Das Taxi holpert über einen schmalen Pfad. Die Löcher im Boden sind riesig. Die Äste der meterhohen Büsche streifen die Flanken des Wagens. Als der Fahrer zum dritten Mal falsch abbiegt und das Taxi im Sand stecken bleibt, beginnt er zu fluchen. Eine richtige Strasse ist das nicht, in dieser Ecke von Martha’s Vineyard, einer der wohl schönsten und bekanntesten Inseln der USA, östlich von Boston. Kein Mensch erwartet solche Trampelpfade auf jenem Flecken Erde, wo alle hundert Meter ein Multimillionär wohnt: die Kennedys, die Schauspieler Michael J. Fox und Tom Hanks, die Sänger Billy Joel und Diana Ross, um nur die bekanntesten zu nennen.

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Dann lichtet sich endlich das Buschwerk, und eine Villa taucht auf, nur ein paar Meter vom Meer entfernt. Ein kleiner, grauhaariger Mann mit tiefbraun gegerbtem Gesicht und leicht vorgebeugten Schultern steht auf der Veranda: Hansjörg Wyss, das Phantom der Schweizer Wirtschaft, der Mann, der so scheu ist, dass er in 25 Jahren erst zwei Interviews gegeben hat, der öffentliche Auftritte tunlichst meidet und der letztes Jahr mit Papier und Schere eigenhändig dafür gesorgt hat, dass sein Foto aus dem Entwurf des Jahresberichts verschwand. Dabei hat er eine erstaunliche Karriere hinter sich.

Aus einfachen Verhältnissen stammend, baute Wyss innerhalb von 25 Jahren ein 13 Milliarden Franken schweres Unternehmen auf: die Synthes-Stratec, Herstellerin von Operationswerkzeugen, Platten und Schrauben für Frakturbehandlungen. Bis heute ist der 67-Jährige mit einem Aktienanteil von 58 Prozent Alleinherrscher im Knochenschlosser-Imperium geblieben.

Diesen bruchlosen Aufstieg verdankt er der Zusammenarbeit mit der AO-Stiftung (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese), die vor 45 Jahren ein neues Verfahren zur Behandlung von Knochenbrüchen entwickelt hat (siehe «Das A und O der Chirurgie» auf Seite 66). Als Lizenznehmer der AO-Stiftung darf Wyss deren Produkte in den USA vertreiben – eine Lizenz zum Gelddrucken.

Hansjörg Wyss: vom Ingenieur zum Unternehmer
1959 ETH-Abschluss als Bauingenieur.


1959–1963 Verantwortlich bei Chrysler, Genf, für den Aufbau von Montagewerken in der Türkei, auf den Philippinen und in Pakistan.


1963–1965 MBA an der Harvard Business School, Boston.


1967–1969 Saniert erfolgreich das schwedische Textilunternehmen Lapidus.


1969–1976 Mitglied der Generaldirektion Europa beim Chemieunternehmen Monsanto in Brüssel. Verantwortlich für zwei Drittel der Umsätze der Faserproduktion in Europa.


1976 Überstellt für Martin Allgöwer einen Flieger von den USA in die Schweiz und kommt dadurch in Kontakt mit der AO-Stiftung.


1977 Eintritt bei Synthes in den USA als Direktor.


1979 Synthes beginnt selbst zu produzieren und ist unabhängig vom Lieferanten Straumann. Bau der Produktionsanlage in Colorado.


80er-Jahre Die Ärzte in den USA vertrauen der neuen chirurgischen Methode der AO-Stiftung zu wenig. Wyss organisiert deshalb verstärkt Ausbildungsseminare mit AO-Chirurgen in den USA.


1987 Die sieben Gründer (Maurice Müller, Martin Allgöwer und weitere Professoren aus der AO-Stiftung) verkaufen ihre Synthes-Anteile für rund 54 Millionen Dollar an Wyss. Er wird Alleineigentümer.


1999 Übernahme der börsenkotierten Stratec, Oberdorf BL. Der Aktionsradius des neuen Unternehmens Synthes-Stratec erweitert sich dadurch von den USA auf Lateinamerika und Europa.


2003 Übernahme von Mathys, Bettlach, für 1,5 Milliarden Franken. Mathys’
Absatzmärkte umfassen die osteuropäischen Länder, Australien und Japan. Synthes-Stratec ist damit zum globalen Marktführer geworden.

