Zeitpunkt von Affentrangers abruptem Abgang – die Börsenbaisse hatte eben erst eingesetzt – war das Wertschriftenportefeuille des Konzerns, zu Marktpreisen bewertet, noch weit über 20 Milliarden Franken schwer. Davon entfielen rund 60 Prozent auf Aktien überwiegend inländischer Provenienz. Der jahrelange Flirt mit Ebners BZ-Gruppe hatte bezüglich der Titelauswahl unübersehbare Spuren hinterlassen: Gewaltige Aktienblöcke von Firmen wie ABB, Credit Suisse, VP Bank Vaduz, Zurich Financial Services sowie Rentenanstalt / Swiss Life (wo mit Andres Leuenberger mittlerweile ein anderer glückloser Gerber-Zögling das Ruder übernommen hatte) dominierten das Porte- feuille, notdürftig diversifiziert mit riesigen Packen von eigenen Genussscheinen.
Während Franz Humer fieberhaft nach einem neuen Finanzchef Ausschau hielt, begannen die Börsenkurse auf breiter Front einzubrechen. Das interne Risk-Management drängte in dieser Phase verschiedentlich darauf, die hohe Aktien-Exposure zu reduzieren. Doch nichts geschah. Gutgläubig wie hunderttausend andere auch hoffte der angebliche Finanzcrack Rolf Hänggi, dass es sich bei den Verwerfungen an der Börse nicht um den Beginn eines Crashs, sondern nur um eine vorübergehende Korrekturphase handelte. Als im Oktober 2001 mit Erich Hunziker ein neuer Finanzchef seine Stelle antrat, bewegten sich die Buchverluste bereits im neunstelligen Bereich.
Börsenbaisse: Fatales Zögern
Bei fallenden Notierungen erwies sich der von Ebner inspirierte Titelmix als enormer Klumpfuss. Hüben wie drüben waren es die gleichen zuvor künstlich in luftige Höhe getriebenen Titel, die jetzt bleischwer nach unten tendierten. Parallel zum Zerfall des BZ-Imperiums wurden auch bei Roche die Löcher in der Buchhaltung gross und grösser. Spätestens gegen Ende des Jahres 2001 hätte die Firma eigentlich eine Gewinnwarnung aussprechen sollen. Doch Humer dachte nicht daran, weil er befürchtete, dass der Markt sofort auf einen kausalen Zusammenhang mit dem Ausscheiden von Affentranger geschlossen hätte.
Lässt sich der unkontrollierte Absturz im Falle eines Hasardeurs wie Ebner gerade noch nachvollziehen, so bleibt einem im Fall des Basler Pharmamultis schlicht der Mund offen stehen: Wie war es möglich, dass eine Mannschaft aus hoch dotierten Industrie- und Finanzspezialisten während anderthalb Jahren wie gelähmt zusah und keiner im Stande war, die Notbremse zu ziehen? Im Mai 2002 trat der neue Finanzchef Erich Hunziker vor den zuständigen VR-Ausschuss und orientierte diesen im Detail über Ausmass und Dynamik der aufgelaufenen Buchverluste. Aber der hochkarätig besetzte Ausschuss, dem neben Rolf Hänggi (Vorsitzender) auch noch Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe und der Familienvertreter André Hoffmann angehören, entschied erneut, die Situation auszusitzen und auf ein baldiges Wiedererstarken der Börse zu hoffen. Vier Monate später trat Hunziker abermals vor das Gremium. Unternommen wurde wieder nichts, denn dafür war es bereits zu spät.
