Wann haben Sie sich gesagt, ab heute bin ich Futurist und mache daraus ein Geschäft?
Gerd Leonhard: Ich war früher Musiker und Produzent. Mitte der 1990er Jahre hat mich ein Bekannter dazu ermutigt, in den USA ein Online-Musikgeschäft zu starten. Wir fanden schnell Investoren und machten ungefähr etwas Ähnliches wie das, was der Streaming-Dienst Spotify heute bietet, aber B2B. Wir waren allerdings mit dieser Idee mindestens zehn Jahre zu früh. Es gab weder das iPhone noch die Cloud. Nach dem Nasdaq-Crash im Jahr 2001 waren wir insolvent – wie viele im Silicon Valley: keine Investoren, die Börsenkurse im Keller, das Platzen der Internetblase – und dann noch 9/11.
Und dann?
Nach dieser Erfahrung habe ich gemerkt, dass ich eigentlich besser darin bin, zu sehen, was kommt, und weniger bewandert, eine gute Geschäftsidee auch selber umzusetzen. Ich schrieb dann mein erstes Buch mit Dave Kusek. «The Future of Music» wurde zum Bestseller, der sich in 15 Sprachen verkaufte. Die Geschäftsidee von Spotify-Gründer Daniel Ek – Music Like Water – ist unter anderem wohl von unserem Buch abgeleitet worden. Zuvor hatte der britische Musiker David Bowie prophezeit, dass Musik wie fliessendes Wasser sein werde – also stets verfügbar. Nach dem Buch war ich plötzlich ein Futurist.
Sie haben also Ihre persönliche Disruption längst hinter sich?
Ich habe mehrfach Disruptionen bewältigt. Als Musiker merkte ich irgendwann, dass ich nicht wirklich gut genug war, um es bis ganz nach oben zu schaffen.
Immerhin spielten Sie als Gitarrist in denselben Arenen wie Miles Davis.
Das stimmt, aber meine Band war der allererste Opening Act.
Läuft das Futuristengeschäft gut oder schlecht?
Vor sieben Jahren habe ich eine Agentur gegründet, die nun weltweit über fünfzig Redner und Berater zum Thema Zukunft vermittelt. Die Nachfrage in diesem Geschäft explodiert, denn viele Leute haben Zukunftsangst. Die Disruption, die wir bereits im Musik- und Medien-Business gesehen haben, erleben wir nun bei Banking, Telekom, Versicherungen, Energie.
Was qualifiziert Sie für die Zukunftsberatung?
Ich kann komplexe Dinge leicht verständlich und konkret angewandt erklären. Das hilft Menschen, klare Entscheidungen zu treffen. Ich bin kein Wissenschafter, der sich auf einen Bereich konzentriert, sondern jemand, der eher auf dem Meta-Level, also breiter unterwegs ist.
Ihre grösste Fehlprognose?
Mit dem Brexit habe ich gar nicht gerechnet. Das gilt auch für die Trump-Wahl.
Wer Sie googelt, liest, Sie seien ein Schriftsteller. Wird man ernster genommen, wenn man Bücher schreibt?
Ich bin nicht primär ein Autor, aber es wird so langsam doch noch etwas. Im deutschsprachigem Raum hilft es allerdings, ein gutes Buch geschrieben zu haben. Was für meine Arbeit aber wirklich zählt, ist Youtube. Dort kann der Zuschauer in wenigen Sekunden erkennen, ob ein Redner Autorität hat oder nicht. Ich investiere daher viel Zeit und Geld in meine Filme, was Inhalte und Grafiken angeht.
Sie sagen, in den nächsten 20 Jahren verändere sich die Welt stärker, als sie es in den vergangenen 300 Jahren getan hat. Warum?
Die Technologie ist an einem Punkt angelangt, wo sehr grosse Fortschritte möglich sind. Selbstfahrende Autos, künstliche Intelligenz – das alles funktioniert jetzt wohl sehr bald. Jetzt überwindet die Technologie weitere Hürden. Internet, Breitbandverbindungen, superschnelle Rechner: Alles verschmilzt. So hat die Technologie bald unbegrenzte Möglichkeiten.
Ist das gut? Oder müssen wir uns fürchten?
