Die Mineure machten einen guten Job. Perfekt getimt gingen die Sprengsätze hoch. Zuerst legte Wirtschaftsminister Couchepins Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erstmals einen Wachstumsbericht vor, dann schob die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit dem neuen Länderreport Schweiz Munition nach. Fazit: In den Neunzigerjahren handelte sich die Schweiz punkto Wirtschaftswachstum einen «dramatischen Rückstand» ein. Als einziges OECD-Land vermochte sie das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf im letzten Jahrzehnt nicht zu steigern.

Neu ist die Wachstumsschwäche der Schweizer Wirtschaft nicht, nur kommt die Analyse nun geballt und gut verpackt daher, sodass sogar die Linke die neoliberal inspirierte Seco-Lektüre «spannend» findet (SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer). Ex-Parteichef Peter Bodenmann spricht von einem «für die Schweiz und den zuständigen Freisinn verheerenden» Befund. 1995 hatten die Sozialdemokraten die Wirtschaftsbosse noch beschuldigt, ein sozialpolitisches «Mururoa» zu veranstalten, als sie dem Volk das analytisch ebenso klarsichtige, in seinen Forderungen allerdings masslose «Weissbuch» um die Ohren schlugen.

15 Monate vor den eidgenössischen Wahlen lässt sich die grüne Wachstumsfibel nicht so einfach als Papiertiger entsorgen. Die Konjunktur erweist sich als zarte Pflanze, die schwache Börse dämpft den Glauben an einen kräftigen Aufschwung, der die wirtschaftlichen Probleme löst. Und die jüngsten Hiobsbotschaften aus hiesigen Vorzeigebranchen wie Finanz (CS Group, Privatbanken) und Maschinenindustrie (Tornos-Bechler) sowie dem Tourismus verstärken die Unsicherheit: Was passiert, wenn die Konjunktur auch im zweiten Halbjahr nicht anzieht?

Die Schweiz, Weltmeisterin in der Sparte «Ausschöpfung des Faktors Arbeit», liess sich zu lange von der tiefen Arbeitslosenquote blenden. Die Revitalisierung ist zu zaghaft angegangen worden: So liegen die Preise hier zu Lande noch immer 30 Prozent über jenen der Nachbarländer. Gerade die staatlich geschützten Hochpreisbranchen wie Landwirtschaft, Gastgewerbe, Gesundheitswesen, Verkehr oder Energie weisen eine im OECD-Vergleich tiefe Produktivität auf: «Es war total falsch, die schwachen Branchen zu fördern, man sollte den starken helfen», kritisiert der St.-Galler Professor Franz Jaeger. «Der staatliche Schutz strukturschwacher Branchen behindert die Spezialisierung der schweizerischen Volkswirtschaft und schwächt ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit», befanden auch Fritz Leutwiler und Stephan Schmidheiny schon 1991 in ihrem «Ordnungspolitischen Programm». Die Erkenntnis ist längst da, nur mit der Umsetzung hapert es gewaltig.

Die Neunzigerjahre – wirtschaftspolitisch ein verlorenes Jahrzehnt? Was die öffentlichen Finanzen betrifft, sicher. «Im Vergleich mit andern Ländern hat die Schweiz in den Neunzigerjahren sogar eine sehr starke relative Erhöhung der Steuerquote wie auch der Staatsquote erlebt», heisst es im Wachstumsbericht. Die Experten bezweifeln sogar, dass die Schweiz «ihre Position nahe dem Durchschnitt der OECD-Länder in den nächsten zwanzig Jahren wird halten können».

Wettbewerbspolitisch hat die Schweiz auch nicht zum grossen Sprung nach vorn angesetzt: Nach der späten Aufspaltung der PTT ist die Liberalisierung und Privatisierung ins Stocken geraten, und nun droht gar eine Backlash-Bewegung. Die bürgerlichen Parteien verloren den Mut, die Swisscom-Mehrheit des Bundes wie geplant abzustossen. Immerhin wird künftig das Swisscom-Monopol auf der letzen Meile fallen. Die Post, Liebkind der politischen Heimatschützer, soll massive Subventionen erhalten, damit ein flächendeckendes Poststellennetz erhalten werden kann. Verschlafen hat SP-Energieminister Moritz Leuenberger die amtsintern frühzeitig vorbereitete Öffnung des Strommarktes. Weil der Glaube an den Segen des freien Marktes wegen der weltweiten Globalisierungskritik und des Versagens einzelner Topmanager geschwunden ist, droht das Gesetz am 22. September an der Urne zu scheitern – mit fatalen Folgen für die weitere Liberalisierungspolitik.

