Die Welt ist verrückt geworden. Immer noch zerstören zu viele kriegerische Konflikte jeden Tag Häuser, Nahrung, fruchtbaren Boden, und zahllose Menschen kommen um. Hunger und Armut kosten jeden Tag 25 000 Menschenleben. Der Terrorismus dringt immer mehr ein in die Städte des Nordens, von den USA bis nach Europa. Naturgewalten zerstören immer häufiger Lebensgrundlagen. Alte Krankheiten wie Malaria und Cholera breiten sich wieder aus, Aids bleibt ausser Kontrolle, die Vogelgrippe kündigt sich als neue Plage an. Dazu die Krankheiten, die wir durch Trägheit, Junk-Food und Übergewicht selber produzieren: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und so fort sind heute die häufigste Todesursache, mit zunehmender Tendenz. Die Welt ist verrückt geworden.
Kein Wunder, dass sich Katastrophenstimmung breit macht, offen oder versteckt. Die alten Sicherheiten gelten ja nicht mehr: Die Wirtschaft garantiert selbst im Aufschwung nicht mehr für genügend Arbeitsplätze. Die Wissenschaft macht mit neuen Errungenschaften von Gentech- bis Informationstechnologie das Leben nicht nur einfacher. Migranten aus dem Süden dringen in wachsender Zahl über Stacheldraht und in überfüllten Booten vor nach Europa oder in die Vereinigten Staaten. Und wir bauen um ehemals offene Kontinente Grenzen, die Festungen gleichen. Und haben die Migranten diese Grenzen erst einmal überwunden, finden sie sich wieder in den Ghettos der Armen und Ausgegrenzten: Unruheherde mitten in den globalen Inseln des Wohlstands, wie das Beispiel Frankreich zeigt. Die Politik polarisiert, in der Heimat und weltweit, und viele Menschen suchen gültige Antworten bei religiösen Führern wie dem Dalai Lama oder dem Papst.
Orientierung ist gefragt. Weit blickende Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft, Kultur und Religion – und auch im Sport! – müssen Wege in eine bessere Zukunft aufzeigen und auf diesen Wegen vorangehen.
Ist das unverbesserlicher Optimismus? Keineswegs. Ich habe ermutigende Beispiele gesehen, an Orten der verzweifelten Hoffnungslosigkeit, an den gefährlichsten Plätzen der Welt. In Medellín, der früheren Hauptstadt des kolumbianischen Drogenkartells, habe ich einen Mann getroffen, der angetreten ist gegen die etablierten Parteien und die Drogenmafia und die Guerilla und die Paramilitärs: Bürgermeister Sergio Fajardo Valderrama. Dieser Mann hat auf seine Universitätskarriere verzichtet, weil er ganz praktisch etwas tun wollte «für eine bessere Welt», für sein Land, seine Stadt. Heute hat Fajardo zusammen mit seinem Team die mörderische Gewalt in der Dreimillionenstadt um 80 Prozent reduziert. Auch mit scheinbar unwichtigen Dingen: mit kleinen Sportplätzen, die er in den schlimmsten Vierteln überall hat bauen lassen, damit die Jugendlichen nicht mit Kugeln aufeinander, sondern mit Bällen auf Tore schiessen. Und mittels Gesprächen mit den Eltern, um die Verbindung von Bildung, Sport, Gesundheit, Recht und Frieden in der ganzen Gesellschaft zu verankern.
Unverbesserlicher Optimismus? Keineswegs. Ich denke an den brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio («Lula») da Silva – ich weiss, er steht in teilweise wohlberechtigter Kritik – und an seinen Sportminister Agnelo Queiroz, die mit dem Programm «Segundo Tempo» täglich über eine Million Kinder mit Bussen aus den Favelas in Schul- und Sportzentren fahren, um sie mit einem gemischten Programm von Schule und Sport von der Strasse, den Jugendbanden, der Drogenkriminalität und verfrühter Schwangerschaft wegzuholen. Ich denke an grosse NGO, etwa Right to Play, die mit Unterstützung von Spitzensportlern weltweit in Flüchtlingslagern Sport als Mittel der körperlichen und seelischen Gesundung einsetzt. Ich denke an kleine Initiativen wie das Berner Projekt «Sport the Bridge», in dem junge Schweizer in Addis Abeba Strassenkinder in die Schule und in die Gesellschaft zurückholen wollen. Beide Initiativen geniessen die Unterstützung von Schweizer Unternehmen – auch das stimmt optimistisch und ist beispielhaft.
