Das MGM Grand Hotel in Las Vegas ist historisches Terrain. Muhammad Ali hat hier geboxt, Madonna gesungen. Mitte Juni mietete Heliane Canepa die zehntausend Zuschauer fassende Arena – nicht für einen Abend, sondern für fünf Tage. Die Chefin von Nobel Biocare, mit ausladender Frisur und hohen Absätzen, zeigte noch nie Hemmungen, auf sich aufmerksam zu machen. Der laut Eigenwerbung «grösste Event, der je in der Zahnmedizin stattgefunden hat», lockte sechstausend Zahnärzte und Zahntechniker aus aller Welt an.
Canepa war kein Aufwand zu gross, die Doktoren davon zu überzeugen, dass sie ihre Patienten am besten mit Zahnersatz von Nobel Biocare ausstatten, mit Implantaten, Brücken, Kronen. Auf acht Grossleinwänden, aufgehängt über dem Boxring, wurden Live-Operationen aus allen Erdteilen übertragen. Wissenschaftler orientierten über neuste Erkenntnisse aus der Dentalmedizin. Wer unter Schlaflosigkeit litt, hatte die Möglichkeit, zwischen drei und sechs Uhr in der Früh «Jetlag-Sessions» zu besuchen. «Wenn die Teilnehmer nicht schlafen können, sollen sie Gelegenheit haben, sich auch in der Nacht weiterbilden zu können», sagt Canepa, die sich mit Jetlag-Syndromen selbst bestens auskennt.
Ganze 560 Neuheiten sollen es gemäss Canepa gewesen sein, die Nobel Biocare an der Konferenz vorstellte. Nicht alle sind echt revolutionär, bei den meisten handelt es sich um Weiterentwicklungen bestehender Produkte, die eines gemeinsam haben: Sie klingen weder nach Skalpell noch nach Narkose, sondern wie Frischzellenkuren aus dem Schönheitsinstitut. NobelSpeedy, Groovy, ZiUnite – solch kokette Namen tragen heute Zahnprothesen. Das passt genau in Canepas Konzept. Sie verspricht schöne Zähne in kurzer Zeit und ohne Blut. Ihr Ziel ist es, die vielen aufwändigen chirurgischen Verfahren durch eine kurze und schmerzlose Einmalmethode zu ersetzen.
Ein Schritt in diese Richtung ist das Behandlungskonzept Teeth-in-an-Hour, das Canepa in Las Vegas vorgestellt hat. Zielgruppe sind alle zahnlosen Menschen, von denen es gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) allein in den Industrieländern mehr als 30 Millionen gibt. Statt eines klapprigen Gebisses, mit dem sich nicht einmal Fleisch kauen lässt, werden künstliche Zähne mit Implantaten so eingeschraubt, dass sie ein Leben lang halten, und dies nach nur zwei kurzen Zahnarztbesuchen. Beim ersten Termin wird der Kiefer geröntgt, damit die Knochenqualität analysiert und die entsprechenden Implantate bestellt werden können. Beim zweiten Besuch werden mit einem «minimal invasiven Verfahren» Implantate und Brücke eingesetzt, was gemäss Canepa weniger als eine Stunde dauert. Nachdem Teeth-in-an-Hour vergangenes Jahr von der amerikanischen Food and Drug Administration die Zulassung erhalten hat, wird die Methode derzeit im Markt eingeführt.
Canepas Problem ist nur, dass zu wenige Zahnärzte das Handwerk beherrschen. Nur etwa zehn Prozent der Dentalmediziner weltweit sind Spezialisten für Zahnchirurgie oder Kieferorthopädie, die grosse Mehrheit besteht aus allgemein praktizierenden Zahnärzten, die zögern, Implantate einzusetzen, weil sie der Technik nicht mächtig sind. In der geringen Marktdurchdringung liegt die grösste Herausforderung für den Weltmarktführer Nobel Biocare und die Konkurrenz, die Schweizer Straumann als Nummer zwei (siehe Nebenartikel «Nobel Biocare vs. Straumann: Schweizer Firmen zeigen Biss»). Wem es gelingt, in kurzer Zeit die meisten Zahnärzte auszubilden, der gewinnt. Allein 2004 hat Nobel Biocare an Ausbildungsveranstaltungen 165 000 Fachleute weitergebildet.
Nicht bloss Zahnärzte, auch Patienten sind nach Ansicht von Canepa zu wenig mit den Möglichkeiten der modernen Zahnmedizin vertraut. Sie versucht, die Menschen von der Vorstellung zu befreien, der Einbau von Implantaten sei Zeit raubend und schmerzhaft. In den Industrieländern fehlen über 240 Millionen Menschen ein oder mehrere Zähne. Wenn sich nur ein Bruchteil von ihnen aus eigener Initative für ein Implantat interessiert, eröffnet sich ein riesiges Geschäft. In Schweden etwa trat Nobel Biocare mit Teeth-in-an-Hour in der TV-Verschönerungssendung «Total Makeover» auf. Am Tag nach der Ausstrahlung soll die Telefonzentrale am Sitz in Göteborg zusammengebrochen sein.
