Vor über zehn Jahren haben Sie bei En Soie die kreative Leitung übernommen, seit sechs Jahren führen Sie die Geschäfte zusammen mit Ihrer Schwester Sophie. War es immer schon klar, dass Sie hier landen würden?

Ich bin in diesem Haus in der Strehlgasse in der Altstadt von Zürich praktisch aufgewachsen und habe die verschiedenen Phasen des Unternehmens miterlebt. Wir hatten unser Zuhause am Zürichberg, aber hier im Geschäftshaus haben wir Kinder wahrscheinlich die meiste Zeit verbracht. Unsere Nanny hat uns von der Schule abgeholt und gleich hierhergebracht. Hier haben wir gegessen, unsere Hausaufgaben gemacht und zwischen den Stoffen und alten Nähmaschinen gespielt. Oder meiner Mutter zugeschaut, wie sie Stoffe einfärbt und zuschneidet. Erst am Abend ging es dann zurück ins Elternhaus.

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War da nie der Wunsch, eine andere Richtungeinzuschlagen?

Ich hatte in der Tat überlegt, Geschichte oder Religion zu studieren. Aber dann habe ich nach der Matura zunächst bei einer externen Designerin von En Soie ein dreimonatiges Praktikum absolviert. Und irgendwie bin ich dann ins Unternehmen hineingerutscht und wollte auch nicht mehr weg. Ich war Aushilfe, habe im Geschäft verkauft oder die Leute in der Kreation und Produktion unterstützt. Tja, und aus den drei Monaten sind inzwischen 15 Jahre geworden. 

Anna Meier

Sie ist CEO und Creative Director des Maison En Soie. Vor sechs Jahren hat sie das Geschäft von ihrer Mutter übernommen und führt es zusammen mit ihrer Schwester Sophie.

Ensoie CEO Anna Meier
Quelle: Anne-Gabriel Jürgens

Was ist das Besondere an En Soie?

Das Maison En Soie steht für höchste Zürcher Handwerksqualität und für eine nachhaltige und faire Produktion. Jedes Design wird in unserem Atelier entworfen und von kleinen Manufakturen zu hochwertigen Objekten verarbeitet. Der Laden, die Ateliers und die Arbeitsräume sind alle unter einem Dach in diesem Altstadthaus aus dem 14. Jahrhundert untergebracht. Unsere Produkte sind beseelt und auf keinen Fall Massenware. 

Was ist heute in der Strehlgasse alles untergebracht?

Wir haben hier im Haus nicht nur das Ladengeschäft. Auch sämtliche Abteilungen haben hier ihren Platz: das Atelier mit unserer Meisterschneiderin und den beiden Designerinnen, die Abteilungen Kommunikation und Marketing, die Betreibung des Webshops und grosse Teile der Produktion.

Der Eingang zum Ladengeschäft in der Strehlgasse 26 in Zürich.

Der Eingang zum Ladengeschäft in der Strehlgasse 26 in Zürich.

Quelle: Anne-Gabriel Jürgens

Was wird hier alles produziert?

Ein Teil unserer Kollektionen, beispielsweise die komplette Babykollektion. Früher gab es noch eine kleine Manufaktur im Aargau, die für uns produziert hat, aber als diese geschlossen wurde, haben wir von ihr die alten Maschinen aus den 1950er-Jahren übernommen und hier ins Haus gebracht.

Wo produzieren Sie sonst noch?

Wir rechnen das nicht bis auf die letzte Kommastelle aus, aber sicher ist, dass der grösste Teil unserer Waren in Europa produziert wird. Die Keramik beispielsweise und der überwiegende Teil der Kleider. In Indien arbeiten wir seit über vierzig Jahren mit der gleichen Familie zusammen, von der wir die Rohseide beziehen. Auch die Handstickereien kommen aus Indien.

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie?

Es heisst für uns, dass wir mit den Ressourcen bewusst umgehen, zeitlose und langlebige Produkte herstellen und fair mit Partnern, Mitarbeitenden, Kundinnen und Kunden umgehen. Unsere Reparatur- und Änderungsschneiderei beispielsweise ist Teil unseres Nachhaltigkeitskonzepts, indem wir alle unsere Produkte kostenlos reparieren.