Zugegeben, an der Frage «Verluste realisieren oder nicht?» haben sich auch schon andere die Finger verbrannt. Auch dass man mit Abwarten und Teetrinken in eine Art Teufelskreis geraten kann, gilt es hier nicht zu bestreiten: Wer bei fallenden Kursen einen Entscheid hinauszögert, der gerät rasch einmal an den Punkt, wo es ihm töricht erscheinen mag, überhaupt noch zu reagieren. Dies alles erklärt die Paralyse bei der Wertschriftenbewirtschaftung aber höchstens zum Teil. Bleibt als letzte, durchaus plausible Möglichkeit: Rolf Hänggi, Fritz Gerber und weitere hohe Mandatsträger befanden sich in einem persönlichen Dilemma, weil sie auch privat über weite Strecken dieselben SMI-Titel hielten, die vom Börsencrash überproprotional betroffen waren. Insofern konnten sie kaum Interesse daran haben, dass die riesigen Roche-Bestände auf den Markt kommen könnten, was die Notierungen erst recht ins Bodenlose hätte sinken lassen.
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Im Februar 2003 wurde das Ausmass der Verluste dann erstmals in Umrissen sichtbar, als CEO Humer das Publikum anlässlich der jährlichen Bilanzmedienkonferenz mit einem Abschreiber auf dem Wertschriftenportefeuille von 5,2 Milliarden Franken schockte. Hinzu kamen Wertberichtigungen auf eigenen Titeln in Höhe von 2,4 Milliarden, ein Posten, den man allerdings nicht über die Erfolgsrechnung laufen liess, sondern über das Eigenkapital abgebucht hatte. Ergab unter dem Strich ein Minus von 7,6 Milliarden Franken. Was die Grössenordnung und die psychologischen Ursachen der masslosen Kapitalvernichtung anging, liess sich die Kernschmelze im Finanzressort von Roche durchaus mit den Verlusten vergleichen, die der BZ-Banker im gleichen Zeitraum zu verkraften hatte. Mit dem einzigen Unterschied vielleicht, dass der gestrauchelte Aktienhändler einen Grossteil seiner Papiere auf Pump erworben hatte, was ihn im Gegensatz zu Roche dann auch um ein Haar in den Bankrott getrieben hätte.
Die Ära Humer – ein Nullsummenspiel
Zumindest in einem Punkt scheint Ebner mit seiner Kritik an den Baslern nicht völlig danebengelegen zu haben. Im Roche-Verwaltungsrat gebe es «unschöne Abhängigkeitsverhältnisse», diagnostizierte der Shareholder-Advokat, als er sich noch auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Seiner gesetzlichen Aufsichtspflicht über das Management, monierte Ebner letztmals vor drei Jahren, komme das hohe Gremium leider «nur ungenügend» nach. André Hoffmann, der in der fraglichen Zeit im Finanzausschuss sass, widerspricht diesem Eindruck: «Die Kontrollmechanismen haben nicht versagt, wir hatten durchaus die notwendige Transparenz über die Entwicklungen im Finanzbereich», erklärt der designierte Familiensprecher. «Dass man im Nachhinein klüger ist und weiss, dass man gewisse Wertschriften früher hätte verkaufen sollen, scheint mir keine Frage der Aufsicht zu sein.»
Auch Franz Humer glaubt nicht an einen Kontrollmangel und weist entsprechende Vorwürfe energisch zurück: «Der Verwaltungsrat und insbesondere der Finanzausschuss waren über die Entwicklung stets informiert und haben das Management bei der Beurteilung der Entwicklung laufend unterstützt», sagt der Konzernchef im Gespräch mit BILANZ. «Es gab kein Kommunikationsproblem, sondern wie bei vielen anderen Investoren eine Fehleinschätzung des Börsenumfelds».
Abgesehen von peniblen Lücken im Risikomanagement und den erwähnten Rückschlägen beim Medikamentennachschub, bewies der Erbprinz von Fritz Gerber auch im Fall des zu lange auf die leichte Schulter genommenen Lizenzstreits mit der amerikanischen Diagnostikfirma Igen und beim Verkauf der Vitaminsparte an die holländische DSM keine besonders glückliche Hand. Die Fehleinschätzung in Sachen Igen bügelte Humer aus, indem er das in Maryland domizilierte Unternehmen im Herbst 2003 übernahm – und dabei nach Ansicht von Branchenexperten viel zu viel bezahlte. Und das für sich allein durchaus überlebensfähige Vitamin- und Feinchemikaliengeschäft gliederte er nicht etwa aus wie zuvor die Aromen und Riechstoffe, sondern verscherbelte die Division zu einem Preis, der den Buchwert um glatte zwei Milliarden Franken unterschritt.
