Bis zu seiner Pensionierung passte Hans-Ulrich Singer perfekt in das Klischee-Bild einer grauen Maus. Der Verwalter institutioneller Vorsorgemilliarden zählte zu jener unscheinbaren Spezies, die in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft kaum jemals auffällt – weder positiv noch negativ. Das Rampenlicht mied der Finanzprofi mit dem Habitus eines Landpfarrers zeit seines Lebens aus Prinzip. Unter Kollegen galt Singer als ebenso höflicher wie diskreter Schaffer; als einer, der auch privat so gut wie nie über die Stränge schlug. Kurz: ein Typ, über den es nicht viel zu berichten gab, ausser dass er über immense Anlagesummen verfügte und somit – rein kapitalmässig betrachtet – ausgesprochen einflussreich war.
1960 als Buchhalter zu Siemens gestossen, war Singer in den achtziger Jahren zum Pensionskassenchef der Schweizer Siemens-Gesellschaften aufgestiegen, wo er für Vermögensanlagen in Milliardenhöhe zuständig war. Kein Wunder, rollte ihm Financier Martin Ebner, der ein untrügliches Gespür für Typen wie Singer hatte, den roten Teppich aus. Während Jahren geschäftete der Siemens-Pensionskassenverwalter denn auch mit der BZ Bank und war als anonymer Steigbügelhalter mit von der Partie, wenn der Shareholder-Aktivist eine seiner gefürchteten Attacken auf ein vermeintlich unterbewertetes Schweizer Traditionsunternehmen ritt.
Freundschaftliche Beziehungen unterhielt Singer auch zum Anlagecrack Andreas Pawlik, der seinerzeit bei der Handelsbank NatWest (später Coutts) für die gedeihliche Vermehrung von Vorsorgemillionen aus der Siemens-PK zuständig war. Innerhalb kurzer Zeit habe Pawlik das ihm zur Verfügung gestellte Kapital «mehr als verzehnfacht», rühmt Singer im Rückblick dessen goldenes Händchen. Das Wunderkind Pawlik mit seinem Flair für Ferraris, schnittige Motorboote und luxuriöses Wohnen machte sich als Vermögensverwalter alsbald selbständig, beteiligte sich an der Swissfirst-Vorgängerfirma Zürich Financial Products (ZFP) und sorgte dafür, dass Singer 1997 dort in den Verwaltungsrat gewählt wurde, wo dieser – auch nach Börsengang und Umbenennung in Swissfirst – insgesamt sieben Jahre lang verblieb.
Im März 2000 ging der Siemens-Veteran nach vierzigjähriger Betriebszugehörigkeit in Pension. Zwei Monate später, am 24. Mai 2000, verabschiedet sich Singer frühmorgens in seinem Haus in Wettingen von seiner Frau; angeblich um für ein paar Tage nach München zu fahren und dort alten Siemens-Kollegen Adieu zu sagen. Brigitte Singer, nichts ahnend, erreicht tags darauf folgender Abschiedsbrief: «Sehr geehrte Frau Singer», heisst es darin. «Sie kennen meinen Namen vielleicht noch als Schulfreund und Anwalt Ihres Ehemannes Hans-Ulrich. Herr Singer hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass er nach seiner Auslandreise nicht mehr in die Schweiz zurückkehren wird.» Die Einwohnerkontrolle in Wettingen wird ein paar Tage später von Singer benachrichtigt: «Ich zeige Ihnen hiermit an, dass ich meinen Wohnsitz aufgegeben habe und mit vorerst unbekanntem Ziel ins Ausland verzogen bin.»
Fort, weg, untergetaucht. Was war passiert und weshalb dieser Abgang? In einem Coiffeursalon im Zürcher Seefeld hatte Singer, der sich ein Leben lang mit drögen Kursgrafiken und Performance Sheets hatte herumschlagen müssen, die Bekanntschaft einer Brasilianerin gemacht. Er hatte sich bis über beide Ohren verliebt und war mit der dunkelhäutigen Dame, ohne seine Ehefrau vorgängig darüber ins Bild zu setzen, ins ferne Brasilien durchgebrannt.