Niemand kann sich vor diesen radikalen Veränderungen verstecken. Sie laufen zudem exponentiell ab, nicht linear. Bei allen Technologien gibt es auch Nebenwirkungen. Eine Nebenwirkung von künstlicher Intelligenz könnte sein, dass wir bald nicht mehr in der Lage sind, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Ich denke, wir müssen die Technologie umarmen, aber nicht zur Technologie werden. Ich bin Futurist und Humanist. Es ist wichtig, Mensch zu bleiben und nicht zur perfekten Maschine zu werden. Andere Futuristen sagen, Mensch und Maschine sollten verschmelzen, wir würden bald unser Gehirn uploaden. Ich halte nichts davon.
Sie sind Warner und Mahner – aber auch euphorisch?
Die Zukunft ist besser, als wir glauben. Technologie kann uns helfen, Krebs zu besiegen und den Klimawandel zu bremsen. Gleichzeitig müssen wir als Gesellschaft aber für uns klären, was wir mit neuen Technologien erreichen wollen. Das ist der kritische Punkt. Denn Technologie ist moralisch neutral. Kernspaltung kann als Waffe missbraucht werden oder Energie liefern.
Wenn wir über Zukunft reden, geht es vielfach um Digitalisierung. Viele Menschen nervt diese Debatte. Haben Sie Verständnis für diese Haltung?
Dafür habe ich absolutes Verständnis, denn der Wandel ist für viele Menschen total überwältigend. Es ist ja nicht nur die klassische Digitalisierung, es gibt sogenannte Megashifts, die stattfinden: Robotisierung, Automatisierung, Virtualisierung, Kognifizierung und so weiter. Das passiert alles gleichzeitig. Derweil merken Medien plötzlich, dass eine Plattform wie Facebook ihren Platz eingenommen hat. Und Plattenfirmen sind längst nicht mehr wirklich relevant. Jetzt gibt es einen starken Wandel im Banking. Das erzeugt bei den betroffenen Menschen natürlich enormen Druck. Nach dem Motto: Was muss ich noch alles machen, um mich für die Zukunft zu rüsten? Blockchain, Bitcoin, Big Data, Social Media – ständig kommt was Neues hinzu. Manche Leute machen dann zu und sagen: Das ist mir alles viel zu viel und auch zu viel Hype.
Was sagen Sie den Menschen, die fordern, nicht jedem Hype hinterherzurennen?
Das ist ja grundsätzlich nicht falsch, aber «Risiko vermeiden unter allen Umständen» ist ja oft die klassisch schweizerische Strategie. Allerdings wird dies in der Zukunft nicht mehr funktionieren, denn der Wandel beschleunigt sich erheblich. Abwarten, zuschauen und kein Risiko eingehen – das geht nicht mehr.
Was ist nötig?
Observieren, zuhören und veraltete Prinzipien infrage stellen. Doch diese Fähigkeit ist bei vielen Führungskräften verloren gegangen. Sie sind noch zu erfolgreich oder glauben, es sei nicht mehr ihre Aufgabe, zuzuhören. Ausserdem ist wichtig, sich vorzustellen, was sich alles ändern könnte. Man muss verstehen, was läuft. Dann lässt es sich besser reagieren.
Das gilt nicht nur fürs Kader.
Klar, das stimmt. Das Problem ist, dass viele unserer Tätigkeiten reproduzierende Tätigkeiten sind. Bisher ging es immer irgendwie gleich weiter. Allerdings funktioniert das nicht mehr lange. Was ich heute mache, muss ich weiterhin noch eine Weile tun. Aber ich muss auch bereit für das Neue von morgen sein. Das ist ein wichtiger geistiger Vorgang.
Wie lautet Ihr Ratschlag?
Wir müssen uns mehr Zeit nehmen und beobachten, was sich alles verändert, und dann die richtigen Schlüsse für unser Leben und unseren Beruf ziehen. Ebenso müssen wir zulassen, dass Annahmen, die wir getroffen haben, vielleicht nicht mehr relevant sind. Jede Firma wäre gut beraten, ihren Mitarbeitern diesen gedanklichen Freiraum zu geben: 5 Prozent der Arbeitszeit sollten dafür reserviert sein. Das Motto: Es geht darum, von der Zukunft retour zu denken, nicht von jetzt nach morgen zu denken, also zu verlängern.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wer heute Kupplungsteile für Autos herstellt, kann sich nicht mehr darauf verlassen, morgen lediglich bessere Kupplungsteile anzubieten. In den nächsten Jahren brauchen die vielen Elektrofahrzeuge nämlich gar keine Kupplungen mehr.
