BILANZ: Herr Prof. Straubhaar, vor 13 Jahren haben Sie zusammen mit Silvio Borner und Aymo Brunetti das Buch veröffentlicht «Schweiz AG – vom Sonder- zum Sanierungsfall?». Würden Sie das Fragezeichen im Titel noch heute setzen?

Thomas Straubhaar: Ja, das würde ich. Es gibt viele Probleme, die dringend angepackt werden müssen. Allerdings habe ich inzwischen grössere Sanierungsfälle gesehen, vor allem Deutschland. Dort würde ich nicht ein Fragezeichen setzen, sondern ein Ausrufezeichen.

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Wie schlecht steht es um die Schweiz wirklich?

In der Schweiz klagt man oft, bevor man leidet. Man erkennt deswegen vielleicht auch die Probleme früher als andernorts. Das ist ein grosser Vorteil. In Deutschland oder der EU werden die gleichen Probleme totgeschwiegen.

Hat die Schweiz trotz ihrem wirtschaftlichen Malaise denn noch Vorbildcharakter?

Ja, das hat sie. Das Rentensystem der Schweiz, ich nenne es Cappuccino-Modell …

Cappuccino-Modell?

Ja, weil es einen umlagefinanzierten ersten Teil hat, den Kaffe, wenn Sie so wollen. Dann den kapitalfinanzierten zweiten Teil, den Milchschaum. Und als Schokoladenpulver, das ein Leben nach der Pensionierung versüsst, einen privat finanzierten dritten Teil. Dieses Modell findet weltweit Nachahmer und wird von den Weltbank für Länder, die noch kein eigenes System haben, als Prototyp empfohlen.

Aber dieses Rentensystem ist in der Krise.

Ja, aber jedes andere Modell auch, und zwar noch viel schlimmer. Alle Sozialsysteme sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und basierten auf zwei Grundannahmen: Wirtschaftswachstum und Bevölkerungswachstum. Beide Voraussetzungen sind heute nicht mehr gegeben. Mit der schwachen Börse sind auch kaum mehr Kapitalgewinne möglich. Gegen solche Probleme lässt sich kein Rentensystem versichern. Aber das Schweizer Modell verteilt die Risiken besser und ist gegenüber demografischen Umwälzungen stabiler als andere.

Aber lässt sich das gegenwärtige System auf lange Sicht beibehalten?

Nein, das Rentenniveau wird so nicht zu halten sein. Man kann das Problem lösen, wenn man entweder statt die eigenen Kinder fremde Kinder die Rente zahlen lässt oder statt die eigene Wirtschaft eine fremde Wirtschaft. Für Ersteres braucht man Zuwanderung, für Letzteres muss man in fremden Kapitalmärkten investieren. Das Problem ist der Übergang: Bis man das System umgestellt hat, braucht man 20 Jahre, von 2020 bis 2040. Danach ist das Problem gelöst. Aber für diese 20 Jahre muss man heute die Vorsorge treffen.

Was passiert mit denen, die in diesem Zeitraum in Rente gehen?

Das sind die armen Kerle. In Deutschland weiss man heute, dass die Rentenversicherung dann auf 20 Prozent des Bruttoeinkommens hochschnellen wird, die Krankenversicherung auf 25 Prozent. Dazu kommt die Arbeitslosenversicherung, Steuern, Zinsen für die Schulden, die wir ihnen hinterlassen. Dann ist man bald einmal bei 100 Prozent! Wovon soll die Generation Ihrer und meiner Kinder ihren Lebensunterhalt finanzieren, geschweige denn unsere Renten?

Gilt dieses Szenario auch für die Schweiz?

Bei uns ist es einen Tick besser. Aber die Situation bleibt dramatisch genug.

Wo ist die Schweiz sonst noch Vorbild?

Besonders im Arbeitsmarkt. Die Schweizer sind überdurchschnittlich fleissig. Ein Schweizer arbeitet 20 bis 25 Prozent mehr als ein Deutscher – länger pro Woche, länger pro Jahr, länger im Leben.

Warum hat die Schweiz dann über die letzten zehn Jahre ein geringeres Wirtschaftswachstum verzeichnet als Deutschland?

Es ist viel schwieriger, von einem hohen Niveau aus noch schneller zu wachsen als von einem nicht ganz so hohen Niveau aus. Der Hauptgrund für die fehlende Dynamik liegt im schwachen Binnenmarkt: Die Verfilzung, die Kartelle, der Protektionismus, die staatlichen Monopole, die Trägheit der politischen Prozesse hindert viele daran, im internationalen Vergleich beweglich genug zu sein.

In welchem Ausmass gefährdet das Binnenmarktproblem den gesamtschweizerischen Wohlstand?

