Blauer Zweireiher, perfekt geknüpfte, gelbe Krawatte, blitzblanke, schwarze Schuhe: Pierre-Marcel Revaz’ Outfit entspricht dem eines smarten Privatbankiers. Doch der 48-Jährige spielt in einem anderen Orchester: Er führt mit der Groupe Mutuel den fünftgrössten Krankenversicherer, der mit 900 Mitarbeitern 1,6 Milliarden Franken Umsatz macht. Dass der schillernde Ökonom im Sternzeichen des Löwen geboren ist, passt zum Lebenslauf: Er hat sich als Präsident und Generaldirektor zum Alleinherrscher eines Konglomerats gekrönt, das 16 Krankenkassen besitzt, Lebensversicherungen verkauft sowie Pensionskassengelder in der Höhe von 280 Millionen Franken betreut.

Revaz ist heute in der Romandie klar die Nummer eins. Mit der Ende 2000 erfolgten Übernahme der Caisse Vaudoise (CV) zählt sein Imperium 550 000 Krankenversicherte. Das ist für den Walliser kein Grund, sein aggressives Marketing aufzugeben. Er will vor allem in der Deutschschweiz weiterwachsen und nach der Swica auch die Concordia und die Visana überholen, um in ein bis zwei Jahren die Nummer drei der Branche zu werden.

Diesen Aufstieg verdankt er auch seinen umstrittenen Methoden. Keiner beherrscht das branchenübliche Intrigenspiel besser als Revaz. Wie man mit hemdsärmligen Methoden auf Kundenfang geht, hat er wohl einst beim Autobauer General Motors gelernt. An seine Vergangenheit erinnert seine Vorliebe für grosse Karossen: Revaz’ Dienstwagen ist ein silbergrauer Mercedes. Ganz Walliser, schätzt er zum Business-Lunch einen edlen Tropfen aus dem Bordelais.

So verwundert es nicht, dass Revaz die Idee zur Bildung der Groupe Mutuel 1987 während des «Vorstandsausflugs» auf einer Bistroterrasse in Orléans eingefallen ist. Zur Gründung kam es 1993. Die als Verein konstituierte Groupe Mutuel übernahm zentral die Administration der ihr angeschlossenen, aber juristisch eigenständigen Krankenversicherer. Eigentlich reine Briefkastenfirmen.

Da sich Revaz nicht durch Transparenz profiliert, ist sein Strickmuster zum Erfolg nicht einfach nachzuvollziehen. Zumal er sich nie gescheut hat, finanziell angeschlagene Unternehmen wie die Gewerkschaftskasse SKBH, die freiburgische Avenir oder die CV unter die Pranken zu nehmen. Um die geschrumpften Reserven in der Grundversicherung wieder auf die gesetzlich vorgeschriebene Höhe von 15 Prozent der jährlichen Prämieneinnahmen zu hieven, mussten die Waadtländer stark aufschlagen.

Das wird Revaz kaum rückgängig machen. Auch langjährige Kunden der SKBH oder der Avenir berappen für die identische Leistung in der obligatorischen Krankenversicherung mehr als neue Mutuel-Kunden. Die kostengünstigen, da in der Regel gesunden Kassenwechsler, werden der Versicherung mit der attraktivsten Prämie zugewiesen.

Das ist der Clou von Revaz’ Firmenstruktur: Da er im Gegensatz zu seinen Konkurrenten übernommene Versicherer nicht integriert, kann er deren Preisgefüge der jeweiligen Risikostruktur anpassen. Das verschafft ihm einen klaren Wettbewerbsvorteil: Hat eine Kasse in einer Region viele ältere, teure Versicherte, stellt er eine hohe Prämie, hat sie viele jüngere, eine tiefe. Den Medien und Anbietern von Internet-Prämienvergleichen stellt er nur die tiefste zu. Mit dieser «Referenzprämie» für die Grundversicherung seiner «Caisses d’attaques» spielt er den billigen Pierre.

