Die weissen Gipfel des Dom-Massivs glitzern in der Sonne. Henri Huber freut sich über den grandiosen Ausblick. Doch hier, auf fast 4000 Metern, im Schnee, angeseilt an einen Führer, spürt er plötzlich die Nähe des Todes. Atemnot und ein Engegefühl in der Brust versetzen ihn in Panik. Zunächst denkt der 46-Jährige, es liege an der Höhe oder den Strapazen der Bergtour. Er will sich nichts anmerken lassen und marschiert weiter. Doch dann verlassen ihn die Kräfte. Seine Frau verständigt per Handy die Rettungsflugwacht in Zermatt. Der Helikopter kann wegen des abschüssigen Geländes nicht landen, und der Mann muss wie Vieh, frei in der Luft schwebend, geborgen werden. Der Notarzt stellt schon auf dem Weg ins Spital die Diagnose: Herzinfarkt.

Henri Huber, der Gemeindepräsident von Köniz im Kanton Bern, ist sportlich, schlank und hat noch nie in seinem Leben Herzschmerzen gespürt. Eine halbe Schachtel Zigaretten am Tag und etwas Politikerstress sind seine einzigen Risikofaktoren für die Verengung der Herzkranzgefässe. Daran leiden immerhin rund 450 000 Schweizer. Ihnen droht ein ähnliches Schicksal wie Huber – auch ihr Pumporgan kann plötzlich wegen Sauerstoffmangel schlappmachen. Deshalb sterben 10 000 Menschen pro Jahr hier zu Lande. Jeder zweite Todesfall beruht auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In den Spitälern konnte mittlerweile durch bessere Therapiemöglichkeiten die Mortalität der Infarktpatienten von 30 auf unter 10 Prozent gesenkt werden. Doch der Tod ereilt ein Drittel der Patienten, noch bevor sie im Spital ankommen.

Auch Herzpatient Huber hätte auf dem Berg sterben können. Erst vier Stunden nach Beginn der Symptome landet er im Walliser Regionalspital und bekommt eine Infusion mit einem Enzym, das seine verstopften Herzkranzgefässe öffnen soll. «Je früher die Behandlung beginnt, desto mehr Herzmuskel können wir retten», sagt Bernhard Meier, Chef der Kardiologie am Inselspital in Bern. Die Therapie sollte eigentlich beginnen, schon bevor es überhaupt zum Infarkt kommt. «Viele leiden stillschweigend über Monate an Brustschmerzen – und gehen aus Angst vor einer ernsten Diagnose gar nicht zum Arzt», klagt Meier. Werden die Warnzeichen ignoriert, verschlechtert sich die Prognose. Durch eine gesündere Ernährung, mehr Bewegung sowie moderne Medikamente, die Cholesterin und Blutdruck regulieren, kann die Entwicklung der koronaren Herzkrankheit verhindert oder verlangsamt werden. Wenn die Gefässe kaum noch Blut in den Pumpmuskel durchlassen, können Kathetereingriffe oder Bypass-Operationen dafür sorgen, dass selbst malade Herzen brav bis ins Greisenalter schlagen.

Die «Managerkrankheit» gibt es gar nicht
Der klassische Herzpatient ist männlich, über 40 Jahre alt, übergewichtig, Raucher, gestresst und obendrein ein Sportmuffel. Mancher Manager passt perfekt zu dieser Beschreibung – trotzdem ist der Begriff «Managerkrankheit» ein längst überholter Mythos. «Die Gesundheitsstatistiken lassen keine Zweifel, dass sozial benachteiligte Menschen wesentlich höhere Risiken haben, Herzprobleme zu bekommen», sagt der Epidemiologe Matthias Bopp vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich. Personen mit niedriger Schulbildung seien seltener ernährungsbewusst, häufiger übergewichtig, weniger körperlich aktiv und öfter Raucher. So hat der einfache Arbeiter am Fliessband ein dreimal höheres Risiko, am Infarkt zu sterben, als der gleichaltrige Fabrikdirektor. Und dieser Trend kann sich verstärken, weil die neue Managergeneration vermehrt auf ihre körperliche Fitness achtet.

