Seit 2001 ist die globale Risikolandschaft in Bewegung. Natürlich denkt man hier zunächst an die Zerstörung des World Trade Center. Der internationale Terrorismus ist jedoch kein neues Phänomen. Man erinnere sich nur an den Anschlag der IRA vom April 1993 im Londoner Finanzdistrikt oder an die Katastrophe über Lockerbie im Dezember 1988. Dennoch hat der 11. September 2001 die Spielregeln im unternehmerischen Risikomanagement nachhaltig verändert. Dies nicht nur vor dem Hintergrund des versicherten Gesamtschadens, der mit vermutlich mehr als 35 Milliarden US-Dollar fast doppelt so hoch ausfiel wie die bisher grösste versicherte Naturkatastrophe, der Hurrikan Andrew im Jahre 1992.
Von grundlegenderer Bedeutung ist die Tatsache, dass der internationale Terrorismus in seiner neuen Ausprägung die Voraussetzungen der Versicherbarkeit nicht oder nur begrenzt erfüllt: So ist es kaum möglich, die Eintrittswahrscheinlichkeit und die potenzielle Höhe eines Schadens seriös zu beziffern. Ferner handelt es sich bei terroristischen Anschlägen nicht um zufällige Naturereignisse wie zum Beispiel Hurrikans. Dazu kommt, dass es für Versicherer und Rückversicherer äusserst schwierig ist, Terrorismusrisiken der neuen Generation geografisch zu streuen und damit beherrschbarer zu machen: Wer hätte damit rechnen können, dass ausgerechnet Madrid zum Schauplatz des schwerwiegendsten Anschlags seit dem 11. September 2001 werden würde? Es ist nahezu unmöglich, am Markt Versicherungsprämien und -bedingungen durchzusetzen, die dem Risiko entsprechen. Wir haben es hier offenbar mit einer Form von Marktversagen zu tun. Daher ist in verschiedenen Ländern der Staat als Rückversicherer in letzter Instanz eingesprungen, um privatwirtschaftliche Versicherungslösungen zu erleichtern. So zum Beispiel in den USA, wo die öffentliche Hand für Terrorschäden über einer bestimmten Höhe aufkommt. Trotzdem verbleiben angesichts der hohen Versicherungsprämien Terrorismusrisiken häufig im Selbstbehalt der exponierten Unternehmen.
Der internationale Terrorismus ist nicht die einzige Entwicklung, die eine Neubewertung der globalen Risikolandschaft und damit des Risikomanagements erfordert. Auch «Phantomrisiken» wie zum Beispiel die Gen- oder Nanotechnologie nehmen einen immer breiteren Raum in der unternehmerischen Risikobeurteilung ein. Obwohl es keine gesicherten Erkenntnisse über mögliche Gesundheits- oder Umweltrisiken dieser Technologien gibt, kann bereits eine entsprechende öffentliche Wahrnehmung und Verunsicherung enorme operative und juristische Risiken heraufbeschwören. Man denke an Boykottaktionen oder Haftpflichtklagen.
Dies führt zu einer dritten relevanten Umfeldveränderung: zur zunehmenden Ausbreitung der aus den USA bekannten Klage- und Kompensationskultur. In Europa ist dieses Phänomen vor allem in Grossbritannien auf dem Vormarsch. Es gibt aber auch in Kontinentaleuropa Anzeichen für eine grössere Neigung, Konflikte auf dem Rechtsweg auszutragen. Für Unternehmen aller Branchen empfiehlt sich eine sorgfältige Beobachtung dieses Trends, der ernst zu nehmende Risiken birgt und deshalb unbedingt in die strategische Planung einbezogen werden sollte.
Viertens haben die Rechnungslegungsskandale der jüngeren Vergangenheit und die daraus resultierende Verschärfung der gesetzlichen Offenlegungs- und Kontrollpflichten die Verwundbarkeit von Unternehmen bei operativen Unzulänglichkeiten, zum Beispiel im Ergebnisberichterstattungsprozess, massiv erhöht. Die in der Sarbanes-Oxley Act niedergelegten Sanktionen und direkten Verantwortlichkeiten des CEO und CFO sind drastisch.
Schon die bisher genannten Entwicklungen würden genügen, um eine Neubeurteilung des unternehmerischen Risikomanagements durch Verwaltungsrat und Geschäftsleitung zu rechtfertigen. Zu ihnen gesellt sich ein fünfter, vor allem für die Finanzbranche hochrelevanter Faktor: die stark gestiegene Volatilität der Finanz- und Kapitalmärkte. Mit der Unterschätzung von Bewertungsschwankungen sowie Fehlern in der Abstimmung von Aktiven und Passiven sind selbst solche Unternehmen in Turbulenzen geraten, die bisher als Inbegriff finanzieller Solidität galten.
Vor diesem Hintergrund liegt die Schlussfolgerung nahe, dass ein ganzheitlicher und auf höchster Managementstufe angesiedelter Risikomanagementprozess von entscheidender Bedeutung für den Unternehmenserfolg ist.