«Hinter diesem strukturellen Vorteil steckt nichts Machiavellistisches», sagt er lapidar und umdribbelt die Kritik, dass er das Preisschild der anderen Mutuel-Kassen verdeckt. Jedenfalls: Konsumentenfreundlich ist das nicht. Denn der aktuelle Mutuel-Werbeslogan «Genug von hohen Prämien? Wir bieten attraktive Konditionen für Ihre Krankenversicherung» gilt für jeden dritten Kunden nicht, wie ein Prämienvergleich von Comparis.ch zeigt: In acht städtischen Prämienregionen sparen Familien mit zwei Kindern in der Grundversicherung bei einem Wechsel von der teuersten zur billigsten Mutuel-Kasse 2000 bis 3000 Franken.

Revaz behauptet: «63 Prozent aller Versicherten zahlen entweder die billigste Prämie oder eine, die nicht mehr als fünf bis sieben Prozent höher ist.» In der Deutschschweiz profitierten 43 Prozent in der Grundversicherung von der kompetitivsten Mutuel-Prämie. Ohne Berücksichtigung der Caisse Vaudoise hätten 83 Prozent der 123 000 Deutschschweizer Versicherten eine Prämie, die unter dem kantonalen Durchschnitt läge.

Obendrein tauscht Revaz die Referenzkassen immer wieder aus. So steuert er die Zahl der Versicherten, die von den attraktivsten Prämien pro Region profitieren. Denn für Neueinsteiger muss er Reserven bilden. Die Folge: Billige Kassen müssen ein Jahr später happig aufschlagen. Bei genauerem Hinsehen lässt sich dies auch bei der Groupe Mutuel beobachten. In Bern zum Beispiel brillierte die Universa 1999 mit einer Referenzprämie von 186.80 Franken. Wer nicht gewechselt hat, zahlt heute 210.80. Das sind 19 Franken oder 9,9 Prozent mehr pro Monat als für Avenir-Kunden. Deren Tarif beläuft sich auf 191.80 Franken. Oder ein Fall aus dem Thurgau: Wer dort 1999 zur Hermes gestossen ist, berappt heute 186.80 Franken. Das ist ein Aufschlag von 23,8 Prozent. Bei der aktuellen Referenzkasse Futura kostet die Grundversicherung dagegen nur 163.80 Franken.

Ein Kassen-Insider errechnete, dass alle Versicherten ohne Referenzprämie im Durchschnitt rund 20 Franken einsparen würden, wenn sie in die billigste Firma der Gruppe wechselten. Dann müsste Revaz, schätzt Richard Eisler von Comparis, sein Prämienvolumen um 100 bis 150 Millionen Franken erhöhen. Das wäre das Ende des Prämienwunders.

Gänzlich auszuschliessen ist das fatale Szenario nicht. «Wir lassen zurzeit abklären, ab wann Krankenversicherer, die ihre Administration von ein- und derselben Zentrale durchführen lassen, als Einheit zu betrachten sind», sagt Vizedirektor Fritz Britt vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV): «Geprüft wird auch, ob es rechtlich möglich ist, solche Gebilde zur Fusion zu zwingen.»

Zu Revaz’ speziellem Businessmodell gehört die mit der kleinen Zusatzversicherung «Global» kombinierte Offerte. Selbst dann, wenn jemand ausdrücklich nur eine Grundversicherung wünscht. Damit kann Revaz, wie andere auch, trefflich Risikoselektion betreiben, das heisst, kränkere Versicherte abweisen. Rund 80 Prozent der Mutuel-Kunden schlossen mindestens eine dieser meist überflüssigen, kleinen Zusatzversicherungen für ein paar Dutzend Franken pro Monat ab. Versicherungsspezialist Nicola Waldmeier vom VZ VermögensZentrum hält die Leistungen im Vergleich mit den zwölf grossen Kassen praktisch durchwegs für unterdurchschnittlich.

