Als Gottlieb Duttweiler am 8. Juni 1962 starb, sendete Radio Beromünster während zwanzig Minuten besinnliche Klaviermusik. Gleiches wurde damals beim Landessender nur nach Katastrophen angeordnet. Zu Lebzeiten war Dutti nie eine vergleichbare Ehre zuteil geworden. Sein Wirken war ein jahrelanger Kampf gegen Behörden und das politische Establishment.
Duttweiler kam am 15. August 1888 an der Zürcher Strehlgasse zur Welt. Er wird als eher schwieriges Kind beschrieben, das aber schon früh Handelstalent bewies: Im zarten Alter verkaufte er erfolgreich selbst gezüchtete Meerschweinchen und Kaninchen.
Seine kaufmännische Lehre machte er beim Zürcher Handelsbetrieb Pfister & Sigg, wo er mit 19 Jahren als Agent nach Le Havre geschickt wurde, um die Mechanismen des Kaffeehandels kennen zu lernen. Erstmals erkannte er, wie der Zwischenhandel die Produkte verteuerte. Er knüpfte Kontakt zu einem Kaffeeanbauer in Brasilien an, von dem das Handelshaus fortan direkt bezog.
1920, nachdem ringsum die Währungen einbrachen, ging die Firma nach hohen Verlusten Konkurs. Duttweiler, der inzwischen Partner des Handelshauses geworden war, verlor auch sein Privatvermögen: Die Villa am Zürichsee, den Sportwagen und seine Kunstsammlung, nicht aber seine Frau Adele, die er 1913 geheiratet hatte und die sich aus Luxus nichts machte. Adele Duttweiler bekleidete nie eine formelle Funktion, prägte das Unternehmen aber im Hintergrund stark mit, etwa in Personalfragen.
Nach einem kurzen Abenteuer als Zuckerrohrbauern in Brasilien kehrte das Paar 1925 in die Schweiz zurück, mut- und ziemlich mittellos. Er brauchte eine Stelle und bewarb sich beim Verband Schweizerischer Konsumvereine in Basel als Einkäufer und Disponent. Er wurde abgelehnt. Das war der Tiefpunkt, an dem alles begann.
Denn erst diese Rückschläge motivierten Dutti zur Gründung der Migros. Seine Idee war so banal wie genial: Tiefere Preise, weniger Gewinn, dafür mehr Umsatz. In einer Zeit mit Handelsmargen bis zu 50% kalkulierte Duttweiler mit höchstens der Hälfte. Dazu setzte er auf ein schmales Sortiment und umging teure Ladenmieten. Die Alternative kannte er aus den USA: Fahrende Läden. Am 15. August 1925 liess er die Migros eine Kombination von «demi» und «en gros» als AG eintragen.
Sechs Artikel und erste Boykotte
Er beschränkte sich auf sechs unverderbliche Artikel des täglichen Bedarfs: Zucker, Kaffee, Teigwaren, Reis, Kokosfett und Seife, baute das Sortiment aber bald vorsichtig aus und fuhr erste Routen ausserhalb Zürichs. Doch die Konkurrenz sah nicht tatenlos zu und übte Druck auf die Gemeinden aus, die die Gebühren für die fahrenden Verkaufsstellen teilweise gleich um das Fünffache anhoben.
So eröffnete er Ende 1926 den ersten Laden an der Zürcher Ausstellungsstrasse. Die Kontrahenten taten alles, um der Migros das Leben schwer zu machen, von Verspottungen, Verleumdungen, Boykott-Aufrufen bis zur Beschlagnahmung von Verkaufswagen. Doch sie unterschätzten zweierlei: Die gewaltige Werbewirkung der Einkaufswagen und Duttis Talent, mit jeder Schikane die öffentliche Sympathie zu steigern. Immerhin war die Migros rund 20% billiger und sprach gezielt «die intelligente Hausfrau» an.
Jeden Prozess, ob er gewann oder verlor, machte Dutti zum Medienereignis und steigerte so die Popularität der Migros. Früh gründete er die «Migros-Brücke», der später «Die Tat» und «Wir Brückenbauer» (heute Migros-Magazin) folgten, und publizierte ungeniert Preisvergleiche. 1931 beschäftigte er 527 Personen und setzte fast 30 Mio Fr. um. Wegen seiner tiefen Preise wurde er nun auch von einem Grossteil der Nahrungsmittelindustrie boykottiert und begann selbst zu produzieren.
Als Kaufmann, wie auch später als Politiker, setzte sich Duttweiler zwischen alle Stühle. Er machte sich beim Kleingewerbe unbeliebt und bei der Grossindustrie und er attackierte die Konsumgenossenschaften (später Coop) und damit die Sozialdemokraten samt Gewerkschaften. Sein Schlagwort «soziales Kapital» machte ihn bei den Linken zum Kapitalisten und bei den Bürgerlichen zum Sozialisten. Seine einzige Chance war, die Massen auf seine Seiten zu ziehen.