Damit nicht genug. In einem Übernahmefeldzug schnappte er sich innerhalb der letzten fünf Jahre auch die anderen zwei Schweizer Lizenznehmer: 1999 das börsenkotierte Unternehmen Stratec in Oberdorf BL. Dadurch kam Synthes – nun neu als Synthes-Stratec – an die Börse. Der zweite Schlag folgte im August dieses Jahres mit dem Kauf von Mathys. Synthes-Stratec wird durch diesen Schulterschluss zum weltweit agierenden Unternehmen.

Wyss sitzt mit verschränkten Armen in seinem Stuhl auf der Veranda. Seine Stirn ist in Falten gelegt. Für einmal muss er Fragen beantworten, und es scheint ihm nicht zu behagen. «Über meine Vergangenheit zu reden, finde ich langweilig. Fragen Sie mich doch, was ich heute mache, nach meinen Stiftungen zum Beispiel.» Sein Tonfall ist fordernd. Man merkt, dass er es gewohnt ist, zu regieren.

«Es heisst, Sie hätten etwas zu verbergen, Herr Wyss, da Sie nie ein Interview geben.»

«Absolut nicht», antwortet er und verzieht dabei die Mundwinkel. «Man kann über spannendere Dinge reden als über das Geschäft.» Er versucht gar nicht erst, den Missmut zu unterdrücken.

Seine Gegner behaupten, er halte sich bedeckt, weil er auf Kosten einer Stiftung reich geworden sei. Die Freunde argumentieren, er sei öffentlichkeitsscheu und habe grosse Angst davor, nicht mehr unerkannt durch die Schweiz reisen zu können. In der Tat tut er alles, um nicht aufzufallen. Keine Bodyguards, keine Limousinen, keine Haushälterin. Nur seine blonde, vermutlich 15 Jahre jüngere Lebensgefährtin, eine Laborassistentin, späht ab und zu aus dem Fenster der imposanten, aber keineswegs prunkvollen Villa. Von seiner amerikanischen Gattin ist Wyss seit fünf Jahren geschieden. Sie dürfte dadurch zur Multimillionärin geworden sein. Die 30-jährige Tochter, eine Skilehrerin, ist in den USA verheiratet.

Kommt Wyss in die Schweiz, kutschiert er mit seinem zehn Jahre alten Subaru umher oder nimmt ökologisch korrekt den Zug. «Wenn Sie mit ihm essen gehen, ist es unwichtig, ob Sie eine Beiz oder ein Fünfsternelokal auswählen» , sagt Cyrill Zimmermann, Analyst bei der Investmentgesellschaft Adamant. «Wichtig ist nur, dass ein Tennisplatz in der Nähe ist.»

Die ersten Wolken ziehen am Himmel auf. Zwanzig Meter neben dem Haus von Wyss spazieren ein paar Touristen an den Strand und schauen interessiert herüber.

«Der CEO von Ihrem Konkurrenten Stryker hat letztes Jahr ein Gehalt von 6,9 Millionen Dollar bezogen. Sie haben am Rande Ihrer Pressekonferenz vom März erwähnt, dass Sie letztes Jahr nur rund 500 000 Dollar Lohn bezogen haben. Warum nicht mehr?»

«Mehr ist ein CEO nicht wert. Man soll sich selbst nicht überschätzen. Alles, was ein CEO darüber hinaus verdient, ist eine Frechheit gegenüber den Mitarbeitern und den Aktionären.»

Darben muss er deshalb nicht, fliessen doch seit 1999 jedes Jahr rund 44 Millionen Franken Dividenden in seine Taschen. Wyss, ein «erfolgreicher Neidvermeider», wie ihn ein Freund nennt? In der Tat. Den Luxus, den er sich gönnt, kennen die wenigsten: die zwei Cessna-Flugzeuge im Wert von über 30 Millionen Franken, die Kunstsammlung von Malern des 20. Jahrhunderts oder die teure Spielzeugeisenbahn, die auf rund 30 Quadratmetern neben dem Haus aufgestellt ist.

