Der Tag der Wende begann unspektakulär. Niemand ahnte, dass sich nach diesem Freitag die Welt in eine andere Richtung bewegen sollte. An der Schweizer Börse schienen sich die Kurse zu erholen, an der Wall Street warteten die Händler gelassen auf den Börsengong. Ein gewöhnlicher Tag nahm seinen Lauf, so schien es. Doch um 9.13 Uhr lief eine Meldung über die Bildschirme, die aus diesem 14. März 2008 einen schwarzen Freitag machte: «Die Traditionsbank Bear Stearns wird mit Geldern der Fed vor dem Crash bewahrt, ihr Tagesgeschäft mit Hilfe des Bankkonzerns J.P. Morgan Chase fortgeführt.» «Let’s do it!», hatte Notenbankchef Ben Bernanke nach einer Krisennacht ausgerufen, obwohl er diesen Schritt als Kenner der Grossen Depression extrem fürchtete. Die historische Dimension war augenfällig: Seit den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war so etwas nicht mehr vorgekommen. «Das war der Tag, an dem der Traum des globalen Freihandelskapitalismus geplatzt ist», schrieb wenige Tage später Martin Wolf, der Chefkolumnist der «Financial Times». Amerika beschritt den verpönten Weg der Staatsintervention. Seitdem ist die grosse Welle der Globalisierung gebrochen, die vor drei Jahrzehnten anrollte und einen fabelhaften Wirtschaftsboom mit sich brachte. Sie wird nun abgelöst durch eine Welle des Protektionismus, die das weltweite Handelsgeschäft überflutet. Angebrochen ist das Zeitalter der Zölle, Autarkiedenken greift um sich, Währungskriege und Kapitalverkehrskontrollen werden ernsthaft diskutiert. Die Waffen, die wir im Zeughaus der Geschichte weggesperrt glaubten, kommen wieder zum Vorschein. Besonders fatal: Es gibt keine Führungsmacht, die sich gegen diesen Trend stemmt. Von wegen flach. Während dreier Dekaden Globalisierung empfand eine ganze Generation die Integration von Waren-, Kapital- und Menschenströmen als immerwährendes Gesetz. «Die Welt ist flach», das optimistische Buch des «New York Times»-Kolumnisten Thomas Friedman, wurde zur Bibel, das Lebensgefühl der globalen Verbundenheit zum Mantra. «Goodbye, Globalisierung?», fragen nun Ökonomie-Blogger irritiert. Lässt sich die Globalisierung rückgängig machen? Ja, sagt der Wirtschaftshistoriker Harold James, «die Globalisierung ist nicht unumkehrbar». Der Princeton-Professor verweist auf historische Zyklen: So provozierte der Globalisierungsschub im 18. Jahrhundert, angetrieben vom Zucker- und Kaffeehandel, Rückschläge gegen das britische und das französische Imperium. Durch die Napoleonischen Kriege wurden Handelsströme umgelenkt und Produktionen verlagert. Und die «goldene Ära» der Globalisierung im 19. Jahrhundert, angekurbelt von Dampfschiff, Telegraf und Massenmigration, wurde mit dem Ersten Weltkrieg jäh beendet. Die Rückschläge basierten stets auf nationalistischer Interessenpolitik wie auf moralischer Entrüstung. Tatsächlich liessen die Rückschläge nach der Rettung von Bear Stearns nicht lange auf sich warten. Gut ein halbes Jahr später, im November 2008, trafen sich die Vertreter der Weltmächte zum G-20-Krisengipfel. Wie immer beteuerten sie ihre Gemeinsamkeiten. Doch seither verging kein Tag ohne protektionistische Massnahmen eines Staates gegen andere. Ob plumpe Staatseingriffe oder raffinierte Abwehrmechanismen, Simon Evenett, Handelsökonom an der Universität St. Gallen, stellt die Anzahl der protektionistischen Massnahmen fest. In der mächtigen Datenbank Global Trade Alert zählt er derzeit 205 Massnahmen, welche die Schweiz diskriminieren oder für sie eine Bedrohung darstellen könnten. Gegen die USA richten sich 380 Massnahmen, 370 gegen Deutschland. Allein China erliess diskriminierende Massnahmen gegen 160 Handelspartner. Verwundbare Schweiz. Wie verwundbar die Schweiz ist, zeigte sich im vergangenen Jahr, als Italien die Schweizer Holdinggesellschaften auf eine schwarze Liste setzte. Seitdem müssen Lieferungen aus der Schweiz beim Fiskus gemeldet werden. Abschottungstendenzen erleben Schweizer Unternehmer auch in Deutschland. «Oft geschieht das indirekt», erzählt Swissrail-Präsident Daniel Steiner, «indem