Doch nicht nur das Verhalten bezüglich der eigenen Gesundheit erklärt diese Unterschiede, sondern auch die Arten des Stresses, denen die Menschen bei der Arbeit ausgesetzt sind. «Wenn jemand Gestaltungsfreiraum hat und mit Spass bei der Sache ist, kann der Stress beflügeln und dem Herzen kaum etwas antun; ganz anders bei untergeordneten Arbeitern, die ständig unter dem Druck des Chefs leiden oder monotone Tätigkeiten absolvieren», erklärt Dieter Kissling, Direktor des Institutes für Arbeitsmedizin in Baden. Wer in leitender Position arbeitet, müsse sich viel stärker bewusst werden, dass er seine Mitarbeiter krank machen kann. Cholerische Vorgesetzte bringen ihre Untergebenen vielleicht sogar früher ins Grab. Auf jeden Fall verursacht der Stress bei der Arbeit hohe Verluste. Laut einer im vergangenen Jahr vorgestellten Studie des Seco kostet Stress die Schweiz jährlich rund 4,2 Milliarden Franken – 2,4 bedingt durch Arbeitsausfälle, 1,4 wegen Arztkosten und 0,4 in Form von Medikamenten. Gesundheitsökonomen schätzen den Schaden von betrieblichen Arbeitsausfallzeiten wegen der koronaren Herzkrankheit auf ungefähr 800 Millionen Franken.

Dass eine gequälte Seele zu Herzschmerz führt, wussten die Dichter schon immer. Und nicht nur Liebesleid, wie jetzt Wissenschaftler feststellten. Ein kürzlich veröffentlichter Artikel der Universitäten Zürich und San Diego beschreibt den Einfluss der Psyche auf die Blutgerinnung. Sowohl akute Stressereignisse wie ein Erdbeben, aber auch chronischer Stress im Arbeitsleben und Depressionen erhöhen im Blut die Faktoren, die es leichter zum Stocken bringen – was fatale Auswirkungen in den Herzkranzgefässen haben kann. «Wir beobachten im klinischen Alltag, dass Menschen mit Depressionen nach einem Infarkt eine deutlich schlechtere Prognose haben», berichtet der Kardiologe Georg Noll vom Universitätsspital Zürich. Auch Optimismus oder Pessimismus des Partners beeinflusse die Überlebensrate.

Die Arteriosklerose hat Geheimnisse
Manchmal verlieren selbst die Forscher den Überblick, welche Faktoren das schlagende Organ tatsächlich krank machen. Es gibt immer wieder Modetheorien über die schlimmsten Bösewichter. Wie zum Beispiel, dass die Chlamydien- oder Helicobacter-Bakterien bei der Entstehung der Arteriosklerose eine wichtige Rolle spielen. Diese Keime kannten die Ärzte zuvor hauptsächlich als Verursacher von Lungenentzündungen oder Magengeschwüren. Mittlerweile glauben nur noch wenige an den ursächlichen Zusammenhang mit Herzkrankheiten. Doch vor wenigen Wochen, an der Jahrestagung der European Society of Cardiology in Stockholm, wurde eine Studie vorgestellt, die Vorteile einer Behandlung mit Antibiotika bei Herzkranken zeigt. Wer das Medikament geschluckt hatte, reduzierte sein Risiko für weitere Herzattacken um 40 Prozent im Vergleich zu der Patientengruppe, die statt Antibiotikum ein Placebo erhalten hatte. «Es ist zu früh, sich über den Erfolg zu freuen, weil wir vielleicht hinterher mehr Patienten durch die Antibiotika-Resistenzen umbringen», warnt der Studienleiter Juan Carlos Kaski vom St. George’s Hospital in London. Erstaunlich war jedoch, dass die Antibiotika auch den Patienten halfen, bei denen gar keine Bakterien nachgewiesen worden waren.