Seine Bodenständigkeit ist in seiner Herkunft zu suchen, sagen seine Freunde. Wyss wuchs zusammen mit den zwei jüngeren Schwestern im Weissensteinquartier auf, einem Eisenbahnerquartier Berns. Fünf Personen drängten sich in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Sein Vater arbeitete zeit seines Lebens als Verkäufer von Rechenmaschinen, mehr interessiert an Kunst und Kultur als an einem guten Einkommen. Die Mutter stammte aus einer Literatenfamilie. Der Aussenseiterstatus im Viertel wurde grösser, als die Kinder als Einzige weitherum das Gymnasium besuchten. «In der Schule war der Hansjörg ein Minimalist», erinnert sich seine Schwester Hedi Wyss. «Kein Wunder, bei der vielen Zeit, die er mit Sport verbrachte.» Um immer die neusten Ski und Tennisschläger kaufen zu können, arbeitete er nebenbei als Pöstler, Bauarbeiter, Sportverkäufer und Sportjournalist.

Maurice Müller (85)
Gegenspieler


Maurice Müller, charismatischer Gründer der AO-Stiftung, kritisierte stets Wyss’ unternehmerische Entscheidungen und versuchte, auf sie Einfluss zu nehmen. Die Erfolge, die Wyss prognostizierte, trafen lange Zeit nicht ein, weshalb Müller 1980 im Verwaltungsrat dafür plädierte, Wyss zu entlassen. Der Konflikt eskalierte, weil der starke Einfluss der Lizenznehmer Müller störte. Die Stiftung diene der Allgemeinheit und nicht dazu, Industrielle reich zu machen. Aus Protest trat Müller aus der AO-Stiftung aus.

Seit 27 Jahren lebt Wyss in den USA. Totzdem ist er immer ein Berner Bauer geblieben: schroff, schrullig und etwas ungehobelt. «Es gibt Tage, an denen er durch die Firma rennt, ohne den Mund aufzumachen. Und dann gibt es Tage, da spricht er jeden Mitarbeiter in seinem schweizerisch gefärbten Englisch an. Das haben viele gern an ihm», erzählt Rolf Soiron, Verwaltungsrat von Synthes-Stratec und VR-Präsident bei Holcim und Nobel Biocare.

Wyss ist aufgestanden und holt zwei Gläser Wasser. Er möge keinen Alkohol, sagt er und wechselt wieder schlagartig das Thema. «Ich bin ja nicht mehr aktiv im Unternehmen engagiert, höchstens eine Stunde am Tag.» Er sagt dies so überzeugend, dass man es ihm fast abnimmt. Wyss legt es darauf an, unterschätzt zu werden.

«In Wirklichkeit weiss er über alles Bescheid, was im Unternehmen vorgeht», erzählt ein ehemaliger Mitarbeiter. Wyss ist besessen von der Medizinaltechnik. Doch zugeben würde er das nie. Zu Beginn seiner Zeit bei Synthes wollte er vor lauter Begeisterung noch Medizin studieren. «Er ist der einzige CEO, den ich kenne, der bei so einer Unternehmensgrösse noch alle Produkte kennt, und bei Synthes-Stratec sind es um die 12 000 Artikel», weiss Walter Meyer, mit dem Wyss lange Zeit im Verwaltungsrat von BB Medtech sass. «Vor einiger Zeit ist Wyss beim Mountain-Biking gestürzt. Ihm wurde eine Synthes-Schraube eingesetzt. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er mit dem Chirurgen darüber diskutiert hätte, wie es richtig geht.»

Denn Wyss könnte selbst sein bester Kunde sein, bei all den Sportarten, die er betreibt: im Sommer Tennis, Marathonrennen und Klettern, im Winter Langlaufen und Skifahren. Zurzeit trainiert er für eine Überlebenswoche im Grand Canyon.

Martin Allgöwer (86)
Förderer


Martin Allgöwer war für Wyss stets ein loyaler, väterlicher Freund. Beide verband die Freude am Fliegen. Von «fliegenden Bomben» sprach Allgöwer, als sie beide Ende der Siebzigerjahre von Basel in die USA flogen und das Flugzeug bis oben mit Benzinkanistern gefüllt war. Sein rhetorisches und soziales Talent vermochte immer wieder zwischen Wyss und Müller zu vermitteln. Allgöwer machte Wyss auch mit den wichtigsten Professoren bekannt, mit denen dieser viele Freundschaften schloss.

