Nestlé kennen alle. Immerhin ist Nestlé das umsatzstärkste Unternehmen der Schweiz. Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company kennt dagegen kaum jemand – mit Ausnahme einiger Geschichtsfreunde. Dies ist erstaunlich. Denn die Anglo-Swiss machte den gewichtigeren Kern der einstigen Doppelfirma Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Company aus.

Dass die Nestlé heute Nestlé heisst, geht auf ihren Firmengründer Henri Nestlé (1814–1890) zurück. Dass sich aber sein Familienname als Firmenname gehalten hat, ist purer Zufall. Ebenso gut könnte der Weltkonzern Anglo-Swiss heissen. Oder Nestlé and Page. Oder wie die wichtigste Marke damals: Milkmaid.

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Um dies herzuleiten, muss man ein wenig ausholen. Genau vor hundert Jahren fusionierte Nestlé, Vevey, mit der Anglo-Swiss Condensed Milk Company, Cham: Es war damals die grösste Fusion der Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Der weitaus grössere und stärkere Partner der Fusion war die Anglo-Swiss, die Nestlé war die Juniorpartnerin. Oder wie es Anglo-Swiss-Chef George Page in seiner bildkräftigen Art formuliert hatte: Der Elefant fusionierte mit einer Maus.

Doch der Name Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Company war umständlich und schwerfällig. Alsbald beschränkte man sich auf den eingängigeren Namen Nestlé, und so wurde der stärkere Teil des Nahrungsmittelkonzerns sprachlich getilgt.

Nun besinnt sich die Nestlé auf diese Vergangenheit, die etwas in Vergessenheit geraten ist. Diese andere Nestlé-Geschichte handelt von abenteuerlichen Pionieren aus Amerika. Auf Anregung des scheidenden Verwaltungsratspräsidenten Rainer E. Gut höchstselbst entstand zum Fusionsjubiläum die Biografie von George Ham Page (1836–1899; bibliografische Angaben).

Dieser George Ham Page war als Kind vorwärts strebender Siedler in einfachen Blockhütten in der Weite des Nordens im US-Bundesstaat Illinois aufgewachsen, er selber war von ungestümem Pioniergeist durchdrungen und ein Macher, wie ihn nur die amerikanische Prärie hervorbringen kann. Im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), als die Nord- gegen die Südstaaten antraten, sahen George und seine Brüder, wie ein Produkt erschöpfte Soldaten und unterversorgte Städter munter machte: Kondensmilch in Büchsen! Erhitzt, verdickt und aufgezuckert, danach luftdicht in Konservenbüchsen eingeschlossen, verdarb die Milch nicht, auch nicht nach Tausenden von Kilometern durch Präriestaub und Wüstensand. Diese Erfindung des Amerikaners Gail Borden machte den Gebrüdern Page Eindruck.

Georges Bruder Charles, der im Konflikt als Reporter gearbeitet hatte, bekam nach Ende des Krieges vom amerikanischen Präsidenten Andrew Johnson die Aufgabe, als Handelskonsul in der Schweiz für amerikanisches Kapital und Know-how Investitionsmöglichkeiten zu suchen. Kaum in der Schweiz angekommen, sah er viele Kühe, viele Wiesen und viele Arbeitskräfte – doch keine industrielle Verwertung der Milch. So besann er sich auf die Dosenmilch und entwickelte die Idee, die erste Kondensmilchfabrik Europas zu gründen. Seinen Bruder George, der nach Ende des Krieges im Kriegsdepartement in Washington darbte, holte er als Fabrikleiter. Das Geld für die Fabrikgründung steuerten amerikanische Geschäftsfreunde bei. Pro forma musste auch ein Schweizer, der Bankier James Kerez-Paravicini, dabei sein, denn die Amerikaner wählten gleich zu Beginn die Rechtsform einer Aktiengesellschaft, die damals in der Schweiz noch wenig genutzt wurde.

Die Firma war vom amerikanischen Gründergeist durchdrungen. Schnell sollte es gehen, gross sollte sie werden. George wurde in Amerika zu den führenden Kondensmilchherstellern geschickt, um das beste Kondensierverfahren kennen zu lernen. Ungeduldig schrieb Charles seinem Bruder George Page: «Mach vorwärts, und tu dein verflucht Bestes! Du bist unser schärfstes Geschoss.»