Punkten konnte Humer hingegen mit der 2002 von ihm eingefädelten Übernahme der japanischen Chugai: ein cleverer Zug, der Roche im zweitgrössten Pharmamarkt der Welt nach eigener Einschätzung zu einem «Quantensprung» verholfen hat. Einen Höhepunkt in Humers insgesamt eher glanzloser Amtszeit stellt auch die kürzlich erfolgte Markteinführung des Hepatitis-Hemmers Pegasys dar, dem die Analysten ein Verkaufspotenzial in Milliardenhöhe zutrauen. Mit Ausnahme von Rocephin, dessen Patentschutz 2005 ausläuft, stammen praktisch alle Umsatzrenner aus der Küche der kalifornischen Biotech-Tochter Genentech – sei es das Milliardenpräparat Rituxan/Mabthera, das weltweit reissenden Absatz findet und nach wie vor zweistellig wächst, sei es Herceptin zur Bekämpfung von Brusttumoren, oder Avastin, ein brandneues und besonders aussichtsreiches Mittel gegen Darmkrebs. Aus eingemeindeten Forschungslabors stammen auch die beiden Blockbuster NeoRecormon gegen Blutarmut (Boehringer Mannheim) und das in der Transplantationsmedizin noch immer weit verbreitete CellCept (Syntex).
Selbst wenn Roche im Pharmabereich heute wieder schneller wächst als der Gesamtmarkt und der Medikamentennachschub auf mittlere Sicht gesichert scheint – ohne den Beitrag von Genentech wäre der Konzern kein pharmazeutisches Powerhouse mehr. Auch finanziell hat er seinen Sonderstatus verloren. Bezüglich Kapitalaustattung steht die Firma wieder dort, wo sie sich vor Jahren schon einmal befand. Und abzüglich der konsolidierten Eigenmittel der Töchter sogar schlechter. Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Ära Humer gleicht bisher einem Nullsummenspiel. Seit Gerber seinen Kommandoposten verlassen hat, wirkt der Konzern wie von den Schienen geraten.
Also doch eine Frage der Gouvernanz? Die These, mangelhafte Corporate-Governance-Mechanismen seien dafür verantwortlich, dass der überwiegende Teil der bei Roche in den Neunzigerjahren (hauptsächlich mit dem Verkauf von Genentech-Aktien) erzielten Sondergewinne innerhalb weniger Jahre «verbrannt» wurde, lässt der künftige Familiensprecher André Hoffmann so nicht gelten. Richtig sei allerdings, dass die Firma hinsichtlich «checks and balances» in letzter Zeit erhebliche Fortschritte erzielt habe. «Weitere Schritte müssen und werden folgen», verspricht der Grossaktionär.
Mit der Zuwahl von zwei neuen, unabhängigen Verwaltungsräten bei gleichzeitiger Verkleinerung des Gremiums um einen Sitz soll an der kommenden Generalversammlung für die nötige Blutauffrischung gesorgt werden. Um die gefährliche Machtballung an der Konzernspitze zu beheben, ist zudem die Einsetzung eines so genannten Lead Independent Director geplant. Dass sich Franz Humer demnächst freiwillig auf das Amt des VR-Präsidenten beschränken wird, wie in der Wochenpresse insinuiert wurde, halten Konzerninsider indes für wenig wahrscheinlich. «Humer leibt und lebt im Tagesgeschäft», sagt einer aus seiner Entourtage. «Sich auf das Präsidium zurückzuziehen, widerspricht seinem Naturell.»