Der Fashion-Bereich ist nicht gerade für Nachhaltigkeit bekannt.

Den Ausdruck Fashion mag ich überhaupt nicht, das hat nichts mit En Soie zu tun. Darunter verstehe ich eine zeitgenössische Mode, die nach sechs Monaten schon wieder out ist. Das sind wir nicht. Unser Anspruch ist, zeitlose Mode zu machen.

Ihre Schwester leitet mit Ihnen gemeinsam das Maison En Soie. Wie teilen Sie sich die Aufgaben auf?

Bei mir liegen die kreative Leitung und die Geschäftsführung. Meine Schwester Sophie leitet das Ladengeschäft, also das Sales-Departement, und führt die Mitarbeitenden – und sie ist auch für die Schaufenster und die Ladengestaltung zuständig. Grössere Entscheidungen fällen wir gemeinsam.

Das Verhältnis zwischen Geschwistern ist häufig von Konkurrenz geprägt. Wie ist das bei Ihnen? 

Es ist tatsächlich so: In den 15 Jahren, in denen wir zusammenarbeiten, gab es noch nie wirklich Streit –und schon gar nicht im Beruf. Wir sind nicht nur Schwestern, wir sind auch sehr gute Freundinnen. Ich glaube, wir haben von unseren Eltern eine sehr respektvolle Kommunikation gelernt. Und es ist uns gleichzeitig auch sehr wichtig, dass wir uns in diesem Bereich weiterbilden. Beispielsweise machen wir regelmässig Coachings.

Maison En Soie: Leuchtturm der Zürcher Kreativszene

Ihr Bruder oder Ihre dritte Schwester wollten nicht bei En Soie mitarbeiten?

Eleonore, unsere älteste Schwester, leitet das Family- Office, das wir vor einem Jahr gegründet haben. Dort sind alle Unternehmungen der Familie angeschlossen. Insofern hat sie ja schon mit En Soie zu tun, wenn auch nicht auf operativer Ebene.

Ihre Mutter hat En Soie aufgebaut, wie sehr mischt sie noch im Geschäft mit? 

Nicht auf täglicher Basis, sie hat heute eher eine Rolle als Beraterin. Ihre Meinung ist mir sehr wichtig, da höre ich schon sehr genau hin. Sie hat eine sehr feine Sprache, mit der sie Dinge zum Ausdruck bringt.

Konnte sie denn wirklich loslassen?

Absolut. Damals bei der Übergabe hat sie gesagt: «Jetzt ist es dein Ding, ich vertraue dir.» Und daran hat sie sich bis heute gehalten.

Familie Meier, hintere Reihe: Francis Benjamin, Eleonore und Anna; vordere Reihe: Sophie, Monique und Dieter.

Familie Meier, hintere Reihe: Francis Benjamin, Eleonore und Anna; vordere Reihe: Sophie, Monique und Dieter.

Quelle: ZVG

Was haben Sie seitdem verändert?

Es gab keine Revolution, es war auch keine nötig. Viele Produkte aus unserer Geschichte verkaufen sich immer noch sehr gut. Aber es ist klar, dass sich ein Unternehmen immer weiterentwickeln muss, und wir haben es subtil verjüngt und Strukturen geschaffen. Nicht jeder und jede kann alles machen, bei unserer Grösse braucht es schon eine gewisse Arbeitsteilung. Das neue Logo ist vielleicht noch das deutlichste Zeichen des Wandels. Uns ist klar: Stillstand ist Rückschritt. Mein Vater hat ganz gut formuliert, worin unsere Aufgabe bei En Soie besteht: «To the future through the past». Man muss etwas Neues entwickeln, darf aber die Vergangenheit nicht vergessen.

Welche Rolle spielt er bei En Soie?

Eigentlich gar keine. Als Designer hat er von Zeit zu Zeit etwas entworfen. Der Claim «Love rules forever» ist von ihm. Und er lässt es sich natürlich nicht nehmen, das eine oder andere zu kommentieren.