Infektionen der Gefässwände hin oder her, an einigen Ursachen der Arteriosklerose zweifeln die Mediziner nicht mehr. «Erhöhtes Cholesterin, Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Rauchen und eine familiäre Disposition sind nebst dem Alter die wichtigsten Risikofaktoren», sagt Bernhard Meier vom Berner Inselspital, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie. Gefährdete Menschen sollten sich unbedingt untersuchen lassen.

Die Zeitbombe tickt von den ersten Veränderungen der Innenbeschichtung der Blutgefässe (Endothelzellen) an. Weisse Blutkörperchen dringen in die Wand der Arterien ein. Was sie dazu veranlasst, ist den Forschern unklar. Die Verteidigung gegen Bakterien schien bislang eine plausible Erklärung. Durch diesen mysteriösen Entzündungsprozess lagern sich an der Gefässwand dann andere Blutzellen und Cholesterin ab. «Es bildet sich ein regelrechtes Tropfsteinhöhlengebilde», erklärt der Kardiologe Georg Noll. «Erst wenn über 70 Prozent des Durchmessers verstopft sind, treten Brustschmerzen auf, und das Belastungs-EKG zeigt Auffälligkeiten.» Hauptsächlich zwei Mechanismen verursachen dann den Herzinfarkt: Die Endothelzellen lösen sich ab, und an der rauen Oberfläche bildet sich ein Gerinnsel. Oder die Cholesterin-Plaque reisst auf und verstopft so die Zufuhr von frischem Blut für den Herzmuskel.

Ein Infarkt in jungen Jahren ist oft schlimmer
Je früher im Leben die Herzkranzgefässe dicht machen, desto schlimmer die Konsequenz. «Bei älteren Menschen mit Verkalkungen hat sich das Blut im Laufe der Zeit gewisse Umgehungswege gesucht; wenn bei einem jüngeren die Blutversorgung an einer Stelle plötzlich unterbrochen wird, gibt es keine Umleitung, und ein grösserer Teil des Herzmuskels stirbt ab», erklärt Noll. Die dahinsiechenden Zellen verursachen Schmerzen, doch manchmal sind die Symptome nicht so eindeutig. Das Gehirn kennt die Alarmsignale aus dem Herzen gar nicht, weil von dort sonst nie eine Schmerzmeldung eintrifft. Fehlerhaft interpretiert das Denkorgan manchmal die Lokalisierung des defekten Organs: Der Arm tut weh.

Henri Huber spürt statt Schmerzen einen Druck auf der Brust, der ihn kaum atmen lässt. Erst das EKG schafft Klarheit: Infarkt der Vorderwand. Nach der Erstversorgung im Regionalspital wird er sofort ins Inselspital nach Bern geflogen. Die Ärzte handeln rasch. Im Schnellverfahren klären sie ihn über einen Herzkatheter auf. Dann liegt er unter sterilen Tüchern und spürt den Einstich in seiner rechten Leiste. «Auf dem Bildschirm konnte ich erkennen, wie sich der Katheter meinem Herzen näherte», erinnert sich Huber.

Sobald die Mediziner bei den Herzkranzgefässen ankommen, spritzen sie Kontrastmittel, um festzustellen, wo das Blut nicht mehr weiterkommt. Ist das verschlossene Gefäss geortet, blasen die Herzspezialisten einen kleinen Ballon an der Spitze des Katheters auf und drängen so die Verstopfung zur Seite. Im Medizinerjargon heisst dieser Eingriff Ballondilatation oder Angioplastie. Bei ungefähr 80 Prozent der Fälle setzen die Ärzte anschliessend, ebenfalls mit Hilfe des Katheters, hauchfeine Drahtgeflechte – so genannte Stents – in die gerade eröffnete Arterie, damit sie sich nicht wieder verschliesst.

