Bisweilen kann es Firmen Millionen kosten, wenn sie ein Formular zu spät einreichen. Oder wenn es in den Aktenbergen der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) verloren geht. Letzen November flattert dicke Post ins Büro von P.R., dem Chef eines mittelständischen Unternehmens, das in der Romandie gegen 100 Mitarbeiter beschäftigt. Eine interne Kontrolle habe ergeben, dass seine Firma im Jahr 2010 eine Dividendenausschüttung nicht gemeldet habe, heisst es im Schreiben. 1,5 Millionen Franken Verrechnungssteuer fordert die ESTV, zahlbar innert 30 Tagen.
Der Mann stutzt, überweist das Geld aber und erhält es wenige Wochen später zurückerstattet. Die böse Überraschung folgt einige Monate später: Im März stellen ihm die Behörden 240000 Franken Verzugszinsen auf die geschuldete Verrechnungssteuer in Rechnung. Der KMU-Mann will sich wehren: Er kann belegen, dass seine Treuhandfirma das Meldeformular damals nach Zahlung der Dividende korrekt ausgefüllt an die ESTV gesandt hat. Schliesslich verfügt er über eine Kopie des Dokuments. Doch die Steuerbeamten in Bern blocken ab: Sämtliche Telefonanrufe und E-Mails bleiben unbeantwortet – bis heute.
Existenzielle Nöte
Anderen KMU geht es nicht besser. Über hundert Firmen hat die ESTV in den letzten zwei Jahren teilweise horrende Verzugszinsen in Rechnung gestellt und damit einige davon in existenzielle Nöte gebracht. Die Treuhandkammer kennt Einzelfälle, in denen die Steuerbehörden Verzugszinsen über 15, 30 oder 100 Millionen Franken erhoben. Anders als im oben geschilderten Fall meldeten diese Firmen die Zahlung einer konzerninternen Dividende tatsächlich zu spät.
Sie konnten zum Zeitpunkt der Dividendenzahlung allerdings mit der Nachsicht der Steuerbehörden rechnen: Diese liessen nachträgliche Meldungen zu, wenn Steuerumgehung ausgeschlossen werden konnte. Vor zwei Jahren jedoch verschärfte die ESTV ihre Praxis auf einen Schlag. Firmen, welche die Meldefrist nicht einhielten, wurden rückwirkend auf fünf Jahre zur Zahlung von Verzugszinsen gezwungen – und das, obwohl die Unternehmen die Verrechnungssteuer vollständig zurückfordern können.
Die ESTV berief sich dabei auf ein Urteil des Bundesgerichts von 2011, das die Meldefrist für Dividenden aus Beteiligungen ausländischer Gesellschaften als sogenannte Verwirkungsfrist interpretierte. Werde diese nicht eingehalten, müsse die steuerpflichtige Gesellschaft die Verrechnungssteuer von 35 Prozent abliefern. Die Behörden leiteten daraus ab, in Fällen, die bis fünf Jahre zurückliegen, Verzugszinsen erheben zu können.
Scharfe Kritik der Wissenschaft
Steuerrechtsprofessor René Matteotti von der Universität Zürich hält das für problematisch: «Es ist unverhältnismässig, Verzugszinsen in Millionenhöhe zu erheben, nur weil ein Formular nicht rechtzeitig eingereicht wurde.» Richtig wäre es, in diesen Fällen eine Ordnungsbusse zu verhängen. Laut ihm fehlt die Grundlage, Verzugszinsen zu erheben. Grenzüberschreitende Dividendenzahlungen seien staatsvertraglich von der Verrechnungssteuer befreit. Daher erleide der Schweizer Fiskus mit einer verspäteten Meldung auch keinen Zinsschaden.
Mit der Praxisverschärfung haben die Steuerbehörden in ein Wespennest gestochen. Wirtschaftsprüfer sprechen von einem «Skandal», gar ist von einem «Krieg zwischen Unternehmen und Steuerbehörden» die Rede. Nur hinstehen und das laut sagen wagt niemand. Man will es sich mit den Steuerbehörden nicht verscherzen.
Für die betroffenen Firmen setzt sich derweil die Treuhandkammer unter der Führung von Markus Neuhaus ein. Der Präsident von PricewaterhouseCoopers kritisiert unter anderem, dass die ESTV nicht alle Firmen gleich behandle: «Uns sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen trotz verspäteter Einreichung der Meldung keine Verzugszinsen in Rechnung gestellt wurden.» Das sei unhaltbar.
Finanzministerin blieb untätig
Zahlreiche Besprechungen mit Spitzenvertretern der ESTV verliefen im Sand. 2013 unterbreitete die Treuhandkammer ihr Anliegen der Departementschefin persönlich. Eveline Widmer-Schlumpf versprach in der Folge, die uneinheitliche Praxis nach dem Bundesgerichtsurteil intern zu untersuchen. Doch von ihrem «Zero Tolerance»-Kurs wich die ESTV auch danach nicht ab. Am 9. Oktober 2013 liess deren Chef Adrian Hug ausrichten, man habe nicht vor, künftig auf die Verzugszinsen zu verzichten. Denn eine eigentliche Praxisänderung liege entgegen der Meinung der Treuhandkammer nicht vor. Auch sei eine Grundlage für eine Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen im Unrecht nicht gegeben. An dieser Sichtweise hält die ESTV auch auf Anfrage fest.
Zweifel an dieser Haltung sind angebracht. Denn 2013 nahm der Bund mit Bussen und Verzugszinsen 323 Millionen Franken ein – mehr als in den zehn vorherigen Jahren zusammen. Der Bussenanteil stieg sprunghaft an. Dazu halten die Steuerbehörden fest, dass 180 der 323 Millionen Franken auf Selbstanzeigen der Firmen zurückgingen. Allerdings registrieren auch Versicherungen die Praxisverschärfung bei der Erhebung der Verzugszinsen. Steuerberater, welche es verpasst haben, für ihre Kunden das Formular rechtzeitig einzureichen und deswegen jetzt belangt werden, greifen vermehrt auf ihre Haftpflicht zurück. «Wir können bestätigen, dass sich aus diesem Grund vorsorgliche Schadenanzeigen gehäuft haben», sagt ein Sprecher der Axa Winterthur.
Die Treuhandkammer bereitet nun einen Pilotprozess vor. Damit soll die Zulässigkeit von Verzugszinsen vom Bundesgericht neu beurteilt werden. Auf das Problem aufmerksam wurde inzwischen auch das Parlament. Ein Vorstoss verlangt, dass Unternehmen künftig statt Verzugszinsen in Millionenhöhe eine Ordnungsbusse entrichten müssen. Initiant ist ausgerechnet Nationalrat Urs Gasche, ein Parteikollege von Eveline Widmer-Schlumpf.