Die jüngsten Diskussionen um die gesellschaftspolitische (Verhinderungs)-Macht von NGOs (Non-Governmental Organizations) in der Schweiz, aber auch die Erinnerung daran, was NGOs auf internationaler Ebene erreichen können – Stichworte Shell / Brent Spar, Landminenverbot, Fair Trade –, zeigen: Ohne Dialog geht es nicht oder wird vielleicht bald nichts mehr gehen.
Ist das Erwachen und Erstarken der Zivilgesellschaft, die vor allem durch die NGOs repräsentiert wird, ein historischer Paradigmawechsel?
Civil Society, Zivilgesellschaft: Dieser Begriff ist seit Mitte der Neunzigerjahre in den Sprachschatz eingegangen, nicht zufällig zusammen mit den Begriffen Internet und Globalisierung.
Zur Zivilgesellschaft gehören alle jene Teile der Gesellschaft, die man weder der Regierung und den zu ihr gehörenden oder ihr nahe stehenden Institutionen noch der Privatwirtschaft zuordnen kann, von den NGOs bis zu Bürgerinitiativen, die gewisse Aspekte des kollektiven Lebens global oder lokal verändern wollen.
Die Vernetzung der Information und deren leichte Zugänglichkeit über das Internet, das zunehmende Gefühl der Frustration gegenüber der weltweiten Entwicklung sowie die Überzeugung, dass weder die Politiker noch die Wirtschaftsführer der globalisierten Welt glaubhafte Lösungen für die zunehmenden Probleme der Gesellschaft anzubieten haben, lassen die Vertreter der Zivilgesellschaft ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
Weshalb dieses historische Novum, das recht plötzliche Erwachen und enorme Erstarken der Zivilgesellschaft?
Das Ende des Kalten Krieges hat die Geschichte verändert. Die globale Gesellschaft kannte vom Ende des Ersten Weltkrieges bis 1989 ein klassisches Gesellschaftsmodell, in dem ein Wettbewerb zwischen Ideologien und damit verbundenen Machtzentren bestand. Das Ringen um die geopolitische Vorherrschaft führte zu dem, was wir das Gleichgewicht des Schreckens genannt haben. Die Bipolarität, das heisst die dialektische Auseinandersetzung zwischen den zwei Machtpolen, zwang die beiden Supermächte und damit die Mehrheit der Staaten dazu, ihren Blick nach aussen zu richten, sich immer wieder neu im internationalen Gefüge zu positionieren und eine aktive Aussenpolitik zu formulieren. Die Politik hatte damit ein wenig bestrittenes Primat und die Möglichkeit, den Gesellschaftsrahmen zu definieren. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft, die Marktwirtschaft im Westen, die Planwirtschaft im Osten wie auch die Zivilgesellschaft ordneten sich weitgehend diesem politisch definierten Gesellschaftsrahmen unter.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums befinden wir uns in einer für die neuere Geschichte einzigartigen Übergangsperiode. Eine einzige Hegemonialmacht dominiert das Weltgeschehen. Der Zusammenbruch der bipolaren Dialektik hat die politische Landschaft total verändert. Der fehlende internationale ideologische Wettbewerb hat in den meisten Nationalstaaten zu einem Rückzug auf sich selbst, zu einer Nabelschau, geführt. Die internationale Politik vermittelt immer mehr den Eindruck von Beliebigkeit, Opportunismus und Orientierungslosigkeit.
Ohne klare staatliche und internationale Strategien, welche die Gesellschaft langfristig entwickeln und in das internationale Gefüge einbinden können, entsteht in vielen Staaten ein Vakuum, eine Art Dschungelrecht, in dem sich der Stärkere durchsetzt. Der Stärkere ist dabei üblicherweise derjenige, der sich nicht um das Allgemeinwohl kümmert und sozialen Grundwerten keine Beachtung schenkt. Das damit verbundene Fehlen von Perspektiven für breite Teile der Gesellschaft führt schliesslich zu jenen sozialen Spannungen, die Länder unregierbar machen.
Einzelne «aufgeklärte» Konzerne und Wirtschaftsführer haben die Zeichen der Zeit erkannt und setzen sich mit der Zukunft ernsthaft auseinander. Im World Business Council for Sustainable Development (WBCSD), 1992 im Rahmen des Erdgipfels von Rio vom Schweizer Unternehmer Stephan Schmidheiny gegründet, treffen sich über 160 der wichtigsten multinationalen Unternehmen, um gemeinsame Strategien im Bereich der schonenden Nutzung der Resourcen (Ökoeffizienz) und der Corporate Social Responsibility zu definieren.