Während Monaten blieb Singer wie vom Erdboden verschluckt. Die sitzen gelassene Gattin fiel derweil aus allen Wolken. Die Hausfrau und Mutter von drei gemeinsamen, inzwischen erwachsenen Kindern belastet ihren Exmann im Rückblick schwer. Zu verlieren, so scheint es, hat sie heute nichts mehr. Hans-Ulrich Singer habe sich in Geleisen bewegt, die «nicht immer legal» waren, sagt die Frau, die fünfunddreissig Jahre lang an dessen Seite gelebt hat. Verschiedentlich habe er etwa «Schwarzgeld aus Deutschland» in Empfang genommen und auf Schweizer Nummernkonti parkiert. An Ostschweizer Autobahnraststätten oder in Shoppingcentern im Raume Winterthur habe ihr Exgatte seine Mittelsmänner zu diesem Zweck getroffen. Auch von «Goldschmuggel», mysteriösen «Pipeline-Geschäften» und «vorgetäuschten Geschäftsreisen», etwa nach Südostasien, ist gesprächsweise die Rede. Obwohl Singer bei Siemens tagtäglich mit Milliardenbeträgen zu Gang war und dafür mit Sicherheit auch ordentlich entlohnt wurde, habe er privat «immer den armen Mann gespielt», beteuert Brigitte Singer. «Er hat mich immer belogen.»
Offiziell lebt Hans-Ulrich Singer heute in Camboinhas-Niterói in der Nähe von Rio de Janeiro. Auf die Unterstellungen seiner Exfrau reagiert er mit bemerkenswerter Nonchalance: Soweit er sich erinnern könne, gibt er BILANZ zu Protokoll, habe er während seiner Aktivzeit «höchstens einmal» Gelder unsicherer Herkunft entgegengenommen. «Es könnte sein, dass es Schwarzgeld war», meint er dazu völlig ungerührt. Ohne erkennbare Regung stellt er sich auch der sehr persönlichen Frage, warum er seine Frau nach so langer Zeit von einem Tag auf den anderen verlassen habe. «Wenn ich nur vernünftig mit ihr hätte reden können», sagt er. «Aber sie wurde immer emotional.»
Dass die Metropole am Zuckerhut ihrem Ruf als heisses Pflaster gerecht wird, musste der Pensionskässeler im Unruhestand inzwischen schmerzhaft feststellen. Nach einem Raubüberfall zieht es ihn mittlerweile wieder vermehrt nach Europa zurück. Dazu trägt auch sein weit gespanntes Beziehungsnetz bei – Kontakte innerhalb der Schweizer Finanzszene, die Singer zum Teil bis heute pflegt. Bis im Mai 2004 sass er im VR der Swissfirst in Zug und unterhielt – wie es im Fall von Mandatsträgern und wichtigen Kunden offenbar üblich ist – bei der gleichnamigen Zürcher Bank auch ein persönliches Konto. «Alle grossen Kunden führen bei der Swissfirst ihr eigenes Konto», bestätigt ein ausgeschiedenes Kadermitglied. «Die meisten davon offshore.» Seit Singers Demission laufen die Kontakte bei Siemens über Roland Rümmeli, den jener 1989 bei der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG) abgeworben und später zu seiner rechten Hand gemacht hat. In Zusammenhang mit der umstrittenen Swissfirst/Bellevue-Transaktion ist Rümmeli in die Schlagzeilen geraten, weil er dem CEO der Swissfirst, Thomas Matter, im Vorfeld 390 000 Swissfirst-Aktien aus dem Portefeuille der Siemens-PK andiente, was weit mehr ist, als jeder andere PK-Verwalter zu offerieren hatte.