Massiv. Ich sehe zwei grosse Blöcke: Zum einen jene, die produktiv sind und Gewinne erzielen. Und dann die anderen, die versuchen, diese Gewinne umzuverteilen, wie Interessengruppen oder der Staat. Die Spannungen zwischen den beiden Blöcken nehmen zu: Die einen kommen wegen der Globalisierung unter immer grösseren Wettbewerbsdruck und haben ein stark international geprägtes Management, das kaum mehr auf alte Helvetismen Rücksicht nimmt. Die anderen denken immer protektionistischer, um zu retten, was noch zu retten ist. Je älter die Gesellschaft wird, je mehr Rentenbezüger es also gibt, desto stärker wird ihr Einfluss werden, und desto härter wird der Umverteilungskampf. Die Frage ist: Wie lange akzeptieren die produktiven Unternehmen noch die Binnenmarktfesseln und die Umverteilung?

Was passiert, wenn sie das nicht mehr akzeptieren?

Dann hat die Schweiz ein Riesenproblem. Ich kenne kein anderes hoch entwickeltes Land, das so einseitig von einem Sektor abhängig ist wie die Schweiz vom Finanzsektor. Fast 15 Prozent des Sozialproduktes und ein noch höherer Anteil der Steuereinnahmen werden hier generiert. Da tickt eine Zeitbombe: Wenn die Banken und Versicherungen ihre Aktivitäten weiterhin aus der Schweiz heraus verlagern, dann kommt das Land ins Rutschen.

Business-Lunch
Thomas Straubhaar


Prof. Dr. Thomas Straubhaar (46) ist Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA). Die Akademie an Hamburgs schönster Lage an der Binnenalster gilt als eines der renommiertesten Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands. Es erstellt jährlich zweimal zuhanden der deutschen Bundesregierung ein Konjunkturgutachten. Gleichzeitig lehrt Straubhaar an der Universität Hamburg Volkswirtschaftslehre. Der gebürtige Burgdorfer studierte an den Universitäten Bern und Berkeley (Kalifornien). Straubhaar befasst sich in seiner Forschung vornehmlich mit den Themen Schweizer Europapolitik, Auswirkungen der Globalisierung und Migrationspolitik.

In welchem Ausmass hat die Schweiz bereits unter der deutschen Krise gelitten?

Ich habe es nicht nachgerechnet, aber ich würde schätzen, mindestens ein Drittel der Schweizer Konjunkturschwankungen hängt vom deutschen Wirtschaftsgang ab.

Von daher hat die Schweiz höchstes Interesse daran, dass Bundeskanzler Schröder das Land wieder auf Kurs bekommt. Ist Deutschland überhaupt reformfähig?

Jein. Um alle drei grossen strukturellen Problemfelder zu reformieren, die Sozialsysteme, die Staatsfinanzen und den Arbeitsmarkt, fehlt in Deutschland nach wie vor die politökonomische Mehrheit. Das kann zu zwei Szenarien führen: Entweder die Krise geht weiter, und das Gebilde kommt unter noch grösseren Druck – so gross, dass die Zerreisskräfte zwischen dem produktiven und dem unproduktiven Sektor das System eines Tages implodieren lassen, wie damals die DDR. Oder man findet eine Allianz der Vernünftigen, die bereit ist, Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Bisher hat man aber erst Ankündigungen gehört, die viel zu wenig weit gehen und die mehr Unsicherheit als Optimismus verbreiten.

Warum fehlt der Mut?

Dieses Sich-Durchwursteln, diese Flickschusterei von Schröder ist vielleicht das Einzige, was noch möglich ist in einem Land, das sich als Rechtsstaat versteht und das eine unheimliche Dichte von Gesetzen, Verordnungen, Regulierungen hat, die alle einklagbar sind. Wenn ich in meinem Institut einen Mitarbeiter in eine andere Abteilung versetzen will, dann ist das ein offizieller Akt mit einem bestimmten arbeitsrechtlichen Verfahren und unsicherem Ausgang. Das ist doch verrückt!

Das heisst, das Problem in Deutschland ist in Wirklichkeit der Rechtsstaat?

Das kann man so sagen. Man müsste erst das politische und juristische System reformieren, bevor man das Wirtschaftssystem umstellen kann.

In Deutschland herrscht seit einiger Zeit eine Konsumverweigerung. Wird diese «Geiz ist geil»-Mentalität auch auf die Schweiz überschwappen?

Das ist bereits der Fall. Schauen Sie all die Leute an, die jedes Wochenende über die Grenze fahren, um bei Carrefour oder Aldi einkaufen zu gehen. Steigt die Arbeitslosigkeit, wird auch in der Schweiz jeder Franken zweimal umgedreht.

Was bedeutet das für die Hochpreisinsel Schweiz?

