Die Luft ist klamm. Ein mannshoher Eisenbahnwagen mit 15 Arbeitern rumpelt durch die Dunkelheit. Es ist 13.50 Uhr, zehn Minuten vor Beginn der Nachmittagsschicht. Der Tunnelarbeiter Giacomo Tortorici (57), graue Bartstoppeln, orangefarbener Overall, zieht an einem Zigarillo. Die Grubenlampe über der Schulter, die Gummistopfen in den Ohren, ruckelt der Sizilianer zu seinem Arbeitsplatz: knapp zwei Kilometer tief im Berg am Rande der Ortschaft Bodio im Tessin. Seit August vergangenen Jahres betoniert Tortorici hier im Neonlicht unter Tage. Zweimal im Monat fliegt er von Mailand nach Palermo zu seiner Ehefrau Girolama, den Söhnen Vito und Vicenzo und der Tochter Francesca im Dorf Gibellina bei Trapani.

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«Angst?», fragt «Minatore» Tortorici, wie er sich nennt, während er seinen Sauerstoffspender festzurrt und den Atemschutz vor den Mund bindet. «Nein, Angst darf man bei dieser Arbeit nicht haben.»

Die Arbeit, die Tortorici zurzeit mit 600 bis 800 Kollegen aus aller Herren Ländern verrichtet, beschreibt draussen ein grosses Schild, das an der Autobahn steht: «Stiamo costruendo il futuro» – «Wir bauen die Zukunft».

Die Zukunft mitten in den Alpen, das ist ein Megaprojekt: der Bau zweier 57 Kilometer langer, neun Milliarden Franken teurer Eisenbahnröhren durch das Gotthard-Massiv – der längste Tunnel der Welt, länger als der 54 Kilometer lange Seikan in Japan, länger auch als der 50 Kilometer lange Chunnel unter dem Ärmelkanal zwischen Frankreich und England.

Die Zukunft, das ist die Vision von der kürzesten und schnellsten Alpenquerung, die es je gab. Um eine Stunde auf zwei Stunden und 40 Minuten wird die Fahrtzeit zwischen Mailand und Zürich zusammenschnurren, wenn der Tunnel 2014 fertig ist, und um weitere 30 Minuten nach Ausbau aller Zufahrtsstrecken. Der deutsche Südwesten und das französische Elsass, die Nordschweiz und die Lombardei, sie sollen verschmelzen zu einer neuen Wirtschaftsregion mit 20 Millionen Einwohnern.

Die Zukunft, das ist zuallererst aber eine noch nie da gewesene Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene. Lächerliche 140 Güterzüge quälen sich heute pro Tag von 250 Metern über Meereshöhe in Basel oder 100 Metern in Mailand hinauf bis auf fast 1200 Meter zum 121 Jahre alten, 15 Kilometer langen Gotthard-Eisenbahntunnel. In der zweiten Hälfte des kommenden Jahrzehnts sollen es 220 Güterzüge mit doppelt so viel Ladung sein, die am Stück ohne Zusatzlok und mit bis zu Tempo 160 durch das Massiv donnern. Schon die Eröffnung des 30 Kilometer langen Schwestertunnels am Lötschberg im Jahr 2007 soll spätestens bis 2009 die Zahl der Lastwagen, die durch die Schweiz dieseln, halbieren: von 1,3 Millionen auf 650 000 pro Jahr. Den danach erwarteten weiteren Zuwachs soll die neue Riesenröhre schlucken.

Einen «Eispalast» nannte Friedrich Schiller den Gotthard, «wo die Jungfrau seit Ewigkeit verschleiert sitzt». Als «Mythos» – weil «Kreuzungspunkt der vier Kulturen, Klimascheide, Quellgebiet von vier Flüssen und schier unbezwingbarer Pass» – preist ihn das Schweizer Fernsehen. Max Friedli, Ex-Generalsekretär der Schweizerischen Volkspartei und heute Direktor des Bundesamtes für Verkehr, wäre froh, wenn der Stich durch das Herz des Landes eine Hoffnung erfüllte: der Gotthard als künftiges «Schlüsselloch zu einer umweltgerechten europäischen Verkehrspolitik».

14.30 Uhr, Nachmittagsschicht auf Los 554, wie der Baustellenabschnitt in Bodio heisst. Minatore Tortorici zersägt Eisen für den künftigen Tunnelboden. Vorn am Kopf des Stollens stehen unter stählernen Stützbögen sechs Männer und starren auf eine hellgraue Scheibe von fast neun Meter Durchmesser. «Weg!», ruft eine Stimme, «via!», wiederholt eine auf Italienisch. Die Arbeiter weichen zurück. Zwei riesige Greifer aus Stahl stemmen sich links und rechts gegen die Stollenwand und drücken die Scheibe, die sich zu drehen beginnt, nach vorn. «Achtung!», «attenzione!». Es kracht und knarzt und reibt und raspelt. Rund 50 diskusförmige Meissel fressen sich in Granit und Gneis. Frisch zermalmt schiebt sich der Fels auf Transportbändern aus dem Berg.