Und sonst? Nach der äusserst sanften Revision des Kartellgesetzes Anfang der Neunzigerjahre ist die nächste fällig, um die Schweiz endlich auf EU-Standard zu bringen. Doch auch diesmal geht sie den OECD-Experten zu wenig weit. Im Kampf gegen die Bürokratie passiert, allen martialischen Forderungen der SVP zum Trotz, wenig bis nichts – im Gegenteil. Die Schweiz leistet sich nun auch in der Telekommunikation Luxusstandards, wie man sie vom Autobahnbau her kennt. Für das Erstellen von Mobilfunkantennen gelten zehn- bis hundertfach strengere Richtwerte als im Ausland, was im Vergleich zu EU-Ländern zu 30 Prozent höheren Kosten führt.

Die Wirtschaft selbst steht nach dem Börsenrausch, dem Wirtschaftsboom und dem New-Economy-Hype nicht besser da: «Auch in den Betrieben war 1990 das letze normale Jahr. In den letzten zehn Jahren ist in den Unternehmen praktisch alles verpufft», sagt Ems-Besitzer und SVP-Nationalrat Christoph Blocher. Die Schweiz braucht also ein gesundes Wachstum von jährlich rund zwei Prozent – doppelt so viel, wie dieses Jahr zu erwarten ist. Darüber sind sich der wachstumsfreundliche Flügel der SP und die Bürgerlichen einig. Gerade der boomende Sozialstaat lässt sich leichter finanzieren, wenn der Kuchen grösser wird, wie eine Studie zur ersten Schweizer Generationenbilanz beweist. Bei einer Wachstumsrate von einem Prozent müssten kommende Generationen in ihrem Leben etwa 66 000 Franken pro Kopf an zusätzlichen Steuern entrichten, damit der heutige Schuldenberg abgetragen werden kann. Wäre die Rate nur ein halbes Prozent höher, wäre diese Schuld beglichen.

Allerdings müsste die Politik einen Zacken zulegen und, so die OECD-Experten, ein «umfassendes Reformprogramm» vorlegen. Nur: Die Chancen sind bereits verspielt worden, wie das Gerangel um die Steuersenkungen zeigt. Im letzten Herbst hatte der Nationalrat das bundesrätliche Paket von Kaspar Villiger um 780 Millionen aufgestockt, um den Werk- und Bankenplatz Schweiz zu beleben. In der Zwischenzeit hat die ständerätliche Kommission diese Erleichterungen praktisch vollumfänglich gestrichen. Ein Grund: Der Spitzenverband Economiesuisse hatte ein fatales Signal gegeben, indem er seine Forderungen nach tieferen Steuern teilweise zurücknahm – als Dank für die zwei Aviatikmilliarden des Bundes. Die Swissair-Pleite hat das Land ordnungspolitisch um Jahre zurückgeworfen.

Dem Swissair-geschädigten Freisinn drohen elektorale Langzeitschäden. Präsident Gerold Bührer, Promotor tiefer Steuern, versucht verzweifelt, die Wirtschafts- und Finanzpolitik gegen die SVP zu verteidigen. Doch jetzt schiessen ihm ausgerechnet Freisinnige wie Fritz Schiesser und Christine Beerli, aber auch Vreni Spoerry in den Rücken: «Die Staatsfreisinnigen im Ständerat versenken die Bührer-Pläne», höhnt SP-Nationalrat Rudolf Strahm. Nicht nur er, auch Christoph Blocher fragt sich ernsthaft, ob vor den Wahlen überhaupt noch Steuersenkungen beschlossen werden.

Denn das Steuerpaket droht von einem neuen Instrument zerfetzt zu werden: der Schuldenbremse, die ausgerechnet zu Beginn des Wahljahres eingeführt wird. Finanzminister Kaspar Villiger muss nach dem Milliardendefizit des letzten Jahres mindestens ein leicht positives Ergebnis erzielen, und dies, obwohl sich die Finanzlage «dramatisch» verschlechtert. Im Budget 2003 müssen wegen der Schuldenbremse über 900 Millionen Franken eingespart werden.

Extrem heikel wird das Steuerthema für die FDP, die sich als glaubwürdige Wirtschaftspartei von der populistischen SVP abheben möchte. Seit Jahren versucht die FDP erfolglos, den Staatseinfluss einzudämmen. Parteichef Gerold Bührer wollte 1995 den Staat noch auf «die hohheitsrechtlichen Aufgaben» zurückfahren.