Schnäppchenjagd und Tiefstpreisangebote werden auch in der Schweiz üblich. Es ist kein Zufall, dass die Billigsupermarktketten Carrefour und Rewe sich nun auch in der Schweiz positioniert haben. Wenn die Kartelle und die Zugangsbeschränkungen für ausländische Anbieter fallen, ineffiziente Kostenstrukturen verschwinden und die Konsumenten die dadurch möglichen tieferen Preise einfordern, dann steigt das reale Lohnniveau. Davon profitieren alle.

Langfristig müssen sich die Löhne doch auch denen der umliegenden Länder angleichen?

Das können Sie sowieso nicht vermeiden. Eines der wenigen wirklich eisernen Gesetze der Ökonomie lautet, dass Sie den Strukturwandel nicht durch Protektionismus aufhalten können. Versucht man das, gibt es langfristig nur Verlierer. In den standardisierten Tätigkeiten werden die Reallöhne in der Schweiz zurückgehen. Aber neben einem Preiskampf gibt es ja auch noch einen Qualitätskampf. Da ist die Schweiz stark, da kann man durch Innovationen noch Monopolrenten erzielen, und da werden die Löhne nicht auf chinesisches Niveau sinken.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen schweizerisch-deutschen Befindlichkeiten?

Die offizielle deutsche Sicht ist die, dass es nicht angeht, dass die Schweiz Rosinen pickt. Das gilt bei den Anflügen auf den Zürcher Flughafen über deutsches Gebiet, das gilt auch für die EU-Osterweiterung, wo man in Deutschland das Gefühl hat, die Schweiz bekommt durch die bilateralen Abkommen gratis Zugang zu allen Vorteilen. Wenn man aber mit den gleichen deutschen Entscheidungsträgern privat spricht, dann haben sie eine starke Zuneigung zum Schweizer Modell.

Warum?

Die Schweiz verkörpert für sie die Hoffnung, die europäischen Zentralisierungstendenzen in Frage zu stellen. Die Deutschen beneiden die Schweizer um gewisse wirtschaftliche, politische und auch juristische Freiheiten, die Deutschland an Europa abtreten musste.

Andersherum ist die Zuneigung etwas geringer. Ist die latente Abneigung der Schweizer gegenüber den Deutschen noch immer primär historisch bedingt?

Ja, das sind noch immer die Nachwirkungen der Kriegszeit. Wobei das in Holland oder Skandinavien noch viel ausgeprägter ist. Dort ist das politisch bedingt. In der Schweiz herrscht eher die Angst, von Deutschland wirtschaftlich majorisiert zu werden. Aber das ist im Abklingen.

Auch wenn die Swiss von der Lufthansa übernommen werden sollte?

Ja. Für meine Eltern war die Swissair ein Nationalheiligtum. Für unsere Generation ist das die Swiss nicht mehr. Und wer ist schon Lufthansa? Die Firma ist auf dem Papier zwar deutsch, aber der Chef ist ein Österreicher, und die Aktionäre sind vermutlich teilweise Schweizer.

Wenn ein Schweizer Manager in Deutschland Erfolg hat, wird er in der Schweiz gefeiert. Ist das der Schweizer Minderwertigkeitskomplex?

Ja. Denn wenn ein Schweizer in Deutschland Erfolg hat, zeigt das, dass man nicht nur im kleinen Raum kompetitiv ist, sondern auch im grossen. Das ist ein Gütesiegel für die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizers.

Was bedeutet die EU-Osterweiterung für die Schweiz?

Die Schweiz wird einer der grössten Nutzniesser sein, weil es Deutschland und Österreich besser gehen wird. Dieses Wachstum wird auch in die Schweiz schwappen. Und die Schweiz wird über die bilateralen Abkommen Zugang haben zu den ökonomischen Vorteilen, ohne voll dafür bezahlen zu müssen.

Wann wird die Schweiz der EU beitreten?

Nicht in dieser Dekade. Ich bin überzeugter Europäer. Aber ökonomisch ist die Performance der EU in den letzten Jahren kläglich. Die Schuldenberge sind gigantisch. Die Stabilitätskriterien sind eine Katastrophe, weil sie nicht funktionieren. Einzig die Europäische Zentralbank macht einen wirklich guten Job. Aber sie steht derart unter Druck der nationalen Regierungen, dass es eine Frage der Zeit ist, bis ihre Autorität von den Politikern beschnitten wird. Und dann herrscht ein ökonomisches Chaos. Von daher würde ich für den EU-Beitritt nie wirtschaftlich argumentieren.

Sondern?

Das ist eine rein politische Entscheidung: Die Schweiz kann die grossen sozialen, politischen und ökonomischen Ziele nicht mehr allein verwirklichen. Die Swiss ist dafür nur ein Beispiel.