Sind Menschen für dieses hybride Denken, wie Sie es nennen, überhaupt gemacht?
Künstler oder Erfinder tun sich leichter damit, also mit allem, was sich vor allen Dingen in der rechten Gehirnhälfte abspielt. Solche Denkansätze sind in manchen Kulturkreisen stärker ausgeprägt: Amerikaner gelten daher oft als kreative Spinner, Deutsche eher als Perfektionisten.
Wie ist die Schweiz auf die Herausforderungen eingestellt?
Es gibt kulturell den Hemmschuh, Risiko unter allen Umständen zu vermeiden. Auch Konflikten geht man in der Schweiz eher aus dem Weg. Doch in einer Situation des Wandels kommt man schnell in ein Feld eines anderen Akteurs, Konflikte sind vorprogrammiert. Man muss sich den Konflikten stellen.
Ist die Schweiz abgehängt?
Nein, das glaube ich nicht. Allerdings sind viele führende Schweizer Forscher längst in den USA oder in Asien. Dieser Trend verstärkt sich, weil dort viel mehr Kapital für Investitionen verfügbar ist und eine ganz andere Risikokultur herrscht.
Wie stark ist die Schweiz unter Druck?
Es gibt hierzulande nicht Zehntausende Mitarbeiter in Callcentern, die durch Bots plötzlich ihre Jobs verlieren werden. So gesehen, ist es ein Vorteil, dass die Schweiz kleiner ist. Das erleichtert den Wandel. Allerdings denken hier viele Unternehmer auch nur in einem eher kleinen Rahmen. Sie wagen nur selten eine grosse internationale Wachstumsidee. Problematisch ist auch, wenn viele KMU als Auftragnehmer von Grosskonzernen abhängig sind. Denn dort findet sehr viel Wandel statt.
Ist die Ausbildung in der Schweiz zeitgemäss?
Erfolg ist immer eine Frage der Kultur. Und hierzulande gilt oft: Sei auf Sicherheit bedacht, wage dich nicht zu weit vor. Dabei wäre etwas mehr Biss und Aggressivität gut. Das gilt vor allem, weil in den kommenden Jahren viele Jobs verschwinden werden und wir gezwungen sind, neue Jobs zu erfinden. Viele Inhalte im Schweizer Ausbildungssystem sind sicherlich von gestern. Es geht oft um Fähigkeiten, die gut sind, aber sicherlich nicht dazu geeignet, eine eigene Firma zu starten.
Welche Fähigkeiten werden in Zukunft noch mehr gefragt sein?
In sieben bis zehn Jahren kommen wir an den Punkt, an dem Maschinen viele der logischen Fähigkeiten des Menschen beherrschen. Analysieren und komplexe Entscheide durch Computer zu treffen, ist dann möglich. Kognitive Fähigkeiten, die zurzeit noch den Menschen vorbehalten sind – wie etwa das Kombinieren –, die beherrscht der Computer dann. Doch der Teil, den Computer wohl niemals wirklich lernen können werden, nämlich einen biologischen Körper zu haben, zu existieren und zu fühlen oder Geschichten zu entwickeln oder Dinge, die es noch nicht gibt, oder Fantasie zu haben – oder aber Kreativität: Das wird jener Teil sein, der wichtiger sein wird, weil er uns als Menschen von den Maschinen unterscheidet.
Sind die USA ein Vorbild bezüglich der digitalen Transformation oder ein abschreckendes Beispiel?
Sicherlich beides. Ich habe 17 Jahre in den USA gelebt. Mein Eindruck ist aber jetzt gerade, dass Amerika moralisch und sozial bankrott geht.
Trotzdem orientiert sich Europa ständig am Silicon Valley.
Das Silicon Valley ist einmalig und vieles, was von dort kommt, ist so gut, dass es süchtig macht. Sie machen dort Dinge, die wir alle gerne nutzen und die schnell unverzichtbar sind. So wird im Silicon Valley aus einem Servicemodell fast schon ein Suchtmodell. Beispiele sind Smartphones und Social Media.
US-Konzerne wie Amazon, Google und Co. bestimmen unser Leben massgeblich.