Aber es geht um umfassende Visionen, um die optimistische Kraft zu umfassenden Lösungen. Ich möchte sogar sagen: Unsere emotionslos gewordene Gesellschaft braucht die vorantreibende Energie positiver Emotionen. Politiker und Unternehmer mit dem Mut, vorauszugehen und die Menschen mitzureissen. Die Ziele sind klar: Ich hatte als Bundespräsident Gelegenheit, die Schweizerische Eidgenossenschaft zu vertreten, als sie in New York bei der Uno beschlossen wurden. Es sind die Jahrtausendziele – die «Millennium Development Goals» –, auf die sich die Führer der Welt im Jahr 2000 beim Millenniumsgipfel geeinigt haben. Bis zum Jahr 2015 sollen sie erreicht sein:
1. Beseitigung der extremen Armut und des Hungers (Abbau um die Hälfte),
2. Grundschulbildung für alle,
3. Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Stellung der Frau,
4. Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel,
5. Verbesserung der Gesundheit von Müttern (drei Viertel weniger Müttersterblichkeit),
6. Bekämpfung von Aids, Malaria und anderen Krankheiten,
7. Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit,
8. Aufbau einer weltweiten Partnerschaft für Entwicklung.
Aber wir sind im Rückstand: Die Staats- und Regierungschefs haben bei ihrer Zwischenbilanz in New York festgestellt, dass wir bei gleich bleibendem Tempo die Millenniumsziele auch in zehn Jahren noch verfehlen werden. Das ist unerträglich, unannehmbar, unmenschlich. Jedes Jahr sterben noch immer 10,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren. Hätten wir weltweit die Sterblichkeitsrate von Island, wären es jedes Jahr zehn Millionen weniger. Und das wäre zumindest annähernd möglich – Teilerfolge beweisen es. In Südostasien zum Beispiel ist die Kindersterblichkeit stark zurückgegangen. Im Gegensatz dazu hat sie in zahlreichen Ländern Afrikas aber wieder zugenommen. Das heisst: Es liegt an unserer Einstellung und an unserem Einsatz, ob wir die Millenniumsziele erreichen.
Optimismus ist die feste Überzeugung, dass wir die Dinge zum Besseren wenden können. In diesem Sinne bin ich Optimist. Und ich bin in guter Gesellschaft. Zusammen mit Uno-Generalsekretär Kofi Annan habe ich vor fünf Jahren schon festgestellt, dass der Sport mehr als manch anderes viele Menschen erreichen und ihnen neue Welten eröffnen kann: die Welt von Sport und Bildung, Sport und Gesundheit, Sport und Frieden. In diesem Internationalen Jahr des Sports und der Sporterziehung zeigen das weltweit Hunderte von neuen Initiativen und ganz neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Sportverbänden und Entwicklungsorganisationen. Da entsteht etwas, das, ganz ohne neue Bürokratie, nachhaltige Wirkung erzielen wird.
Und ich stelle mit Freude fest, dass sich die Einsicht in den Wert des Sports als Mittel für Entwicklung und Frieden auch in den Führungsetagen immer mehr verbreitet. Anfang November hat die Uno-Vollversammlung eine Resolution verabschiedet mit dem Ziel, dass Regierungen, Sportorganisationen und die Privatwirtschaft gemeinsam sportliche Aktivitäten fördern, die der Friedensbildung und der Entwicklung zugute kommen. Diese «Public-Private Partnership» ist gerade für die wohlhabenden Verbände und Unternehmen, die in der Schweiz angesiedelt sind, eine grosse Chance. Im Januar 2006 wird das Thema «Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden» sogar zu einem bedeutenden Gegenstand des World Economic Forum (WEF). Die Tatsache, dass die «Leaders of the World» bei ihrem Davoser Treffen dies zu ihrem Thema machen, stimmt mich nun in der Tat optimistisch. Ich hoffe – und ich werde mich auch dafür einsetzen –, dass dies auf unser Land und die Welt so ausstrahlt, dass auf die Worte zum Jahr der Sports und der Sporterziehung nun die Jahre der nachhaltigen Taten folgen.
Adolf Ogi wurde im Jahr 2001 von Uno-Generalsekretär Kofi Annan zum Uno-Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden ernannt. In dieser mit einem symbolischen Dollar pro Jahr entlöhnten Tätigkeit engagiert sich der Kandersteger stark für das Internationale Jahr des Sports, das von den Vereinten Nationen für 2005 ausgerufen wurde. Vor seinem Uno-Mandat sass der 63-Jährige zwischen 1987 und 2000 als Vertreter der SVP im Bundesrat.