Welche konkreten Konsequenzen ergeben sich nun für das unternehmerische Risikomanagement? Zunächst einmal sehen sich Unternehmen aller Branchen mit stark zunehmenden Risikokosten konfrontiert. Unter Risikokosten sind nicht nur Versicherungsprämien zu verstehen, sondern auch die beträchtlichen Kosten für Risikokontrolle und -prävention. Ein für alle US-börsenkotierten Unternehmen relevantes aktuelles Beispiel sind die von der Sarbanes-Oxley Act ausgehenden Mehrkosten für die Überprüfung und Dokumentation der internen Kontrollsysteme zur Gewährleistung einer fehlerfreien Finanzberichterstattung. Zu den Risikokosten zählen aber auch mögliche Schäden, auf deren Absicherung das Unternehmen bewusst verzichtet, zum Beispiel Terrorismusrisiken, die auf Grund hoher Prämiensätze unter- oder gänzlich unversichert bleiben. Noch problematischer sind Risiken, die unerkannt sind und damit unfreiwillig im Selbstbehalt verbleiben.
Eine integrierte Betrachtung der Risiken drängt sich also auf. Letztlich interessiert es die Aktionäre und Aktionärinnen nicht, ob das Unternehmensergebnis durch eine Naturkatastrophe, unerwartete Wechselkursverschiebungen oder durch eine IT-Panne belastet wird. Sie erwarten vielmehr, dass das Management eine kosteneffiziente Balance zwischen Risikokontrolle (Vermeidung und Verminderung) und Risikofinanzierung (Versicherung und Selbstbehalt) findet. Es ist offensichtlich, dass die Strategie der Risikovermeidung rasch an Grenzen stösst. Die Übernahme von Risiken ist ein Wesensmerkmal unternehmerischen Handelns. Übermässige Zaghaftigkeit lässt mittel- bis langfristig jedes Unternehmen scheitern.
Die klassische Form der Risikofinanzierung ist der Risikotransfer an einen Versicherer. Die Attraktivität dieser Strategie ist auf Grund der Zyklizität der Versicherungsmärkte starken Schwankungen unterworfen. Darüber hinaus umfasst jede Form von Risikomanagement eine Selbstbehaltskomponente. Dabei ist zu unterscheiden zwischen bewussten Entscheidungen aus Gründen der Kosteneffizienz und unbewusstem Selbstbehalt auf Grund mangelnder Risikoerkennung.
Das Optimierungsproblem erfordert einen integrierten Ansatz im Risikomanagement. Es gilt, Korrelationen zwischen den einzelnen Risikokategorien zu identifizieren und mögliche Kostenvorteile einer ganzheitlichen Herangehensweise auszuschöpfen. Diese Aufgabe kann nicht ausschliesslich an den Risikomanager und Versicherungseinkäufer des Unternehmens delegiert werden. Jeder Chief Executive Officer, der sich seiner Verantwortung für die Unternehmensreputation bewusst ist, wird Risikomanagement zur Chefsache erklären und dafür sorgen, dass Chief Financial Officer, Chief Investment Officer, Chief Operations Officer und Corporate Risk Manager diese vitale Herausforderung gemeinsam und koordiniert angehen.
Die Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft wird auch in Zukunft eine massgebliche Rolle beim unternehmerischen Management der Risikolandschaft spielen. Obwohl die Branche seit 2001 eine dramatische Kapitalerosion wegen versicherter Katastrophenschäden und schwacher Aktienmärkte hinnehmen musste, hat sie sich im Grossen und Ganzen als bemerkenswert robust erwiesen. Die Assekuranz hat ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, auch grösste unerwartete Schocks zu absorbieren. Insbesondere im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 hat sich das global diversifizierte Versicherungs- und Rückversicherungssystem bewährt.
Konventioneller Risikotransfer durch Versicherung oder Rückversicherung ist zwar nicht das einzige, aber gewiss ein unverzichtbares Element eines ganzheitlichen und kosteneffizienten Risikomanagement-Ansatzes. Ohne Versicherung oder Rückversicherung wären zum Beispiel Spitäler und landwirtschaftliche Betriebe kaum zu betreiben. Vor diesem Hintergrund stellt die Branche den unentbehrlichen Schmierstoff des volkswirtschaftlichen Motors zur Verfügung. Dabei kommt der Rückversicherungswirtschaft eine Schlüsselrolle zu: Auf Grund ihrer globalen Diversifikation und finanziellen Solidität ist sie in der Lage, auch grösste und komplexeste Risiken der Erstversicherer zu decken und damit versicherbar zu machen. Die Rückversicherung übernimmt somit eine wichtige Katalysatorfunktion für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt.
Dirk Lohmann (45) ist CEO von Converium, einem der zehn grössten Rückversicherungs-Unternehmen der Welt. Der Deutschamerikaner studierte Volkswirtschaft und Politologie an der Universität Michigan (USA). Seit 24 Jahren ist Dirk Lohmann in der Rückversicherung tätig. Er ist weltweit als Autorität in dieser Branche anerkannt.