«Nicht schlecht», sagt ein Techniker in einem Glaskasten voller Schalter und Monitore, «zehn Zentimeter pro Minute.» 20 Minuten später stoppt die Scheibe, und die Arbeiter gehen in Stellung: Der eine bohrt vier Meter tiefe Löcher in die frische Stollendecke, der andere spritzt flüssigen Beton hinein. Der eine schleppt Eisenmatten herbei, der andere drückt sie gegen den Fels. Der eine schraubt Stahlstangen in die Löcher, der andere befestigt Blechplatten daran, die wie Anker den Fels zusammenhalten. In der Zwischenzeit sind die Greifer zwei Meter weiter gerobbt und stemmen sich von neuem gegen die Stollenwand.

Dass alles wie am Fliessband läuft und der Tunnel wohl noch zu ihren Lebzeiten fertig wird, verdanken Tortorici und Kollegen den beiden Tunnelbohrmaschinen, die sich seit wenigen Monaten in den Berg wühlen. Ohne sie verschlänge der Bau der unterirdischen Röhre keine 15 Jahre, sondern die doppelte Zeit. Denn nach klassischer Methode wird ein Tunnel gesprengt, holen die Arbeiter nur um die 15 Meter Fels pro Tag aus dem Berg. Kommt die Tunnelbohrmaschine in Bodio so voran wie ihr Pendant am Lötschberg, sind durchschnittlich 30 Meter, an Spitzentagen sogar bis zu 43 Meter drin. «Und alles viel humaner und sicherer als beim Sprengen», sagt Martin Herrenknecht, Mehrheitsaktionär des gleichnamigen Unternehmens aus dem badischen Schwanau, das bereits zwei solche Maschinen für den Gotthard lieferte.

Die Produktivität schöpfen die 20 Millionen Euro teuren Tunnelbaumaschinen aus ihren Massen. Die Stahlkonstruktion in Bodio ist 410 Meter lang und beherbergt alle notwendigen Stationen zum Bohren, Sichern, Betonieren, Einschalen und zum Abtransport von Gestein. Das spart Zeit – und Arbeitskräfte. Ist die Fabrik unter Tage eingespielt, genügen zwei, drei Herrenknecht-Mitarbeiter, um die Anlage zu warten. Für den Rest der Tunnelbauarbeiten braucht es 20 Leute wie Tortorici. Das ist die Hälfte, wenn nicht ein Drittel des Personals beim Sprengen. Um die Maschinen auszulasten, müssen die Arbeiter allerdings rund um die Uhr ran.

22 Uhr, Schichtwechsel in Bodio. Die Werkskantine füllt sich. An der Essensausgabe hängt ein Wappen der heiligen Barbara, der Patronin der Tunnelarbeiter. Über den Tischen liegt der Geruch von Zigaretten, Schweiss und Bier.

Ein 37-jähriger Kambodschaner schlägt sich seit zwanzig Jahren mit Frau und Kind in der Schweiz durch. Zurzeit braucht er wieder Geld und hilft im Dienst der Leiharbeitsfirma Adecco im Stollen aus. Seine zwei Schweizer Kollegen sind eigentlich Bootsbauer, doch da sie gerade keine Aufträge haben, verdingen auch sie sich unter Tage.

40 Kilometer nördlich, auf 1400 Meter Höhe, im Bergdorf Sedrun. 800 Meter tief mussten die Arbeiter hier einen Schacht senkrecht in den Berg sprengen, um auf dessen Sohle eine Multifunktionsstelle zu bauen. In der unterirdischen Kaverne sollen einmal Züge die Röhre wechseln können und Reisende bei Bränden Rettung finden. Würde mit dem Bau des kirchenschiffartigen Hohlraums erst begonnen, wenn die Bohrmaschinen hier einträfen, verzögerte sich die Fertigstellung des Tunnels um Jahre.