«Seine Freizeit verbringt er gern mit Ärzten», erzählt Verwaltungsrat Rolf Soiron. «Wyss ist keiner, der am Abend abschaltet, um nur noch über Kunst oder Politik zu sprechen.» Sogar im Urlaub diskutiert er noch mit Chirurgen darüber, welche Eigenschaften am neuen Implantat verbessert werden könnten. Auf seinen Reisen macht er Abstecher zum nächsten Krankenhaus, um sich über die neuste Produktanwendung oder seine Aussendienstleute zu informieren. Seine Konkurrenten zollen ihm Respekt. Thomas Straumann, Gründer der Firma Medartis und Mehrheitseigentümer bei Straumann, sagt: «Er ist ein intelligenter Geschäftsmann, der zukunftsgerichtet denkt.»

Wyss ist ein Macher, ein Stratege mit einem Hang zum Chaotischen. «Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, mit ihm eine strukturierte Traktandenliste durchzugehen», erzählt einer seiner Verwaltungsräte. Und er lässt sich nicht in die Karten schauen. «Bei wirklich essenziellen, langfristigen Fragen weiss man lange nicht, was er wirklich will», sagt Soiron. Deshalb bezeichnen ihn viele seiner Feinde als Falschspieler. Mehr als ein halbes Jahr dauerten die Übernahmeverhandlungen mit Mathys. Dennoch wussten auch seine engsten Mitarbeiter und Freunde die ganze Zeit nichts davon.

Anderseits hat Wyss im Laufe der Zeit ein ausgeklügeltes Informationsnetz um sich herum aufgebaut. Vertraute in allen neuralgisch wichtigen Positionen garantieren ihm die Kontrolle. 1980, als AO-Stiftungspräsident Maurice Müller Wyss wegen ausbleibender Erfolge aus dem Unternehmen boxen wollte, rettete ihm dieses Netz den Kopf: Da er vorher von Müllers Plänen Wind bekommen hatte, konnte er rechtzeitig die Synthes-Verwaltungsräte auf seine Seite ziehen.

Innerhalb des Unternehmens führt Wyss mit eiserner Hand Regie. Zweimal in seinem Leben bugsierte er Firmen aus den roten Zahlen. In den Achtzigerjahren schaffte er den Tournaround bei Synthes. Bereits 1968 holte er sich als Direktor beim schwedischen Textilunternehmen Lapidus die ersten Lorbeeren. Ungeachtet der Kündigungsdrohungen mehrerer Manager verkaufte er den firmeneigenen Rolls-Royce. Für das Geld orderte er neue Strickmaschinen und liess, wiederum entgegen allen Protesten, Polysterkleider statt Wollkleider fertigen. Er bekam Recht: Diese Materialien lagen voll im Trend.

Für Umwelt und Forschung
Wyss, der Stifter


Wir haben so viele reiche Leute in der Schweiz. Die sollten viel mehr Verantwortung für die Allgemeinheit übernehmen», sagt Hansjörg Wyss. «Die Tradition der Philanthropie gibt es hier fast nicht mehr, im Gegensatz zu den USA. Dort finanzieren Millionäre zum Beispiel die Metropolitan Opera in New York. Das sollte beim Zürcher Opernhaus auch so sein.»


Rund 14 Prozent seines Vermögens von schätzungsweise sieben Milliarden Franken hat Wyss gemeinnützigen Zwecken anvertraut. Vor sieben Jahren gründete er zwei Stiftungen in den USA mit einem Stiftungsvermögen von heute einer Milliarde Dollar: die Wyss Foundation zur Unterstützung von Umwelt- und sozialen Projekten sowie die AO Medi-cal Foundation, die universitäre Lehrstühle und Forschungen unterstützt. Daneben ist er Verwaltungsratspräsident der SUWA (Southern Utah Wilderness Alliance). Diese Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, die Canyons in Utah zu schützen. Ebenso sitzt er im Aufsichtsrat der Wilderness Society, der grössten Umweltorganisation der USA. Dieser Verein kämpft für den Schutz der amerikanischen Naturparks und für die Schaffung neuer Reservate.

Genauso schnell, wie er das Unternehmen sanierte, verschwand er auch wieder, als er sah, dass die Textilproduktion auf Grund der hohen Lohnkosten in Europa zunehmend unter Druck geriet. Mitgenommen aus dem hohen Norden hat er ein Flugbrevet.

Es ist kalt und windig geworden auf der Veranda. Wyss sitzt noch immer in seinen kurzen Hosen da. «Dort drüben», sagt er und zeigt auf einen Punkt auf der anderen Seite der Bucht, «wohnen die Kennedys.» Aber er habe keinen Kontakt mit der Highsociety, weder hier noch in der Schweiz, wo er ein Chalet in Lauenen bei Gstaad besitzt.