Das Geschoss wurde zum Volltreffer. Am 9. August 1866 ging in Zürich die
erste Verwaltungsratssitzung über die Bühne. Seither gilt dieser Tag als Gründungsdatum der Anglo-Swiss, aber auch der heutigen Nestlé – Henri Nestlés Firma wurde erst ein Jahr später aus der Taufe gehoben. Als Standort der ambitionierten Anglo-Swiss wurde Cham im Kanton Zug auserkoren. Der Ort am Zugersee hatte eben einen Bahnanschluss bekommen und war als katholisches Gebiet landwirtschaftlich und noch nicht industriell geprägt. So lautete die Formel: Viele Kühe + wenig Fabriken + niedrige Löhne = grosses industrielles Potenzial!

Gleich von Anfang an hatten die Pages und ihre Kompagnons den britischen Markt im Auge, der angesichts des ständig wachsenden Empire stark expandierte: So nannten sie die Firma «Anglo-Swiss Condensed Milk Company». Und hatten schnell sehr viel Erfolg. Im Januar 1867 gelang der erste Sud, also sechs Monate nach der Gründung. Bereits sechs Jahre später hatte die Firma sieben Fabriken in der Schweiz, Deutschland und England. Die Kondensmilchbüchsen aus der Schweiz gingen dank dem globalen Agentennetz um die Welt.

Zu dieser Zeit war George Page der alleinige Lenker der jungen, aber erfolgreichen Firma, sein Bruder Charles war 1873 gestorben. George bekam auf Grund seiner Machtfülle und unbestrittenen Autorität den Übernamen «General». Als rechte Hand zog George einen weiteren Bruder bei, David Steven Page, der als Freiwilliger im Bürgerkrieg gekämpft hatte und zum treusten Wegbegleiter wurde. Überhaupt spielte die Familie stets eine wichtige Rolle. Als Siedlerkind war George in einem grossen Familienclan aufgewachsen. Für die Firma adaptierte er dieses Muster. Wenn es einen Posten in Anglo-Swiss zu besetzen gab – und dies war auf Grund des raschen Wachstums oft der Fall –, setzte George eher auf familiäre Bande als auf berufliche Kompetenz: Er stellte weitere Brüder an, Stiefbrüder, Schwager, Schwager seiner Brüder, später auch Neffen und Cou-Cousins.

Familiäre Veränderungen in seiner engsten Umgebung prägten auch sonst den Geschäftsalltag: Als er 1875 die Zugerin Adelheid Schwerzmann (siehe Nebenartikel «Adelheid Page-Schwerzmann: Eine Frau ohne Grenzen») heiratete, beschloss die Anglo-Swiss zuerst den Bau von Direktorenhäusern im amerikanischen Kolonialstil, dann den Bau des repräsentativen Verwaltungsgebäudes. Zuvor war die Administration des Weltunternehmens im ehemaligen Armenhaus von Cham untergebracht gewesen. Als George und Adelheid Eltern wurden und ihr Säugling Fred Harte zur Kränklichkeit neigte, wuchs Georges Sensibilität für Babynahrung. Kein halbes Jahr nach Geburt von Fred kaufte er die Kindermehlfabrik in Blumisberg im Kanton Freiburg. Damit stellte sich Pages Anglo-Swiss in direkte Konkurrenz zur Nestlé in Vevey, die seit ihrer Gründung Kindermehl herstellte und mit Erfolg vertrieb. Die Nestlé ihrerseits nahm die Herausforderung an und begann umgehend mit der Produktion von Kondensmilch. Ein unheilvoller Konkurrenzkampf entbrannte: Die Anglo-Swiss machte der Nestlé das Kindermehl streitig, die Nestlé der Anglo-Swiss die Kondensmilch.

Das gegenseitige Herausfordern gipfelte vorerst darin, dass George Page die lästige Konkurrenz in Vevey aufkaufen wollte, genau so, wie er es bereits mit anderen, kleinen Anbietern getan hatte. Page rechnete mit einem Übernahmepreis von rund anderthalb Millionen Franken. Die Nestlé stieg aber nicht auf Pages Pläne ein und schlug stattdessen eine Fusion vor. Dies wiederum kam für Page überhaupt nicht in Frage: Schliesslich mache die Anglo-Swiss mehr Gewinn, habe mehr Kredit und überdies den besseren Ruf, meinte er. Die Anglo-Swiss war Marktführerin in Europa und hatte bereits viele kleinere Konkurrenten vom Markt gedrängt oder aufgekauft. Page glaubte fest daran, dass der Zenit des Kindermehlverkaufs überschritten sei und sich der Konkurrenzkampf von selber erledigen würde. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte.