Zum Beispiel?

Über die Schaufensterdekoration hat er kürzlich mal gesagt: «Das verstehe ich nun überhaupt nicht.»

Und, haben Sie diese dann geändert?

Nein, Sophie und ich fanden sie sehr gut so. Das hat er dann auch akzeptiert.

Ist En Soie profitabel?

Wir veröffentlichen keine Zahlen, aber die Geschäfte laufen sehr gut, und wir zahlen auch entsprechende Löhne. Wir vergleichen uns nicht mit einem Milliardenkonzern wie Hermès, aber wir sind auch kein Knusperhäuschen.

Gibt es Expansionspläne?

Wir sehen uns als lokales Unternehmen. Das Streben nach immer mehr Umsatz und Filialen passt nicht zu uns und dem nachhaltigen Ansatz. Das ist nicht unser Ding. Manchmal ergeben sich Zufälle, dann probieren wir etwas, aber unser Mittelpunkt ist hier in Zürich.

Anna Meier als Model für die neue Kollektion.

Anna Meier als Model für die neue Kollektion.

Quelle: ZVG

Was für Zufälle beispielsweise?

Zwei Mitarbeiterinnen von uns sind ursprünglich aus Bern. Und der Vater einer dieser beiden Mitarbeiterinnen hat ein sehr schönes Uhrengeschäft in Bern. Dort machen wir jetzt zu Weihnachten einen Pop-up-Store.

Reichen denn die Kapazitäten für eine Expansion?

Das ist ein wichtiger Punkt, bei uns wird ja fast alles in Handarbeit hergestellt. Bei der Keramik beispielsweise sind wir streng limitiert. Das typische Vichy-Karomuster zum Beispiel wird von zwei älteren Frauen in Polen von Hand aufgemalt. Wenn sie in Pension gehen, haben wir nach intensiver Suche glücklicherweise eine Lösung gefunden.

Welche Produktgruppen laufen am besten?

Wir haben uns bewusst breit aufgestellt, um Trends abzufedern. Das klassische Seiden-Carré war in den 1950ern bis in die 1980er-Jahre der Renner. Dann kam die Schmuck-Ära und danach die Keramik-Ära. Heute sind die Accessoires, etwa unsere Taschen, am gefragtesten.

Sind neue Produkte oder Kategorien in der Pipeline?

Zwei Personen bei uns arbeiten eigentlich nur an neuen Entwicklungen. Vor zwei Jahren haben wir eine kleine Beauty-Linie lanciert, also Seifen und Parfums. In diesem Bereich machen wir jetzt gerade ein Rebranding, und in diesem Winter werden wir ganz viele schöne Kerzen anbieten. Wir möchten unsere Kundschaft immer wieder überraschen. Und für das nächste Jahr planen wir noch etwas Besonderes.

Und das ist?

Wir feiern dieses Jahr das 130-Jahr-Firmenjubiläum und planen daher, ab Januar verschiedene Heritage-Entwürfe als Re-Edition auf den Markt zu bringen.

Anna Meier im Raum der Schneiderin.

Anna Meier im Raum der Schneiderin.

Quelle: Anne-Gabriel Jürgens

Das charakteristische Karomuster – etwa auf den En-Soie-Taschen und auch auf vielen Vasen und anderen Keramikstücken: Woher kommt das eigentlich?

Meine Mutter hat das Karo bei En Soie etabliert. Das ist eigentlich das einfachste Karo, das es gibt. Man findet es sowohl in Indien und Thailand als auch in Schweizer Bauerndörfern. Ursprünglich kommt es vom Weben mit zwei verschiedenen Fäden. 

Wie muss man sich Ihr Zuhause vorstellen? En-Soie-Produkte, wohin das Auge reicht?

Ich glaube, dass es viele Kundinnen und Kunden gibt, die wesentlich mehr En-Soie-Produkte in ihrem Zuhause haben als ich. Ich bin ja den ganzen Tag von diesen Produkten und der Fülle an Farben und Stoffen umgeben. Ich wohne daher bewusst sehr reduziert.