Unterdurchschnittlich ist auch die Transparenz der Rechnungslegung bei Mutuel. Auf Verlangen des BSV muss Revaz im Geschäftsbericht 2000 den Gesundheitszustand seiner einzelnen Kassen offen legen. Bis anhin hat Revaz dies dem BSV überlassen, das nur die Zahlen der Grundversicherung publiziert. Nun ist Revaz wie alle anderen Kassenchefs verpflichtet, die Resultate beider Sparten separat auszuweisen. Das wird spannend: Die Verluste der Groupe Mutuel im Jahr 2000 in der Grundversicherung sind mit 20 bis 30 Millionen Franken relativ hoch. Dank einem Gewinn von 30 bis 40 Millionen Franken mit den Zusatzversicherungen werde ein Ergebnis «von null bis 15 Millionen Franken» herausschauen, sagt Revaz. 1999 betrug der Gewinn noch 21, 1998 gar 24 Millionen.

Die schleichende Erosion der Gewinne könnte einer der Gründe sein, die Anfang 2000 zur Publikation einer Studie geführt haben, welche an einem Eckpfeiler des Krankenversicherungsgesetzes von 1996 rüttelt: Sie listet Argumente für die Aufhebung des Prämienausgleichs unter den Generationen auf. Kurz zuvor hatte Wirtschaftsminister Pascal Couchepin, einst Verwaltungsrat der Mutuelle Valaisanne, mit eben dieser Idee verblüfft, die für Senioren höhere Prämien als für 26- bis 45-Jährige zur Folge hätte. Polit-Beobachter erzählen, das Rezept stamme aus Revaz’ Küche – was dieser selbstverständlich dementiert.

Dabei würde Revaz von dieser neuen Finanzierung profitieren – der bis 2005 befristete Risikoausgleich würde dann nämlich obsolet, den Kassen mit jungen und meist billigen Versicherten ihren Konkurrenten mit vielen älteren und oft teureren Kunden bezahlen müssen. Bisher schaffte es Revaz zumindest, jede weitere Stärkung des Risikoausgleichs abzublocken. Auch innerhalb des Konkordats, wo Revaz zum Vizepräsidenten aufgestiegen ist, scheint man sich auf eine höchstens fünfjährige Verlängerung des Risikoausgleichs geeinigt zu haben: «Dafür diskutieren wir die Reorganisation der Finanzierung der Grundversicherung.»

Das ist typisch für Revaz: Mit seinem manchmal auch schlitzohrigen Verhalten setzt er seine Interessen inner- wie ausserhalb des Konkordats nicht selten durch. Allerdings provozieren seine Ränkespiele zunehmend Retourkutschen. So häufen sich auch im Wallis Gerüchte über die lockere Ausgabenpolitik des Mutuel-Königs. Die Behauptung, dass er 700 000 im Jahr verdiene, kontert er gelassen: «Transparenz ja. Neugier nein. Ich gebe keine Auskünfte über mein Einkommen.»

Er weiss: Solange er seinen Kassen für die Dienstleistungen der Groupe Mutuel in der Grundversicherung keine kostendeckenden Ansätze verrechnet, ist er kaum angreifbar. Für die Grundversicherung sei die Aufteilung der Verwaltungskosten günstig, bestätigt BSV-Vize Britt: «Dem Zusatzversicherungsgeschäft wird ein höherer Anteil belastet. Diese Praxis ist nicht zu beanstanden.»

Auch auf eine andere Praxis will Revaz nicht verzichten: Kleinbetrieben im Rhonetal wurde von der Walliser Kantonalbank (WKB) beim Abschluss von Krediten empfohlen, ihre Betriebspensionskasse bei der Walliser Vorsorge von WKB und Mutuel-Gruppe abzuschliessen. CSP-Grossrat Fredy Huber beteuert, dass dies für «gewisse KMUs» zur Bedingung gemacht worden sei und er Kreditverträge mit entsprechenden Vertragsklauseln eingesehen habe. Revaz hält dieses merkwürdige Konkurrenzverständnis für «normal». Auch Grossbanken strebten eine umfassende Kundenbeziehung an.

Bis anhin wurstelte sich das Raubein in der Schale des Gentleman erfolgreich nach oben. Nun gilt es für ihn, nicht abzustürzen. Seine wachsende Gegnerschaft sähe es mit Schadenfreude.

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