Stattdessen setzte George Page zu seinem Opus magnum, zu seinem Meisterstück, an. Er war trotz Wohnsitz in der Schweiz durch und durch Amerikaner geblieben. Die angetragene Ehrenbürgerschaft in Cham lehnte er ab, weil er damit auf die amerikanische Staatszugehörigkeit hätte verzichten müssen. Er, der die amerikanische Weite gewohnt war, zerstritt sich immer wieder mit Nachbarn und Behörden. Trotz seiner Schweizer Frau und seiner Schweizer Firma wurde er in der Schweiz nie wirklich heimisch und sprach auch nie Schweizerdeutsch. Deshalb plante und realisierte er sein grösstes Werk nicht in der Schweiz, sondern in seiner alten Heimat Amerika. Das ist ganz wörtlich gemeint: George Page baute die grösste Kondensmilchfabrik der Welt nicht irgendwo im grossen Amerika, sondern in seiner Heimatstadt Dixon im Bundesstaat Illinois. Dort, wo er als erstes weisses Kind der Umgebung geboren worden war.

Amerika befand sich damals im goldenen Zeitalter des Hochkapitalismus. Grossindustrielle, Bankiers und Immobilientycoons wie John Rockefeller, Cornelius Vanderbilt oder Jay Gould wurden in dieser Zeit schwerreich und je nach Perspektive als Industrie- oder als Räuberbarone beschrieben. Doch das goldene Zeitalter hatte einen Bogen um Dixon gemacht. Nun kehrte George als Fabrikerbauer zurück: Der einstige Siedlerjunge wurde jetzt als arbeitsspendende Lichtgestalt gefeiert.

George Page wollte den Erfolg der grössten Kondensmilchfabrik der Welt nicht dem Zufall überlassen. Als Direktor der Fabrik setzte er einen Mann seines Vertrauens ein, seinen Bruder William Beede Page. Zudem wählte George Page im Werk Cham 18 besonders fähige Arbeiter aus und schickte sie über den Atlantik; sie sollten helfen, die Produktion in Dixon mindestens so erfolgreich zu gestalten wie in Cham. Page hatte einst das Know-how der Kondensmilchproduktion von Amerika in die Schweiz geholt, und nun wanderten die gesammelten Erfahrungen seiner 22 Betriebsjahre in die umgekehrte Richtung. Die Chamer in Dixon liessen sich in einem Quartier neben der Fabrik nieder, das heute noch den Namen Swissville trägt, die Strassenbezeichnungen Swiss Street und Anglo Street erinnern ebenfalls an die Zuzüger von damals.

Doch trotz allen sorgfältig getroffenen Massnahmen blieb die Fabrik in Dixon das Sorgenkind der Anglo-Swiss. Die Überkapazitäten der Fabrik drückten ebenso auf die Margen wie die Kampfpreise der Konkurrenz, die grösser und mächtiger war als jene in Europa. George Page zog mit seiner Familie nach New York um und zügelte gleich auch den Sitz der Generaldirektion in die Boomtown am Hudson River. Damit hoffte George, mehr Einfluss auf das wichtige Amerikageschäft nehmen zu können. Dies war auch dringend nötig, denn der Absatz in Amerika brach regelrecht ein.

Die Aktionäre der Anglo-Swiss bekamen Angst, der Kurs der Aktie sank und sank. George Page versuchte aus Amerika, wichtige Aktionäre zu beschwichtigen. Doch im Zeitalter vor Telefon, Fax und E-Mail zeigte sich, wie schwierig es mit eingeschränkten Kommunikationsmitteln war, einen Konzern auf zwei Kontinenten zu führen. Zuvor hatte die Anglo-Swiss Dividenden in der unglaublichen Höhe von bis zu 24 Prozent bezahlt, nun sank die jährliche Aktionärsbezahlung auf 6 Prozent.

Mit beharrlicher Arbeit und mit ständiger Optimierung der Produktionsabläufe schaffte George Page allmählich den Weg aus dem Tief. Den lästig gewordenen Verwaltungsratspräsidenten Paul F. Wild mobbte Page aus dem Amt. Er übernahm jedoch nicht selber das Verwaltungsratspräsidium, sondern setzte seinen loyalen Hauptbuchhalter auf diesen Posten. Dank dieser Massnahme hatte Page freie Hand und musste nicht mehr unangenehme Fragen seines Chairman beantworten wie zuvor. Die Gewinne stiegen wieder, und 1894 verkaufte die Anglo-Swiss erstmals mehr als eine Million Kisten mit je 48 Kondensmilchbüchsen: Das bedeutete einen jährlichen Absatz von mehr als 48 Millionen Büchsen.