Wenn Sie nicht für En Soie arbeiten würden: Was würden Sie gerne tun?

Ich würde wahrscheinlich Psychologie studieren. Wie und warum sich Menschen wie verhalten, interessiert mich sehr. Und es würde mir Spass machen, ein Bed and Breakfast zu führen. Vielleicht mache ich das noch.

Was interessiert Sie an einem B&B?

Es geht auch ums Einrichten und darum, eine Stimmung zu erzeugen. Es ist also nicht so weit entfernt von En Soie. Zudem: Ich mag sehr einfaches Essen. 

Welche Themen beschäftigen Sie aktuell bei En Soie?

Sehr wichtig ist mir unser Teamspirit. Heutzutage ist es so, dass es nicht nur über den Lohn funktioniert, die Mitarbeitenden zu motivieren. Das zweite grosse Thema ist, eine gute Balance zu finden zwischen den bekannten En-Soie-Produkten, unserem Erbe, und neuen Dingen. Stehen bleiben ist keine Option und zu viel Fortschritt auch nicht. Und dann die Frage: Was erwarten die Leute im Jahr 2024 vom physischen Geschäft? Die Ansprüche verändern sich ständig. Es ist mehr eine Experience gefragt, gleichzeitig muss der Service top und modern sein. 

Anna Meier am Telefon im Erdgeschoss des Ladengeschäfts.

Anna Meier am Telefon im Erdgeschoss des Ladengeschäfts.

Quelle: Anne-Gabriel Jürgens

Was weiss man noch nicht über Anna Meier? 

Dass ich mich neben En Soie auch um andere Familiengeschäfte kümmere. Sehr viele Unternehmen sind ja in Argentinien, und da bin ich weniger involviert, abgesehen von der Kommunikation, für die ich auch zuständig bin. Ansonsten kümmere ich mich aber bereits seit Jahren um die Restaurants. Das weiss nur keiner.

Das heisst?

Es gibt die Restaurants Bärengasse und die Atelierbar, an denen wir beteiligt sind, sowie das «Ojo de Agua» in der Oetenbachgasse, das unserer Familie zu 100 Prozent gehört. Und dann gibt es noch mein Restaurant.

Welches?

Das «Schnupf».

Wie kam es dazu?

Das Restaurant betreibe ich zusammen mit meinen ältesten Freunden, wir sind zu viert. Teilweise kennen wir uns schon seit der Kinderkrippe und der Primarschule. Wir sind die besten Freunde, und vor ein paar Jahren, durch hundert unglaubliche Zufälle, durften wir das Restaurant übernehmen. Und wir bieten genau das an, was wir gerne haben: gute Fritten, Bier und Steak. Damit sind wir glücklich.

Sind Ihre drei Töchter die natürlichen Nachfolgerinnen?

Meine Schwestern haben zusammen ebenfalls drei Mädchen. Ich würde es unterstützen, wenn meine Töchter etwas anderes machen möchten. Es ist bei uns vielleicht ein wenig wie ein Sog. Auch meine Mutter hat meinen Einstieg nicht forciert. Aber als ich 19 Jahre alt war und gesehen habe, was ich hier alles machen könnte, was es für eine grossartige Gelegenheit wäre, habe ich mich mit Freude dafür entschieden. 

Haben Sie neben En Soie, den Restaurants und der Familie überhaupt noch Zeit für andere Dinge?

Also Autos interessieren mich zum Beispiel überhaupt nicht. Ich habe gerade meinen alten Sharan verkauft und dafür ein teures, cooles Cargobike aus Dänemark gekauft, in das alle meine drei Töchter passen. Ansonsten interessiere ich mich sehr für Kunst und Kunsthandwerk. Wenn wir in den Ferien sind, muss ich immer auf diese kleinen Kunsthandwerkmärkte gehen. Das ist irgendwie ein Teil von mir.

Dieser Artikel ist im Millionär, dem Magazin der «Handelszeitung», erschienen (Oktober 2024).