Für die Expansion in den Lifestyle- und Schönheitsmarkt hat Canepa den Slogan «Beautiful Teeth Now for Everybody» als Markennamen schützen lassen. «Das beste Lifting nützt nichts, wenn man keine schönen, strahlenden Zähne hat», lacht sie. Um das den Menschen klar zu machen, geht sie direkt zu ihnen. In verschiedenen Ländern Europas sowie den USA zirkuliert ein mit einem Konferenzraum ausgestatteter Nobel-Biocare-Lastwagen, der bei Einkaufszentren und Altersheimen vorfährt, um Menschen mit Gebissen oder fehlenden Zähnen Implantate schmackhaft zu machen. In den Praxen der Zahnärzte liegen weiss glänzende Broschüren auf, die sich, frei von Fachjargon, direkt an die Patienten richten. Heliane Canepa liess die Internetseite www.nobelsmile.com erstellen, die über Möglichkeiten der Zahnrestauration orientiert und Zahnärzte auflistet, die Implantate anbieten. Manch ein Zahnarzt schreibt heute nicht nur «Prothetik», sondern auch «Ästhetik» auf das Firmenschild.
Seit Heliane Canepa im Sommer 2001 die Führung von Nobel Biocare übernommen hat, baut sie das techniklastige Unternehmen zu einer veritablen Marketingmaschine um. Die Weltkonferenz in Las Vegas ist nur ein Beispiel dafür. Allein die Vertriebskosten verschlingen 132 Millionen Euro oder fast ein Drittel des Konzernumsatzes von 388 Millionen Euro.
Mit Leidenschaft und Vehemenz schwor Canepa von Anfang an die Verkäufer auf deren Job ein. Genügte es früher, Bestellungen abzuwickeln, mussten sie fortan in den Praxen vorstellig werden oder Zahnärzte auf Kongressen direkt ansprechen. Die Chefin setzte klare Ziele. Gute Verkäufer sind «hunters», schlechte «farmers». Da Canepa kompromisslosen Einsatz verlangt, sind viele von selbst gegangen, was ihr nur recht sein konnte.
Auch an der Spitze der Ländergesellschaften, allen voran des wichtigen US-Markts, sitzen heute viele neue Manager. Anstatt sich von Drittunternehmen vertreten zu lassen, stösst Canepa mit eigenen Marketing- und Vertriebsorganisationen in neue Märkte vor. Anfang 2005 wurde in Indien eine Niederlassung eröffnet, dem 29. Land, in dem Nobel Biocare präsent ist.
Als Canepa die Führung übernahm, war auch die Komplexität der Produkte ein Problem. Wie die meisten Pionierunternehmen war Nobel Biocare schwerfällig geworden. Canepa strich die Palette von 3400 auf 800 Produkte zusammen und entwickelte «Lösungssysteme», wie sie es nennt: Statt einer Vielzahl unterschiedlicher Prothesenkomponenten und Schrauben kann der Zahnarzt nun bei Nobel Biocare die Ausrüstung beziehen, die auf die Behandlung eines Patienten zugeschnitten ist.
«Ich wusste, es wird hart», sagt Canepa, «aber wir mussten da durch, und jetzt sind wir fit.» Das zeigte sich nicht nur Ende Mai, als sie mit Mitarbeitern am Halbmarathon in Göteborg teilnahm und nach 2 Stunden und 31 Minuten durchs Ziel ging. Auch an den Firmensitzen in Zürich und Göteborg wirbelt die passionierte Joggerin durch die Gänge und verströmt Begeisterung: «Kardiologie war irre, aber Zahnmedizin ist noch besser!» Der Wechsel vom Ballonkatheterhersteller Schneider im zürcherischen Bülach, den sie in zwanzig Jahren von 5 auf 2200 Mitarbeiter hochzog, zu Nobel Biocare löste in der 57-Jährigen einen Energieschub aus. Dies, obschon sie gemäss Selbstdiagnose bereits von Geburt an über «unerschöpfliche Energiereserven» verfügt.
Wie Canepa das Unternehmen vitalisiert hat, lässt sich auch an den Zahlen ablesen. Zwischen 2002 und 2004 schnellte der Umsatz von 311 auf 388 Millionen Euro hoch, der Betriebsgewinn nahm von 70 auf 118 Millionen Euro zu, der Reingewinn von 38 auf 96 Millionen. «Heliane Canepa hat eine sehr eindrückliche Leistung vollbracht», lobt Christoph Gretler, Analyst der Credit Suisse First Boston. Mit ihm applaudieren die meisten Branchenbeobachter, was sich in einer nachgerade spektakulären Entwicklung des Aktienkurses niederschlägt: Der Kurs von Nobel Biocare ist seit der Kotierung an der Schweizer Börse im Juni 2002 von 106 auf über 260 Franken gestiegen. Höchste Weihen werden Nobel Biocare voraussichtlich am 1. Oktober 2005 zuteil, wenn die Aktien des Unternehmens in den Swiss Market Index aufgenommen werden.