Jetzt hängen schwere Stoffbahnen und Gummilappen von der Kavernendecke und schützen die Arbeiter vor umherfliegendem Gestein. Denn der Tunnel, den sie von hier aus einige Kilometer weit in beide Richtungen vorantreiben, muss gesprengt werden. Der Einsatz von Bohrmaschinen fiel aus technischen und wirtschaftlichen Gründen aus. Beissender Rauch zieht durch den Stollen. Ein Geologe klettert auf einen Gesteinshaufen, der soeben aus dem Fels gesprengt worden ist, und überprüft ihn auf gesundheitsgefährdenden Asbest. Im Baustellenprotokoll wird stehen, dass er nichts Verdächtiges fand. Kein Kohlenmonoxid trat auf. Nur 0,12 Milligramm Staub pro Kubikmeter wirbelten durch die Luft, weniger als ein Drittel des zulässigen Wertes. Und die Temperatur verharrte bei 19,7 Grad Celsius, gut acht Grad weniger als maximal erlaubt.

Kaum sonst wo auf der Welt achten staatliche Behörden so penibel auf die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften wie hier in Sedrun. Das Bergloch zwischen den Pässen Furka und Oberalp hat beste Chancen, in die Geschichte einzugehen: als Ort, an dem sich für die Schweiz einst auch entschieden hat, welche Rolle sie in Europa spielt.

Denn sowohl der neue Gotthard-Tunnel als auch die knapp vier Milliarden Franken teure Schwesterröhre durch den Lötschberg sind Teil des bilateralen Vertragswerks mit der Europäischen Union. In ihm steht unter anderem, dass die Schweiz im Einvernehmen mit ihren Nachbarn auf Lastwagen durch ihr Land eine Schwerverkehrsabgabe erhebt, womit die neuen Bahntransversalen finanziert werden. Sie legen auch fest, dass sich das Land schrittweise der EU-weiten Freizügigkeit für Arbeitskräfte öffnet – allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass eine Volksabstimmung nach 2009 den ungehinderten Zuzug aus der EU noch kippen könnte.

Dafür wollen die Politiker während der 15-jährigen Bauzeit am Gotthard nicht den kleinsten Vorwand liefern. Um die heimischen Unternehmen zu beruhigen, stellten die SBB als Bauherr jedem beteiligten Firmenkonsortium einen eidgenössischen Anführer voran. In Bodio thront die Schweizer Tunnelbaufirma Zschokke Locher über dem Essener Bauriesen Hochtief. In Sedrun ordnet sich Bilfinger Berger der eidgenössischen Batigroup unter.

Zugleich trachtet die Regierung danach, jeden «möglichen sozialen Sprengstoff» zu vermeiden, so Rolf Lüpke, Geschäftsführer der Vereinigung Schweizerischer Unternehmen in Deutschland. So müssen alle Firmen am Gotthard ihre Leute nach dem Gesamtarbeitsvertrag der hiesigen Bauindustrie beschäftigen. Das heisst: 40,5-Stunden-Woche, 25 Tage Ferien für 20- bis 50-jährige Mitarbeiter, knapp 25 Franken Stundenlohn für angelernte Bauarbeiter wie Tortorici, dazu 3 Franken Zuschlag für schwere Untertagearbeit und 2 Franken bei dauernder Nachtarbeit.

Sedrun sei ein Prüfstein für die Verträge mit der EU, liessen die staatlichen Kontrolleure des Gotthard-Projekts bereits deutlich verlauten. Gewerbeaufseher zwangen zum Beispiel die südafrikanische Minenbaufirma Shaft Sinkers, ihren Schachtarbeitern aus Lesotho vorenthaltenen Lohn von rund 630 000 Franken nachzuzahlen.

Erst recht wird sich in Sedrun entscheiden, ob die Schweiz einem Mammutprojekt wie dem Gotthard-Tunnel technisch und wirtschaftlich überhaupt gewachsen ist. Zwar wurden der Bau und die Finanzierung haarklein geplant: Ein 30 Milliarden Franken schwerer Fonds wurde aufgelegt, sogar ein Preisindex für Tunnelbau erstellt, um die Kosten zu steuern.

Doch gut zehn Kilometer südlich von Sedrun, daran führt kein Weg vorbei, muss durch die sagenumwobene Piora-Mulde gebohrt werden, eine bis zu mehrere Hundert Meter dicke Wand aus so genanntem Zuckerdolomit. Und der hat es in sich. Das weissliche Mineral wirkt wie ein festes Puzzle aus quaderförmigen Kristallen, zerbröselt zwischen den Fingern aber zu Pulver. Ein Stollen durch ein solches Gestein lag weder im Plan noch im Budget, er hätte womöglich 700 Millionen Franken zusätzlich und weitere sechs Jahre Bauzeit verschlungen.