man grosse Vorarbeiten zu leisten hat oder Zertifikate vorlegen muss, um überhaupt an Ausschreibungen teilnehmen zu dürfen.» «Die Globalisierung als ökonomisch-romantische Idee zum Nutzen einer westlichen Finanzelite hat ausgedient», sagt der Wirtschaftsintellektuelle David Bosshart (siehe «Ausgedient»). Die Schweiz muss sich auf eine «wilde Globalisierung» einstellen, schreiben die Diplomaten Stefan Flückiger und Martina Schwab. «In China ist der neue, harsche Ton mit Händen zu greifen», berichtet Jörg Wolle, Chef von DKSH, einem führenden Dienstleister für Marktexpansion in Asien. «Seit den achtziger Jahren erleben wir China als offenes Testlabor des Freihandels. Diese Zeiten sind vorbei.» Viele Mittelständler bauen ihre Werkbänke in China ab, sie sind den wachsenden bürokratischen Anforderungen nicht mehr gewachsen. «Outsourcing als Mittel zur Arbeitskostenersparnis ist verschwunden», sagt der Zürcher FDP-Nationalrat Ruedi Noser. Der Telekommunikationsunternehmer erlebt in seiner Branche Outsourcing nur noch als Notfall, wenn nicht mehr genügend IT-Fachleute am Heimstandort gefunden werden. Eine Risikostudie des World Economic Forum warnt vor den Folgen: Arbeitslosigkeit, Instabilität und Währungsturbulenzen. Der Internationale Währungsfonds beklagt den wachsenden Druck auf den freien grenzüberschreitenden Kapitalverkehr. Die Weltbank sieht das globale Wachstum in Gefahr und befürchtet im schlimmsten Fall eine Eskalation. Wie unbekümmert führende Manager auf die neue Gangart umschalten, demonstriert Andrew Grove, der ehemalige Chef des IT-Konzerns Intel. In einem Essay schreibt er darüber, «wie wir amerikanische Arbeitsplätze schaffen, bevor es zu spät ist». Grove empfiehlt der Regierung schnörkellos, das Offshoring-Spiel zu beenden, das seine Prozessoren-Fabrik und andere IT-Produzenten jahrelang praktiziert haben. Produkte aus Offshore-Fabriken sollten besteuert werden, und mit den Einnahmen müssten heimische Unternehmen unterstützt werden. «Wenn das Resultat ein Handelskrieg ist», schreibt Grove, «dann behandelt es wie andere Kriege: Kämpft, damit ihr gewinnt!» Grove erklärt, warum Thomas Friedman falsch liege, wenn er sich auf Amerikas Innovationskraft verlasse. Friedman verstehe nicht, dass die Manager in der IT-Industrie, lange bevor ein Produkt zum Verkaufsschlager tauge, Zeitpläne zum Auslagern der Jobs schmiedeten. Tatsächlich werden Produkte, die Amerikaner auf ihrem Schreibpult mit den Logos von Dell, Apple, Microsoft, HP oder Intel stehen haben, in China vom IT-Giganten Foxconn produziert. Foxconn beschäftigt 800 000 Mitarbeiter, während die gesamte amerikanische Computerindustrie in der Fabrikation nur noch 166 000 Beschäftigte zählt – weniger als 1975, nachdem der erste PC gefertigt worden war. «Wir haben zu viel Auslagerung betrieben», sagt General-Electric-Chef Jeffrey Immelt, auch er ist der Ansicht, dass Amerika die heimatliche Produktion ankurbeln müsse. Das US Business and Industry Council, eine Traditionsvereinigung von Familienunternehmern, fordert radikale Notmassnahmen, ein Moratorium für Handelsgespräche, harte Zölle gegen Länder, die ihre Währungen manipulierten. In zivilen Beschaffungsprogrammen soll der Anteil auf 95 Prozent wachsen und die Immigration auf 500 000 Einwanderer pro Jahr beschränkt werden. Der Glaube ist weg. Deglobalisierung steht auf der Agenda. Auch die rechtslastige Tea-Party-Bewegung besetzt das Thema, 63 Prozent ihrer Anhänger und 53 Prozent aller Amerikaner denken laut einer Umfrage, dass Freihandel und Globalisierung die amerikanische Wirtschaft geschädigt hätten. Nur 16 Prozent glauben an den positiven Effekt, der ihnen stets versprochen wurde. Die Amerikaner haben Angst, dass die Globalisierung ihre Jobs wegfrisst. Nach 30 Jahren ruft erstmals auch ein US-Präsident zur Wiederbelebung der Heimfertigung auf. «Ich will keine Solar-Panels, keine Windturbinen und keine Elektroautos ‹made in China› sehen. Ich will, dass sie hier in den Vereinigten Staaten von Amerika produziert werden!», rief Barack Obama in einer Rede zum Labour