Wir müssen in Europa und speziell in der Schweiz verstärkt dafür sorgen, unsere digitale Soveränität zu behalten. Was passiert mit unseren digitalen Daten? Wer ist eigentlich verantwortlich für das Internet der Dinge und künstliche Intelligenz? Wir wollen uns doch nicht von den globalen Internetkonzernen sagen lassen, wie wir hier in der Zukunft leben werden.
Was hat sich verändert?
In der ersten Phase des Internets gab es einen Austausch: Wir geben unsere Daten an die US-Konzerne, wir bekommen dafür gute Servicedienstleistungen. Nun ist dieser faustische Pakt allerdings so extrem zugunsten sowohl der amerikanischen Internet-Plattformen als auch neuerdings einiger Firmen aus China ausgefallen, dass sie eine gigantische Vormachtstellung besitzen, wie auch endloses Kapital zur lateralen Expansion haben. Das hat zur Folge, dass wir als Nutzer aus bestimmten Systemen, wie es etwa Facebook ist, so schnell gar nicht mehr rauskommen. Wir haben ein Monster genährt.
Rufen Sie nach mehr Staat?
Das ist sicherlich eine Variante. Als Nutzer können wir aber auch den Druck wesentlich erhöhen und fordern, dass die Firmen sich ändern. Derweil betreiben wir aber den faustischen Deal weiter, weil er aus Nutzersicht ebenso attraktiv ist – und wir sind schlicht und ergreifend abhängig davon. Ich mache mir aber mehr Sorgen, dass Technologie unsere menschlichen Prozesse mehr und mehr ersetzt oder wir die Grenzen nicht mehr erkennen zwischen Scheinwirklichkeit von Virtual Reality und dem echten Leben. Dann merken wir gar nicht mehr, wer wir sind, wir vergessen uns selbst. Dann werden solche Firmen zu einer Art von Religion. Sie bestimmen die Regeln und man könnte sie als höhere Autorität anerkennen.
Wie können sich Schweizer Firmen besser aufstellen?
Für Unternehmen zählt nicht nur, gute Technologie zu haben. Es zählt, wofür die Firma steht und was sie konkret für Werte vertritt, welche Ethik sie verkörpert. Nehmen Sie das Beispiel der Banken: Die meisten Finanzinstitute sind technologisch betrachtet oftmals total veraltet. Doch bald, wenn alle technisch auf dem gleichen Stand sind, geht es nur noch um die Marke und um das Vertrauen der Kunden. Der entscheidende Faktor zwischen Menschen ist eben nicht der Algorithmus, sondern was ich den Androrithmus nenne – das, was sich direkt zwischen Menschen abspielt und was Computer niemals verstehen werden.
Name: Gerd Leonhard
Funktion: CEO The Futures Agency, Autor, Futurist
Alter: 56
Familie: verheiratet, zwei Kinder
Wohnort: Zürich
Ausbildung und Karriere: Gerd Leonhard gewann 1985 den «Quincy Jones Award» des Berklee College of Music und war zwölf Jahre lang als professioneller Gitarrist, Komponist und Produzent tätig. Dann wurde er in San Francisco Gründer verschiedener Internet-Startups. 2002 kehrte er nach Europa zurück und arbeitet seitdem als Futurist.
Nach seiner Arbeit als Musiker und Startup-Gründer im Silicon Valley ist Gerd Leonhard mittlerweile als Berater und Futurist unterwegs. Weltweit hält er Vorträge an Konferenzen und Veranstaltungen, an Firmen-Retreats, Seminaren und Unternehmensschulungen. Um der wachsenden Nachfrage von Zukunftstrainern und Rednern zu begegnen, führt Leonhard seit dem Jahr 2010 seine Trainings mit Futuristen-Kollegen seiner Futures Agency durch. Sie hat knapp fünfzig Redner.
Gerd Leonhard gehört der Royal Society for the Arts in London an und ist Mitglied der World Future Society. Der deutschschweizerische Doppelbürger wohnt in Zürich und unterhält ein Büro in San Francisco. Zu seinen Kunden zählen unter anderem Firmen wie UBS, Mastercard, Unilever, Lloyds Bank, WWF, Nokia, Google und Sony.
Das jüngste Buch von Leonhard hat den Titel: «Technology vs. Humanity: Unsere Zukunft zwischen Mensch und Maschine»