Als bei Probebohrungen 1996 wässriger Zuckerdolomitgriess unter 100fachem Luftdruck aus dem Berg schiesst und fast einen Arbeiter tötet, scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten, steht das Gotthard-Projekt politisch kurz vom dem Aus. Erst weitere, am Ende gut 75 Millionen Franken teure Sondierungsbohrungen fördern in der Gegend des geplanten Tunnels schliesslich Zuckerdolomit zu Tage, der zur Freude der Geologen zu festem Marmor erstarrt ist. Zwar hält eine Stollendecke aus solchem Gestein nur die Hälfte der 10 000 Tonnen aus, mit denen der Berg von oben auf jeden Quadratmeter drückt. Doch rechnen die Tunnelingenieure fest damit, dass viel Stahl und Beton ausreichen, um der Piora-Mulde Paroli zu bieten. Endgültige Wahrheiten, meint Willy Diethelm, der Leiter der damaligen Sondierungsbohrungen, könnten allerdings erst die tatsächlichen Ausbrucharbeiten liefern.

Endgültige Wahrheiten, die braucht Michael Mai, der ehemalige Bergmann aus Neukirchen-Vluyn, nicht. Der 37-jährige Niederrheiner vertraut auf den 100 bis 120 Millionen Franken schweren Auftrag seines Arbeitgebers, der Firma Siemag aus dem westdeutschen Netphen. Die baute die Schachtförderanlage in Sedrun und betreibt sie noch sechs Jahre. Deshalb hat der gelernte Elektrotechniker bei Siemag nicht nur unterschrieben – er ist mit Ehefrau Erika, dem sechsjährigen Florian und der 23 Monate alten Emelie gleich nach Sedrun gezogen. «Das passt», hat er ausgerechnet. «Wenn die Baustelle 2013 schliesst, ist mein Ältester mit der Schule fertig.»

Die Idee, deutsche Bergleute am Gotthard einzuspannen, hatte die Deutsche Steinkohle AG, die im Ruhrgebiet Zigtausende Arbeitsplätze abbauen muss. Die ersten zehn sind bereits vermittelt. Weitere Anfragen, etwa von Bilfinger Berger, liegen vor.

Was passiert, wenn der Tunnel fertig ist, weiss Exbergmann Mai noch nicht. «Bis dahin», sagt er, «hab ich ja einen sicheren Arbeitsplatz.» Und dann huscht Stolz über sein Gesicht, und er sagt: «Immerhin kann ich meinen Enkeln mal erzählen, dass ich am grössten Tunnel der Welt mitgebaut habe.»

Reinhold Böhmer ist Reporter der deutschen «WirtschaftsWoche»

Milliarden-Aufträge
Ein fetter Brocken auch für Grosse


Am Gotthard-Tunnel verdienen etliche Baugiganten Europas mit.


Ihre Tunnels liessen die Schweizer von jeher von anderen bauen: Das gilt auch für die Neat, wo sich die Baugiganten Mitteleuropas um die Aufträge rissen. Doch ein bisschen Hilfe von der Politik sorgt dafür, dass der grosse Teil des aufgewendeten Geldes im Land bleibt. Am Gotthard erhielt so bei allen Losen ein schweizerisches Unternehmen die Federführung: Murer aus Erstfeld in Amsteg, Zschokke Locher aus Aarau bei den beiden Losen im Tessin und die Batigroup in Sedrun.


Von den 1,25 Milliarden Franken in Sedrun, dem grössten Einzelbaulos, bekommt die Batigroup 40 Prozent, eine segensreiche Grundauslastung über ein Jahrzehnt für den krisengeschüttelten Konzern. Daneben beteiligen sich Frutiger aus Thun sowie die Riesen Bilfinger Berger aus München und Pizzarotti aus Parma, bei welcher der Tessiner CVP-Ständerat Filippo Lombardi im Verwaltungsrat des Schweizer Ablegers sitzt. Einfacher sind die Verhältnisse in Amsteg: Die Urner Murer gehört zu 50 Prozent der österreichischen Strabag, und sie setzt Mineure der südafrikanischen Anglo American Corporation ein. Bei den beiden Losen im Tessin, mit zusammen 1,45 Milliarden der grösste Auftrag, den es je gab, beteiligen sich neben Zschokke die deutsche Hochtief, die österreichische Alpine Mayreder und die italienische Impregilo sowie deren Tochter CSC Impresa aus Lugano mit Nationalrat Franz Steinegger als Verwaltungsratspräsident.


Vom Gewinn dieser Lose bleibt so die Hälfte in der Schweiz, vom Geld für Personal und Material weit mehr: Auch die ausländischen Konzerne haben Schweizer Ableger, welche die Löhne abrechnen und versteuern, ein Drittel beanspruchen Investitionen und Material: 200 Millionen für Beton und 100 Millionen für Abdichtungen allein auf dem Tessiner Teilstück sorgen dafür, dass das Tunnelbauen auch für Holcim beziehungsweise Sika rentiert.