Day in Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin. Kein Zweifel, Obama will die ausgelagerten Jobs zurückholen. Noch setzt die Obama-Regierung weitgehend auf smarte Instrumente – unauffällige Steuergesetze, stille Subventionen und Regulierungen. So wurde das alte «Buy American»-Gesetz bemüht, um den heimischen Produktionsanteil bei staatlichen Beschaffungsprogrammen zu steigern – Heimatschutz für die US- Rüstungsindustrie. Und im November 2010 wurde ein neuer Security Check für hereinkommende Luftpostbriefe über 453 Gramm angeordnet. Die Folge: Die Sendungen erreichen den Empfänger erst 48 Stunden später, die Gebühren steigen. Erste Reaktionen: Australien erhöht die Gebühren, Japan verweigert regulären Kunden den Versand, und Thailand hat ebenfalls eine Sperre veranlasst. Als die US-Notenbank kürzlich bekanntgab, dass sie 600 Milliarden Dollar auf die Wirtschaft herabregnen lassen werde, war die Aufregung bei den Handelspartnern gross. «China, Brasilien und die anderen Schwellenländer müssen begreifen», verteidigte der amerikanische Starökonom Barry Eichengreen den Schritt, «dass das Fed nicht in ihrem Interesse handelt. Die Notenbank kümmert es wenig, ob die Lebensmittelpreise in China steigen. Die anderen Zentralbanken, in Peking oder Brasilien, müssen sich um ihre Probleme schon selbst kümmern.» Eichengreen meint, dass dieser Schritt des Fed erst der Anfang sei: «Das ist eher als Anzahlung zu verstehen.» Währungskrieg. Peking reagierte mit harschen Kommentaren auf die Fed-Aktion. Ein Berater der chinesischen Zentralbank forderte einen «währungspolitischen Schutzwall» gegen das «unkontrollierte Gelddrucken». Doch China intervenierte in den vergangenen fünf Jahren selbst jeden Tag durchschnittlich mit einer Milliarde Dollar auf den Devisenmärkten – der schärfste protektionistische Waffeneinsatz der jüngsten Zeit. Das Riesenreich, drittwichtigster Zulieferer und viertwichtigster Absatzmarkt der Schweiz, verfolgt die Autarkie und schaltet dabei den Wettbewerb aus. Geräuschlos investieren chinesische Staatskonzerne im Ausland. Ihre bisher grösste Einzelinvestition war im August 2009 die Übernahme des Genfer Ölriesen Addax Petroleum durch die staatliche Sinopec für 7,5 Milliarden Dollar. Mit der Addax kauften sie dann riesige Landflächen in Afrika. Mit der schnellen Shoppingtour in Afrika und Zentralasien sichert sich China Jahrhundertkonzessionen. Und wo die Chinesen ihren Fussabdruck hinterlassen, bestimmen sie die Regeln. In Kongo zum Beispiel müssen westliche Unternehmen hohe Abgaben zahlen. Die Chinesen nicht. Sie restaurieren das Minengeschäft und lassen sich mit Kupfer und Kobalt bezahlen. Die afrikanische Landkarte wird in Mandarin beschrieben. Glen Tellock, Chef des amerikanischen Kranbau-Unternehmens Manitowoc, baute beim Drei-Schluchten-Damm mit, er lieferte jeden Monat fünf Kräne nach China. «Bis die Chinesen ihre Nase in die Regelbücher der Welthandelsorganisation (WTO) steckten», erzählt Tellock. Sie lernten, selbst Kräne zu bauen, und knebelten die amerikanische Firma trickreich mit einer neuen Importsteuer. Der Clou dabei: Die Abwehrregel befand sich völlig im Einklang mit den WTO-Verträgen. Patriotische Reflexe zeigen auch andere. Die Internationale Handelskammer (ICC) erklärt, dass unter den G-20-Mitgliedern Russland und die USA die meisten protektionistischen Massnahmen ergreifen, gefolgt von Indien, Argentinien, China und Brasilien. Russland begrenzte ausländische Investments auf 42 «strategische Sektoren», Indonesien erliess auf über 500 Produkttypen Zölle und Lizenzgebühren, Indien besteuerte den Sojabohnen-Import höher, Argentinien und Brasilien erhöhten die Hürden. Brasilien erhebt bis zu 100 Prozent Importzölle auf Fahrzeuge, setzte die Steuern für ausländische Anleihenkäufer hinauf, und die Zentralbank bremste den Zufluss ausländischer Gelder. Geht das globale Handelsgeschäft deswegen zurück? Jedenfalls zeigt ein wichtiger Indikator beunruhigende Trends an. Der Baltic Dry Index ist seit September 2010 um 50 Prozent eingebrochen (siehe Grafik im