Was denn das Wichtigste gewesen sei, um erfolgreich zu werden. Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Glück und gute Freunde, die mich förderten.»

Zu diesen Förderern zählt Martin Allgöwer, ein brillanter Chirurg und gleichzeitig Mitbegründer der AO-Stiftung. Per Zufall hörte Allgöwer, dass Wyss nebenbei mit Flugzeugen handelte, und kaufte über ihn 1975 eine Cessna. Bei der Überstellung am Flughafen Bern sahen sich die beiden zum ersten Mal. «Mir gefiel der dynamische, weit gereiste Wyss, auch wenn er beim Fliegen immer der Bessere sein musste», erinnert sich Allgöwer. Er lud Wyss zu einer Veranstaltung der AO-Stiftung ein, um ihn für seine Firma Synthes in den USA zu gewinnen.

Im Forschungszentrum in Davos traf Wyss 1976 zum ersten Mal auf Maurice Müller, der vor hundert Chirurgen aus aller Herren Ländern seine neue Technik zur Behandlung von Knochenbrüchen vorführte. «Crazy swiss surgeons», raunte einer Wyss ins Ohr: Sie sind verrückt, diese Schweizer Chirurgen. Viele hielten es für eine Risikooperation, eine geschlossene Fraktur zu öffnen, um danach Platten und Schrauben einzusetzen. Sie hätte in einer Amputation des Gliedes oder gar im Tod des Patienten enden können. Standard war nun mal der gute alte Gipsverband.

Die Veranstaltung faszinierte Wyss. Doch Synthes USA war stark verschuldet und besass keine Produktionslizenz. «Meine Euphorie hielt sich deshalb in Grenzen», erinnert sich Wyss. Allgöwer und Müller willigten schliesslich ein, ihm für 300 000 Franken einen Anteil von 15 Prozent an Synthes USA zu verkaufen. «Das entsprach einem kleinen Teil dessen, was wir drei Jahre zuvor bezahlt hatten», sagt Martin Allgöwer. Für Wyss war das ein Glücksfall.

Viele Hundert Produkte entwickelte Müller zuerst mit Mathys und später auch mit Straumann. Die Lizenzeinnahmen aus dem Verkauf der Produkte flossen nicht an Müller, sondern in die AO-Stiftung. In den USA jedoch tickten die Uhren anders. Dort hatten Müller, Allgöwer und fünf seiner Kollegen 1974 ihre eigene Vertriebsorganisation aufgebaut. Dadurch wanderten die Einnahmen aus dem Verkauf der AO-Produkte in ihre Tasche.

Doch das Geschäft kam nicht in Gang. Synthes war abhängig vom Produzenten Straumann, dem Vorläufer von Stratec. Der lieferte unregelmässig und zu hohen Preisen. Also redete Wyss fast ein Jahr lang auf Straumann ein, um dessen Einwilligung zu erhalten, selbst produzieren zu dürfen. Dieser schwankte hin und her – er machte mehrmals eine mündliche Zusage, zog sie aber anschliessend immer wieder zurück. Als Straumann 1977 einmal mehr sein Einverständnis gab, benutzte Wyss harte Bandagen: Er gab beim anschliessenden Abendessen den anwesenden AO-Mitgliedern Straumanns Einwilligung bekannt. Der, verdutzt, wie er war, konnte nicht mehr zurück, nachdem alle Anwesenden bereits gratuliert hatten. Ein Jahr später stand die Produktionsanlage in Colorado.

Gleichzeitig begann Wyss mit dem Aufbau einer Vertriebsmannschaft. «Seine Männer durchlaufen einen ständigen Drill», berichtet ein ehemaliger Straumann-Mitarbeiter. Tag und Nacht muss die Truppe für die Chirurgen erreichbar sein. Mindestens dreimal in der Woche stehen die Verkäufer neben den Chirurgen im Operationssaal und geben Hilfestellung mit dem Lasermarker. «Die Leute von Synthes-Stratec haben den Ruf, harte Player zu sein, die nie Rabatte geben», sagt der Verkaufsleiter eines US-Konkurrenten. «Das müssen sie auch nicht, denn kein Konkurrent arbeitet mit einem derart grossen Pool an Wissenschaftlern wie der AO-Stiftung zusammen.» Unverblümt war kürzlich die Antwort von Wyss für einen Manager, der sich beschwerte, weniger zu verdienen als die Aussendienstleute: «Diese Mitarbeiter sind mir viel wichtiger als Sie und alle anderen Manager. Und wenn ein Aussendienstmann gut ist, kann er von mir aus auch mehr verdienen als ich.»

Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese
Das A und O der Chirurgie


Die AO-Stiftung (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese) mit Sitz in Davos ist ein Verbund von rund 5000 Chirurgen, Ärzten und Kliniken. Die gemeinnützige Stiftung beschäftigt 177 Mitarbeiter und betreibt Forschung sowie Aus- und Weiterbildung im Bereich der Frakturbehandlung. Die Ausbildungskurse dieser weltweit einzigartigen Organisation sind für jeden renommierten Orthopäden Pflicht.


Allein in den letzten fünf Jahren wurden insgesamt 571 Weiterbildungskurse für 54 000 Chirurgen abgehalten. Daneben werden in Zusammenarbeit mit den Lizenznehmern jedes Jahr über 100 neue Produkte für die Chirurgie entwickelt.


Die Synthes AG Chur, der wirtschaftliche Arm der AO, vergibt die Lizenzen zur Herstellung der Produkte. Nach der Akquisition von Mathys und Stratec durch Synthes befinden sich alle drei Lizenzen in der Hand von Hansjörg Wyss. Dafür liefert er rund drei Prozent des Umsatzes an die AO ab. Gegründet wurde die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese im Jahr 1958 von den Professoren Maurice Müller und Martin Allgöwer sowie zwei Kollegen.

Langsam ziehen dunkle Wolken auf. Der Wind peitscht die Wellen hoch. Wyss’ Partnerin Marcy ist vor die Tür getreten und beginnt das Blumenbeet zu jäten. «Politisch bin ich viel stärker in den USA engagiert als in der Schweiz», sagt Wyss. «Denn in der Schweiz dominiert komplett die Kartellwirtschaft, und man kann nichts dagegen tun.»

1987 hatte Wyss ein weiteres Mal Glück. Die sieben Aktionäre, alle gegen siebzig, wollten ihre Anteile abgeben. «Ich kaufe euch die Firma ab, aber ich kann euch nicht so viel geben, wie sie wert ist», pokerte Wyss. Der Preis wurde auf 54 Millionen Dollar festgelegt, aufgeteilt in fünf Raten. Zudem musste sich Wyss verpflichten, das Unternehmen nicht zu verkaufen. «Wenn wir damals gewusst hätten, wie viel wert das Unternehmen heute ist, hätten wir nicht so billig verkauft», bedauert Allgöwer im Nachhinein.

Heute, 15 Jahre später, macht Synthes-Stratec 1,5 Milliarden Umsatz. Die Betriebsgewinnmarge liegt bei 39 Prozent, womit Synthes-Stratec weltweit eines der profitabelsten Medtech-Unternehmen ist. In den letzten Jahren stiegen die Gewinne regelmässig stärker als die Umsätze. Das hat sich auch im Börsenkurs niedergeschlagen: Um 277 Prozent stieg die Aktie seit der Übernahme von Stratec 1999.

Durch die Akquisition von Mathys wird jetzt ein neuer Wachstumsschub ausgelöst. Für Synthes-Stratec wird der Weg frei für die profitabelsten Medtech-Absatzmärkte der Welt: Japan und China. Die zweite Nebenwirkung ist, dass beide Unternehmen ihr Problem mit den Kartellbehörden gelöst haben. Diese haben kürzlich Untersuchungen wegen des Verdachtes der Preisabsprache in Deutschland eingestellt, einem der wichtigsten Märkte für beide Unternehmen.

Beim Abschied beginnt es schon beinahe zu regnen.

«Und wie geht es mit Ihnen persönlich weiter, Herr Wyss?» «Ich werde mich demnächst aus dem operativen Geschäft zurückziehen und einen Nachfolger präsentieren», sagt er.

«Und wohin wandert langfristig Ihr Aktienpaket?» «Das kann ich Ihnen nicht sagen», antwortet er. «Aber schreiben Sie über meine Stiftungen. Das ist viel interessanter.» Dann verschwindet das Phantom Wyss wieder in seiner Villa.