George Page, mit solchen Absatzzahlen zum Herrn der Büchsen geworden, erreichte diese Zahlen, obwohl er ein erklärter Feind von Werbung war. Seine Anglo-Swiss setzte 1891 zum Beispiel 1,45 Prozent ihres Umsatzes für Werbung ein; die Konkurrentin Nestlé dagegen investierte 6,3 Prozent. Stattdessen setzte Page auf Markenpflege, vor allem für seine wichtigste Marke, Milchmädchen. «Was wir brauchen, ist eine Milchmarke, die sich klar unterscheidet, wir brauchen so etwas wie einen Versammlungsschrei, einen Schlachtruf. Kurz, wir brauchen ein Kriegsschiff auf Rädern.» George Page, ein Freund kräftiger Worte, verlangte das Unmögliche, weil er es selber geschafft hatte: Vom Kind einfacher Siedler war er zum allmächtigen Generaldirektor eines riesigen Milchverarbeiters aufgestiegen.

George Page verhielt sich komplett anders als sein Konkurrent Henri Nestlé. Als dieser knapp 60-jährig war, fällte er den Entscheid, sein Lebenswerk zu verkaufen. Nestlé sah ein, dass der anstehende Ausbau der Fabrik seine Finanzkraft überfordern würde. So beschloss er 1875, «sein schönes Geschäft, welches ihm so viel Ehre und Geld eingebracht hatte, gegen schmutzige Banknoten» einzutauschen, wie Nestlé selbstironisch spottete.

Für George Page, den General, kam solches nicht in Frage. Mit dem Verkauf oder mit seiner Nachfolge befasste er sich nicht, obwohl sich der sonst so robuste Mann im Verlauf der 1890er Jahre über gesundheitliche Beschwerden beklagte. Das viele Reisen, das zur damaligen Zeit äusserst beschwerlich und unkomfortabel war, war an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Im April 1899 starb George Page an einer schweren Lungenentzündung in Cham, beerdigt wurde er in seiner alten Heimat Dixon. Damit der Leichnam über den Atlantik reisen konnte, deklarierte ihn Witwe Adelheid Page als Marmorstatue. Wenig später folgte dann die Errichtung einer echten Marmorstatue als Andenken an George Page. Im Garten des Verwaltungsgebäudes in Cham erstellte der bekannte Bildhauer Richard Kissling ein Denkmal des Generals, das heute noch dort steht.

Im April war George gestorben, bereits im September 1899 lag ein erster Vertrag zur Fusion zwischen Anglo-Swiss und Nestlé auf dem Tisch. Zu Lebzeiten von George Page wäre dies undenkbar gewesen, er hielt gar nichts von der Konkurrenz in Vevey, sprach intern von «diesen Hindus in Vevey». Dort waren zwar alles Christen an der Führungsspitze, doch Page meinte mit «Hindus» rückständige Menschen.

Auch der Verwaltungsrat der Anglo-Swiss wehrte sich 1899 gegen die Fusion. Die Firma hatte eine dreimal so grosse Produktionskapazität wie Nestlé, einen doppelt so hohen Absatz, die liquiden Mittel betrugen neun Millionen, diejenigen der Nestlé nur vier Millionen. Einzig bei der Rentabilität konnte Nestlé mithalten, weil das Kindermehl noch immer sehr gefragt war und eine vergleichsweise hohe Rendite abwarf. Die Aktionäre der Anglo-Swiss lehnten den Vertrag ab, beauftragten aber den Verwaltungsrat, die Fusion weiterzuverfolgen. Ohne die starke Führung von George Page schien ein Alleingang der Anglo-Swiss wenig Erfolg versprechend. Zwei Fraktionen standen sich firmenintern gegenüber: die Fusionswilligen und die Fusionsgegner. Erstere obsiegten. Die Anglo-Swiss trennte sich von all ihren Amerika-Aktivitäten, auch von der Vorzeigefabrik in Dixon. Das Aktienkapital wurde von 24 auf 19,2 Millionen Franken reduziert, damit die Firma fusionsbereit wurde. Die Aktionäre witterten den bevorstehenden Deal, die Aktienkurse schossen in die Höhe. Am 15. April 1905 stimmten zeitgleich die Aktionäre der Anglo-Swiss in Cham und die Aktionäre der Nestlé in Vevey der Fusion zu: Die neue Nestlé & Anglo-Swiss Condensed Milk Company war geboren. Beim anschliessenden Festessen bekamen die Aktionäre Zuger Rötel, garniert mit Pommes anglaises.

Der anglofone Einfluss des George Page setzte sich nochmals durch. Ein letztes Mal.

Michael van Orsouw ist Co-Autor des Buches «George Page. Der Milchpionier». Er ist tätig als Buchautor, Redaktor und Ausstellungsmacher in Zug,mvo@geschichte-texte.ch

Michael van Orsouw, Judith Stadlin, Monika Imboden: George Page. Der Milchpionier. NZZ Verlag, Fr. 48.–, ISBN 3-03823-146-0.