Anhang). Experten sind irritiert, die Zahlen passen nicht zur Aufbruchstimmung. Sie erklären sich das Ganze mit Sondereffekten, unter anderem mit Transportausfällen wegen der Flutkatastrophe in Australien und mit einem Überangebot an Schiffen, die noch im Vorkrisenboom geordert wurden. Aber vielleicht signalisiert der Index dennoch den Beginn eines Wandels. Heisse Luft. Regelmässig übertreffen sich die Regierungschefs der Abschotterstaaten an den G-20-Treffen mit Freihandels-Rhetorik. «Nichts als heisse Luft», kommentiert der brasilianische Ökonom Carlos Tadeu de Freitas, ein früherer Notenbankchef. Und die Doha-Runde, vor zehn Jahren im Golfstaat Katar eröffnet, gilt selbst bei unerschütterlichen Freihandelsdiplomaten als Lachnummer. Die Runde soll in diesem Jahr abgeschlossen werden, doch mehr als Palaver erwartet niemand. Kleine Lichtblicke sind nur bilateral erkennbar. So tritt die Schweiz in Verhandlungen mit China über ein Freihandelsabkommen, noch vor der EU. Die protektionistischen Tendenzen erinnern an die Misere der dreissiger Jahre, warnt der Wirtschaftshistoriker Harold James. Nach dem Börsencrash von 1929 verdüsterte sich das Klima. An einer «Vorbereitenden Konferenz über konzertierte wirtschaftliche Massnahmen» unterzeichneten nur 11 von 27 teilnehmenden Ländern die Schlussresolution, die Zölle bis zum April 1931 nicht anzuheben. Als die Ratifikationsfrist im November 1930 ablief, waren nur noch sieben Staaten übrig: Grossbritannien, vier skandinavische Länder, Belgien und die Schweiz. Die Musterknaben mussten zusehen, wie in den USA der Smoot-Hawley-Zolltarif erlassen wurde, der aggressive Abgaben auf 20 000 Importgüter erhob und so zum Beschleuniger der Grossen Depression wurde. 1028 amerikanische Ökonomen forderten Präsident Herbert Hoover auf, sein Veto einzulegen. Vergebens. Viele Länder reagierten mit Retorsionsmassnahmen, auch die Schweiz. Sie erhöhte die Zölle auf Uhren, Stickereien sowie Schuhe und boykottierte Waren aus den USA. Als «Wendepunkt in der Weltgeschichte» bezeichnete der Krisenforscher Charles Kindleberger diesen Zolltarif – «weil dadurch klar wurde, dass sich für die Weltwirtschaft niemand zuständig fühlte». Die Briten gaben ihre Vorbildrolle auf. Die Deutschen ignorierten die Gefahren, Banken-Crashs folgten. Die Investoren beschleunigten den Abzug ihrer Gelder. Die Schweizer Nationalbank verkaufte in England bis September 1931 nahezu alle Sterling-Guthaben. 25 Länder werteten gegenüber dem Dollar ab. Reichensteuern wurden eingeführt, Devisenkonten kontrolliert und blockiert, Auslandskredite eingefroren, Geldflüsse über die Grenzen unterbunden. «Wenn die grossen Nationen nicht mit gutem Beispiel vorangehen», so Kindleberger, «ist es dann die Pflicht der kleinen Nationen, eines durch Selbstaufgabe zu geben, statt die eigenen Interessen zu wahren?» Kredithilfen an verschuldete Staaten verpufften, weil sie zu niedrig kalkuliert oder zu spät bewilligt wurden. Schliesslich kam es zum Wettbewerb unter den noch kreditfähigen Staaten, bis klar wurde, dass auch den letzten verbliebenen Geldgebern die Mittel ausgingen. Die Hoffnungsträger versagten: Die Briten waren unfähig und die Amerikaner unwillens, die Verantwortung für die Stabilisierung zu übernehmen. «Als jedes Land sich auf die Wahrnehmung seiner nationalen Privatinteressen beschränkte», resümierte Kindleberger, «ging das Gemeinwohl der Staatengemeinschaft in die Binsen und mit ihm die nationalen Belange aller.» Seiner Ansicht nach muss in einer schweren Finanzkrise eine starke Nation mit Führungswillen die Rolle des Stabilisators übernehmen. Wer übernimmt sie heute? Jedenfalls wollen weder Amerika noch China diese Rolle übernehmen. Es droht sogar eine gefährliche Eskalation zwischen den beiden Grossmächten.
Globalisierung in Gefahr: Protektionistische Einzelkämpfer dominieren die Wirtschaftswelt. Und keine Grossmacht wirkt als Stabilisator. Fast wie damals in den dreissiger Jahren.
Lesezeit: 10 Minuten
Von Leo Müller
am 28.01.2011 - 01:00 Uhr
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