Auch bei der Finanzgesellschaft Accuro mit Sitz in Zug, die aus der milliardenschweren Siemens Beteiligungen AG hervorgegangen ist, sass Singer bis vor zwei Jahren im VR. Als Hauptaktionär der Vermögensverwaltungsgesellschaft mit potenter Klientel figuriert der Ex-GC-Goalie Roland Inderbitzin. Laut Eigenwerbung handelt es sich bei Accuro um einen «Dienstleister für institutionelle Kunden», der die ihm zur Verfügung gestellten Mittel «global aktiv» investiert. Ein Kenner der PK-Szene sieht in dieser Gesellschaft derweil eher eine «Spielwiese für unterbeschäftigte Vorsorgemanager». So ist etwa der Leiter Kapitalanlagen beim Pharmariesen Novartis, André Ludin, eng mit der Firma verbandelt, zeichnet Ludin dort unter anderem doch für die «Strategieüberwachung» verantwortlich. Bis dato amtet der Verwalter eines Multimilliardenportefeuilles als VR-Präsident der Accuro-Dachgesellschaft GAC Beteiligungen in Zug, möchte sich an der kommenden GV aber von diesem heiklen Posten beurlauben lassen. Man habe beschlossen, die Zahl der Verwaltungsräte zu reduzieren, begründet Accuro-Geschäftsführer Roger Zulliger den hastigen Rückzug. Im Übrigen könne der Pharma-Manager «sein privates Geld investieren, wo er will», bemerkt Zulliger, der zeitgleich mit Singer in der Finanzabteilung von Siemens gewirkt hat.
«Beziehungen sind in der Schweiz das A und O», bekräftigt Singer. In einem Appartementhaus in Wollerau SZ hat sich der 68-jährige Finanznetzwerker inzwischen eine hübsche Sechseinhalbzimmerwohnung als diskretes Pied-à-terre zugelegt. Als der Scheidungsanwalt seiner Frau dahinterkam, überschrieb er die Immobilie kurzerhand einer ihm nahe stehenden Gesellschaft, die sich heute in Liquidation befindet. Dem Schweizer Fiskus will Singer nach eigenem Bekunden keinen Rappen mehr abliefern, und in Brasilien – seinem offiziellen Wohnsitz – versteuert er auf Grund der Rechtslage ohnehin keinen Rappen «Ich habe genügend Steuern bezahlt in meinem Leben», sagt er.
Im Frühjahr und im Herbst zieht es Singer jeweils nach Mallorca. In einer Luxusresidenz im Südwesten der Insel, die über zwei nahe gelegene 18-Loch-Golfplätze verfügt, nennt der rüstige Pensionär zwei Appartements mit Marmorbädern und videokontrolliertem Eingang sein Eigen. «Für jene, die den idealen Platz suchen, um das gute Leben zu geniessen, verbindet La Colina einfach alles», heisst es im Prospekt der Anlage. «Eine hervorragende, zukunftsorientierte Geldanlage und eine ideale Zuflucht vor den Anforderungen des modernen Lebens.» Und damit es Singer auf Mallorca nicht zu einsam wird: Zwei Türen weiter logiert der Accuro-Hauptaktionär Roland Inderbitzin.
Obwohl die Eheleute inzwischen rechtskräftig geschieden sind und Brigitte Singer mit Vermögenswerten in Höhe von 3,5 Millionen Franken – darunter das Wohnhaus der Familie in Wettingen – abgefunden wurde, kann diese nach dem, was geschehen ist, und bei allem, was sie heute weiss, nur noch schwer an Gerechtigkeit glauben. Mit Sicherheit habe ihr Exmann irgendwo noch einen happigen Sparbatzen gebunkert, vermutet die Geschiedene. Etwa auf einem geheimen Nummernkonto. «Hans-Ulrich ist der perfekte Schauspieler», sagt sie. «Er ist verschlossen und redet nicht viel. Vor allem nicht über Geld.»