Gleichwohl steigen die Freisinnigen 2003 wieder als Steuersenkungspartei in den Wahlkampf. Happige Mehrausgaben (Swissair/Swiss, Expo.02) haben sie genauso mitgetragen, wie sie linken Projekten (Mutterschaftsversicherung, Staatskrippen) zum Durchbruch verhelfen. Daneben will die FDP im Einklang mit dem Wachstumsbericht den Denkplatz Schweiz trotz Schuldenbremse stärker mit Bundesmanna alimentieren. Drohende Steuererhöhungen in Milliardenhöhe werden hingegen ausgeblendet: Die Schwerverkehrsabgabe wird 2005 um über 50 Prozent auf 2,44 Rappen pro Tonnenkilometer erhöht, und für die Sozialwerke sind noch in diesem Jahrzehnt 2,5 zusätzliche Mehrwertsteuerprozente programmiert. Die freisinnige Tiefsteuerkalkulation geht nicht auf: «Der Freisinn ist weich geworden», wettert der Appenzeller FDP-Ständerat Hans-Rudolf Merz. «Wir müssen aufhören, dauernd Ja zu sagen.»

Die SVP gibt sich ganz andere Blössen. Sie plädiert für radikalen Staatsabbau und Steuersenkungen, doch ihre eigene Wählerklientel, die Vertreter der wenig produktiven Binnenwirtschaft, nimmt sie ohne Skrupel gegen mehr Wettbewerb in Schutz. Statt hoch qualifizierten Fachleuten will sie dem Arbeitsmarkt ausländische Billigarbeitskräfte zuführen und das Rad zurückdrehen: «Es war ein Fehler, das Saisonnierstatut abzuschaffen», meint Nationalrat Hans Fehr. Dass es Blochers Leute so bunt treiben, verwundert selbst Wirtschaftsminister Couchepin: «Das SVP-Programm ist miserabel.»

Zerschlagen hat sich die Hoffnung auf die wählerschwache CVP. Sie vollzieht ihren Schwenker nach links nun auch programmatisch. Ihr neues Leitbild «Gemeinschaft Schweiz» hat einen kommunitaristischen Anstrich. Damit überlässt sie das wirtschaftspolitische Feld weitgehend der Konkurrenz von SVP und FDP.

Ein Glück für die Bürgerlichen, dass die SP ihre Chance diesmal nicht packt. 1995 hatte das Duo Peter Bodenmann und Elmar Ledergerber die einstige Nullwachstumspartei erfolgreich gewendet. Heute driftet die SP, die sich im «Würgegriff der Gewerkschaften» befindet («SonntagsZeitung»), auf den meisten Politikfeldern auseinander. Dazu gesellt sich neuerdings eine ausgeprägte Unversöhnlichkeit im persönlichen Umgang. So drohte der Wortführer der welschen Klassenkämpfer, Pierre-Yves Maillard, den linken Befürwortern der Strommarktöffnung im Falle eines Abstimmungserfolges offen mit Ausgrenzung («vous êtes grillés»).

In der Wirtschaftspolitik ist die SP dreigeteilt. Nachdem der Bieler Parteitag das Wirtschafts-Kurzprogramm kurzerhand versenkt hat, beschränkt sich die Wahlplattform auf fünf wirtschaftspolitische Postulate. Markt und Wettbewerb kommen darin nicht vor, über die Wachstumsfrage können sich die Genossen nur schwer einigen.

In dieses linke Vakuum sticht lustvoll ein anderer: Ex-Parteichef Bodenmann. Seine Querschüsse gegen die SP-Führungscrew empfindet selbst der abgebrühte Volkstribun Christoph Blocher als hinterhältig: «Bodenmann ist ein Charakterlump.» Der Briger führt die Partei noch immer – fernab von der Basis via «Blick», der «derzeit einzigen linken Tageszeitung der Schweiz» («WochenZeitung»). Praktisch täglich steht der Kolumnist im Kontakt mit der Chefredaktion, wie «Blick»-Leute bestätigen. So erschüttern die Eruptionen des Ideenvulkans regelmässig bürgerliche Parteisekretariate und Chefetagen: abzockende Manager, Hochpreisinsel Schweiz, Krankenkassenprämien, Streik im Neat-Tunnel. Dabei beherrscht der Kampagnenspezialist die Kunst des publizistischen Synchronschwimmens: Ende Mai beging das Boulevardblatt das Jubiläum «Zehn Jahre EWR-Nein» sieben Monate im voraus («Blocher hat uns zur Schnecke gemacht»). Gleichentags verfeinerte Bodenmann die These des Abseitsstehens in der «Weltwoche».

Bodenmann/«Blick» gegen SVP/FDP: Das sind schöne Aussichten auf den Wahlkampf. Für das wilde wirtschaftspolitische Treiben im Lotterbett der Konkordanz tragen nach wie vor die vier Bundesratsparteien die Verantwortung. Wachstumshemmend ist es allemal.
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