Viele Unternehmen setzen sich, spätestens seit sie den zunehmenden Druck der Konsumenten und NGOs gespürt haben, für eine Richtungsänderung ein. Aber nach wie vor besteht ein grosser Nachholbedarf, der besondere Anstrengungen verlangt, wenn die freie Marktwirtschaft glaubwürdig bleiben und nicht in einen von der gesellschaftlichen Problematik völlig losgelösten, kurzfristig orientierten, «wilden» Kapitalismus abgleiten will.
Das wohl erkennbarste Resultat dieser Übergangszeit ist der rasant zunehmende Organisationsgrad der Zivilgesellschaft. Die Armut wird sichtbarer, das Klima verändert sich, die Ozeane werden leer gefischt, der Zugang zu sauberem Trinkwasser wird immer schwieriger, die Korruption und das organisierte Verbrechen nehmen zu, das Gefühl der allgemeinen Unsicherheit steigt. Angesichts des Versagens der traditionellen Strukturen nimmt sich nun eben diese Zivilgesellschaft der Zukunft selber an und spielt damit eine bisher noch nie dagewesene, starke Rolle.
Natürlich hat es immer Privatorganisationen gegeben. Aber ein eigentlicher Durchbruch fand um den Erdgipfel von Rio de Janeiro herum statt. Gab es 1990 noch 6000 international tätige NGOs, sind es heute über 26 000. In Argentinien bestanden 1983, am Ende der Diktatur, 500 lokale NGOs. Heute sind es 80 000. In Indien sind mehr als eine Million NGOs registriert. In Russland entstanden in den letzten zehn Jahren mehr als 100 000 Organisationen der Zivilgesellschaft, in Ungarn zwischen 1989 und 1993 mehr als 23 000.
Aber auch wirtschaftlich sollte diese neue Kraft nicht unterschätzt werden. Eine Untersuchung der Johns Hopkins University in 22 Ländern ergab schon 1999, dass die NGOs in diesen Ländern zusammen nebst der Freiwilligenarbeit, die sich auf 29 Millionen Vollzeitstellen aufrechnen lässt, 19 Millionen bezahlte Angestellte beschäftigen. Die NGOs dieser Länder haben ein kumuliertes Jahresbudget von 1100 Milliarden Dollar, was sie, wären sie geschlossen organisiert, zur achtgrössten Wirtschaftsmacht der Welt hochkatapultieren würde.
Meistens haben sich die NGOs der Verbesserung der lokalen oder globalen gesellschaftlichen Bedingungen verschrieben und tun dies mit viel Engagement, Mobilisierungskraft und oft auch Radikalität. Damit sind sie vor allem für die jüngere Generation, die sich oft von Staat und Wirtschaft verschaukelt vorkommt und nach Orientierung sucht, sehr attraktiv. Ihr Einfluss auf die Opinion-Leader wächst exponentiell.
Die sich ständig besser organisierende und vernetzende Zivilgesellschaft – Stichwort Porto Alegre – kann immer stärkeren Druck auf die Politiker, die schliesslich (wieder) gewählt werden, oder auf die Unternehmen, die ihre Kunden nicht verlieren wollen, ausüben. Deshalb ist es entscheidend, dass Politik und Wirtschaft den Dialog mit den neuen Kräften aufnehmen.
Es sind schon einige viel versprechende Erfahrungen mit einem partnerschaftlichen Ansatz zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft vorhanden: Der World Business Council for Sustainable Development beispielsweise hat die Corporate Social Responsibility zu einer Hauptzielsetzung erklärt.
Die neue Haltung gegenüber den NGOs, der Abbau von gegenseitigen Feindbildern, hat aber auch viel zu tun mit «enlightened self-interest» von Unternehmern, die glauben, dass ihr langfristiger Profit weitgehend von einer nachhaltigeren Gesellschaft mit einem stabilen Markt mit mehr Chancen für das Individuum, weniger Korruption, mehr Rechenschaft seitens der Politiker und der Unternehmer abhängt.
Die erfolgreichen Gesellschaften der Zukunft, so viel ist klar, werden jene sein, die einen erfolgreichen partnerschaftlichen Dialog zwischen Politikern, Wirtschaft und Zivilgesellschaft etablieren können.
Und die erfolgreichen Unternehmen werden in Zukunft jene sein, die im Dialog mit der Zivilgesellschaft von dieser die «licence to operate» zugesprochen erhalten.