Doch 1933 stimmte der Nationalrat dem Filialverbot zu, das erst 1945 aufgehoben wurde und die Expansion vorübergehend stoppte. In dieser Zeit entstand dafür Hotelplan, der heute zweitgrösste Reiseanbieter der Schweiz.
Duttweiler war, bei allem Genius, nicht nur der selbstlose, soziale Patron mit dem Gemeinwohl im Auge. Zeitgenossen schildern ihn als cholerisch und zuweilen ziemlich schroff im Umgang. Mit Sicherheit war er volksverbunden und humorvoll. Kaum jemand konnte sich seinem Charisma entziehen. 1935 wurden er und sechs Mitstreiter für den von ihm gegründeten Landesring in den Nationalrat gewählt.
Genossenschaft ab 1940
Während des Krieges, 1940, machte das kinderlose Paar die Migros zur Genossenschaft und schenkte die Anteilscheine der Kundschaft. Die grosse Geste hatte durchaus politische Hintergründe. Dutti fürchtete eine mögliche Enteignung im Falle einer Invasion der Nazis und er sah als Alleineigentümer zunehmend die Glaubwürdigkeit der Migros in Frage gestellt.
Nach der Aufhebung des Filialverbots folgte Mitte der 40er Jahre ein Wachstumsschub und mit den ersten günstigen Sprachkursen auch der Beginn der Klubschulen. 1954 gründete Dutti Migrol und verschätzte sich, als es darum ging, nach bewährtem Rezept den Zwischenhandel auszuschalten. Die eigene Ölraffinerie in Friesland geriet zum Verlustgeschäft. Es war nur einer von vielen Tiefschlägen im Geschäftsleben Duttweilers. Doch eine seiner grössten Stärken war es, Misserfolge und Niederlagen in positive Energie umzuwandeln. 1962, in seinem Todesjahr, setzte die Migros 1,2 Mrd Fr. um, betrieb 413 Läden und beschäftigte 18471 Mitarbeiter.
Zu Gottlieb Duttweiler hat der Verein für wirtschaftshistorische Studien Zürich in der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» im Jahr 2000 Band 72 neu herausgebracht. Weitere Informationen: www.pioniere.chBereits erschienen: Rudolf Sprüngli (Nr. 28), Brown Boveri (Nr. 29), Jakob Schmidheiny (Nr. 30), Henri Nestlé (Nr. 31), Sulzer (Nr. 32) Nächste Woche: Hoffmann-La Roche
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Die Firma heute
Die Migros ist das grösste Detailhandelsunternehmen der Schweiz. Neben den zehn regionalen Genossenschaften, der Globus-Gruppe und Ex Libris gehören zum Konglomerat etwa auch diverse Industrieunternehmen (Midor, Chocolat Frey etc.), Hotelplan, die Migrosbank, Migrol sowie die Klubschulen. Nach wie vor verkauft MIgros nach Duttweilers Grundsätzen keinen Alkohol und keine Tabakwaren. Das Unternehmen ist über das von Dutti initiierte Kulturprozent wichtigste private Kulturfördererin.
Herbert Bolliger ist seit Juli 2005 Chef der Migros. Im Geschäftsjahr 2005 erwirtschaftete die Migros einen Umsatz von 20,4 Mrd Fr. und einen Gruppengewinn von 154 Mio Fr. Mit mehr als 80000 Mitarbeitenden ist sie die grösste Arbeitgeberin im Land.
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Nachgefragt: «Dutti hat uns keine Dogmen hinterlassen»
Jules Kyburz,> ehemaliger Migros-Chef und Präsident der Gottlieb und Adele Duttweiler-Stiftung, über Gottlieb Duttweiler, genannt «Dutti».
Was ist von Gottlieb Duttweiler geblieben?
Jules Kyburz: Aus seinem Credo «Auf Dauer kann es mir nur gut gehen, wenn es allen gut geht» entstand der Gedanke der Genossenschaft und des Kulturprozentes. Davon geblieben ist eigentlich alles, allerdings den Veränderungen der Zeit und der Gesellschaft angepasst. Die Migros muss aber auch weiter-hin anders sein als alle andern: Einzigartig und unverwechsel-bar.
Welches ist Duttweilers grösste Pionierleistung?
Kyburz: Die Idee der Migros selbst, dokumentiert in den Statuten, Verträgen und Thesen. Duttweiler hat uns keine Dogmen hinterlassen, aber eine Fülle von Ideen und Gedanken, die uns immer wieder helfen, Brücken zur Zukunft zu schlagen.
Inwiefern spielt Dutti im heutigen Geschäftsalltag der Migros noch eine Rolle?
Kyburz: Im normalen Tagesgeschäft kaum mehr. In den Köpfen der Geschäftsleitungen und Verwaltungen lebt Dutti aber weiter und spielt noch immer eine Rolle bei wichtigen Beschlüssen. Als wir zum Beispiel vor neun Jahren Globus übernahmen, galt die Devise: Globus bleibt Globus. Die heutige junge und tüchtige Führungscrew muss alles daran setzen, dass die Migros die Migros bleibt.
Interview: Michael Zollinger