Die Kursperformance zahlt sich auch für Heliane Canepa persönlich aus. Zusätzlich zu Bezugsrechten und Optionen besitzt sie seit Amtsantritt ein Paket von 350 000 Aktien, das derzeit rund neun Millionen Franken wert ist. «Ich bin Unternehmerin, ich glaube an die Firma», sagt sie zu ihrem finanziellen Einsatz. Daneben bezog sie letztes Jahr einen Lohn von umgerechnet 2,3 Millionen Franken, den sie aber aus Zeitgründen nicht ausgeben kann.
Zufrieden können auch die Grossaktionäre sein, von denen es im Zuge des Kursanstiegs immer mehr gibt. Neben Fidelity und der FMR Corporation hat kürzlich der französische Versicherungskonzern Axa einen Anteil von über fünf Prozent an Nobel Biocare erworben. Grösste Aktionärin ist die Beteiligungsfirma BB Medtech mit Verwaltungsratspräsident Ernst Thomke. Es war der frühere Uhren- und Industriemanager, der die Wende bei Nobel Biocare erst herbeigeführt hat: Auf seinen Druck hin suchte das frühere schwedische Management über Nacht das Weite, worauf Heliane Canepa den Chefposten übernehmen konnte.
So begnadet die gebürtige Vorarlbergerin als Verkäuferin und Motivatorin auch ist, werden ihr in Logistik und Produktion doch Defizite nachgesagt. Um diese zu kompensieren, holte Thomke einen langjährigen Weggefährten in den Nobel-Verwaltungsrat: Ernst Zaengerle war schon bei Omega, Bally und Movado für die Logistik verantwortlich. Mit Rolf Soiron, dem ehemaligen Verwaltungsrat des Orthopädiekonzerns Synthes, sowie Synthes-Manager Michel Orsinger hievte Thomke überdies zwei Industrieprofis ins oberste Gremium von Nobel Biocare.
Eigentlich kann gar nichts mehr schief gehen. Der Markt für Zahnersatz wächst zweistellig und beinahe wie von selbst, es herrscht praktisch weder Preis- noch Verdrängungswettbewerb, und die technischen Möglichkeiten erscheinen grenzenlos. Dies zeigt das Lizenzabkommen, das Canepa in Las Vegas als Krönung des Kongresses bekannt gegeben hat. Zusammen mit dem amerikanischen Pharmakonzern Wyeth entwickelte Nobel Biocare einen biologischen Knochenwachstumsfaktor, der es erlauben soll, einen neuen Knochen entstehen zu lassen, wo es gar keinen gibt. Nobel Biocare erhält von Wyeth die exklusiven Nutzungsrechte für das Produkt, das in rund fünf Jahren auf den Markt kommen soll.
Das grösste Risiko für die Industrie wäre wohl, wenn die Qualität der Produkte nachliesse. Zulassungsbehörden wie die amerikanische Food and Drug Administration können ein Unternehmen von einem Tag auf den anderen ausschliessen, wenn die Sicherheit der Produkte nicht mehr gewährleistet ist. Daneben besteht die Gefahr, dass die Zahnärzte überfordert sind, wenn sie zu schnell geschult werden. Wenn die Erfolgsrate der Zahnimplantate, die derzeit 95 Prozent beträgt, sänke, würden die Hersteller rasch in Schwierigkeiten geraten.
Wird in Canepas Entourage überhaupt eine Sorge geäussert, dann betrifft sie die Chefin selbst. Sie könnte sich zu viel zumuten, wird befürchtet, zu wenig auf ihre Gesundheit achten. Seit ihrer Jugend ist Canepa Kettenraucherin (Dunhill blau) und macht keine Anstalten aufzuhören. Anstatt frühmorgens joggen zu gehen, nimmt sie sich zwar heute ab und zu eine Stunde mehr Schlaf. Dennoch gibt sie wie früher bei Schneider auch bei Nobel Biocare die One-Woman-Show, versprüht von früh bis spät Temperament und Optimismus, ist immer in Fahrt.
Die Frau verschwendet keine Zeit mit Bedenken, sondern peilt unbeirrt die nächste Hürde an: den Umsatz von einer Milliarde Dollar. Bei ihrem Amtsantritt im Jahr 2001 stellte sie die Marke von 500 Millionen Dollar bis Ende 2005 in Aussicht und erreichte sie ein Jahr früher. Wann die Milliarde fallen soll, verrät Canepa nicht. Interessant ist nur, dass auch der Hörgerätehersteller Phonak kürzlich das Ziel von einer Milliarde Umsatz genannt hat. Heliane Canepa ist Verwaltungsrätin von Phonak. Wo immer sie wirkt, gibt es bestimmt eine Schlagzeile her.