Der Herzkatheter rettet vielen das Leben
Ballondilatationen wie bei Henri Huber finden in der Schweiz jährlich etwa 10 000-mal statt. Dreimal häufiger sind die Herzkatheteruntersuchungen ohne Angioplastie – nur zur Diagnostik von Engstellen der Herzkranzgefässe. Wenn nur noch ein Drittel des ursprünglichen Blutflusses durchkommt, verändert sich das Belastungs-EKG, oder Brustschmerzen, die so genannte Angina pectoris, treten auf. «Wir zögern nicht lange mit dieser Untersuchung, weil eine frühzeitige Diagnose das Leben verlängert», sagt der Kardiologe Bernhard Meier. In den USA werde der Herzkatheter sogar, bezogen auf die Bevölkerung, 40 Prozent häufiger eingesetzt. Nuklearmedizinische Verfahren, bei denen strahlende Substanzen die Herzdurchblutung signalisieren, seien grösstenteils überholt und durch einfachere Ultraschalluntersuchungen ersetzbar. Auf der Suche nach anderen Alternativen zum Herzkatheter scheint die Entwicklung in Richtung Computer- oder Magnetresonanztomografie zu gehen.

Noch ist allerdings der Herzkatheter die Standarduntersuchung – und an der wird ordentlich verdient. Der Eingriff kostet ungefähr 5000 Franken. Wenn dabei verstopfte Herzkranzgefässe eröffnet werden, steigt der Betrag sogar auf das Doppelte. «Finanzielle Gründe spielen durchaus eine Rolle, doch glaube ich nicht, dass deshalb Gesunde unnötigerweise untersucht werden», meint Bernhard Meier. Die genaue Diagnose der Engestellen ist sehr wichtig, denn davon hängt die Entscheidung für die Behandlungsmethoden ab: Medikamente, Angioplastie oder Bypass-Operation. Seit kurzem ist bekannt, dass klassische Blutdrucksenker wie Captopril auch eine hemmende Wirkung auf die Arteriosklerose haben; schon länger hingegen wissen die Mediziner, dass Acetylsalicylsäure (Aspirin) das Zusammenklumpen der Blutplättchen verhindert und deshalb vor einem Infarkt schützt.

Die Pillen gegen das Cholesterin wurden durch den Skandal um Lipobay über Nacht berühmt und berüchtigt. «Der rasche Rückzug des Medikamentes war ungerechtfertigt», meint Thomas F. Lüscher, Chefkardiologe vom Universitätsspital Zürich. Es hätte vermutlich wesentlich mehr Menschen das Leben gerettet als durch Nebenwirkungen umgebracht. Das Problem des Herstellers Bayer: Die Konkurrenzprodukte sind wohl weniger gefährlich. Gäbe es keine Behandlungsalternativen zu Lipobay, würde sich niemand um die Risiken scheren. So wie im Fall von Viagra. Die Potenzpille hat schon Hunderte in den Liebestod gerissen – aber niemand denkt daran, sie aus dem Handel zu nehmen. Vor allem bei gleichzeitiger Einnahme von Nitraten wird das pharmakologische Aphrodisiakum lebensgefährlich. Auch ohne Unterstützung durch die blaue Pille fürchtet mancher Herzkranke den Beischlaf. Doch als Grundregel gilt: Wer Treppen beschwerdefrei bis in den zweiten Stock geht, ist fit genug für Sex.

Die Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit nach einem Infarkt schlägt meist schwer auf die Stimmung. «Als ich wieder aufstehen durfte, fühlte ich mich wie 90 Jahre alt», sagt Henri Huber. Doch wenige Wochen später war der Politiker wieder im Einsatz; jetzt steht ihm ein Wahlkampf für eine vierte Amtsperiode bevor. Seiner Herzkrankheit hat er ein musikalisches Comeback zu verdanken. Zusammen mit Freunden aus seiner vor zwanzig Jahren bekannten Band Ocean hat Huber jetzt seinen neuen Song «Mis Härz» mit grossem Erfolg uraufgeführt. Darin singt er: «Und bis zur Ewigkeit es letschts Mal tuesch schlah …»

* Der Autor Achim Wüsthof ist Arzt und Medizinjournalist in Hamburg.
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