Viele erinnern sich an die Bilder der Freudenausbrüche unmittelbar nach dem Scheitern der Ministerkonferenz der World Trade Organization (WTO) im September 2003 im mexikanischen Badeort Cancún. Minister umarmten Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen tanzten am Strand. Inzwischen macht sich Nüchternheit breit, auch Entwicklungsländer beginnen, sich gegenseitig die Schuld für das Scheitern zuzuschieben.

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Cancún sollte Fortschritte in klar definierten Themen und Etappen der Doha-Runde der WTO festschreiben, endete aber ohne Ergebnis. Es gibt wirklich keinen Grund, sich über dieses Scheitern zu freuen, denn wohin man schaut, sieht man Verlierer, darunter die Konsumenten, Bauern, auch die Unternehmen bei uns und in den ärmeren Ländern.

Zu den Konsumenten überall auf der Welt: Nach verschiedenen, in den Grössenordnungen vergleichbaren Schätzungen von Weltbank und International Monetary Fund (IMF) und führenden Universitäten brächte eine weitere Liberalisierung der Weltmärkte Wohlfahrts- oder besser Kaufkraftgewinne von mehreren Hundert Milliarden Franken.

Gegenwärtig treffen Importrestriktionen Personen mit geringerem Einkommen härter; vor allem Familien mit Kindern zahlen einen weit überdurchschnittlichen Anteil ihres Haushaltseinkommens für den Protektionismus, in der Schweiz etwa für
Agrarprodukte, in anderen Ländern auch für Textilien oder Spielzeug für die Kinder.

Ähnliche Benachteiligungen gelten für ärmere Produzentenländer. Einfuhren aus den ärmsten Regionen – mit Volkseinkommen unter einem Dollar pro Kopf und Tag – sind mit Zollsätzen von über 14 Prozent konfrontiert. Aus Regionen mit Einkommen über zwei Dollar pro Kopf und Tag werden die Lieferungen mit sechs Prozent wesentlich weniger – aber immer noch zu stark – belastet (Weltbank).

Die Doha-Runde soll genau solche unsinnigen, ich glaube, man muss sagen: ungerechten Zustände korrigieren. Zu ihren Zielen gehört der Zollabbau bei arbeitsintensiven Produkten – auch zwischen Entwicklungsländern – und die Reduktion von Protektionismus und Subventionen aller Art bei landwirtschaftlichen Produkten.

Worum geht es bei der Landwirtschaft? Nehmen wir die Schweiz als Beispiel. Nach Schätzungen des Bauernverbandes produzierten die Schweizer Bauern im Jahr 2001 für 7,2 Milliarden Franken. Abzüglich Vorleistungen und Abschreibungen bleibt eine Nettowertschöpfung von 1,4 Milliarden Franken. Um diese Wertschöpfung zu erzielen, werden Subventionsäquivalente in sechsfacher Höhe, nämlich von 8,3 Milliarden Franken, bereitgestellt (OECD); es findet Wertvernichtung in grossem Massstab statt. In der Regel wird dieser Aufwand mit positiven Nebeneffekten begründet, etwa bezüglich der Umwelt. Sicher sind hier über die letzten Jahrzehnte Fortschritte erzielt worden, beispielsweise mit dem biologischen Anbau, vor allem aber durch einen viel sorgsameren und sparsameren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der traditionellen Landwirtschaft. Aber entgegen der landläufigen Sicht ist der Agrarsektor nicht a priori umweltschonend. So übertrifft etwa das Abwasseraufkommen der Landwirtschaft – auch der biologischen Landwirtschaft – den prozentualen Beitrag des Sektors zum Bruttosozialprodukt um ein Mehrfaches; in der EU (Schweizer Zahlen werden vergleichbar ausfallen) verursacht die Landwirtschaft bei 2,2 Prozent Wertschöpfungsbeitrag zum Bruttosozialprodukt nahezu 10 Prozent der Treibhausgase.

Ein weiteres erklärtes Ziel der hohen Subventionsleistungen ist es, den Bauern ein Auskommen zu sichern. Aber trotz hohen Subventionsäquivalenten beträgt gemäss OECD das Einkommen bäuerlicher Haushalte in der Schweiz im Durchschnitt weniger als 75 Prozent des Einkommens aller Schweizer Haushalte (nicht zuletzt wegen der hohen Vorleistungskosten etwa bei Produkten, für die in Europa die Voraussetzungen sehr ungünstig sind, zum Beispiel Zucker).

Ein letzter Punkt in diesem Zahlenkaleidoskop zur Landwirtschaftspolitik: die Konsumentenseite. Im Durchschnitt beträgt der Subventionsaufwand für eine vierköpfige Schweizer Familie etwa 5000 Franken pro Jahr. Dieser Betrag entspricht nahezu dem doppelten durchschnittlichen Jahresbeitrag eines Arbeitnehmers in der Schweiz für die AHV.

Um es auf den Punkt zu bringen: Trotz grossen Belastungen der Bürger, trotz Anstrengungen aller Beteiligten werden die erklärten Ziele der Landwirtschaftspolitik, nicht zuletzt jenes der Nachhaltigkeit, bei weitem verfehlt.

Bei Nestlé sind wir deshalb schon seit längerer Zeit daran, Milchexporte aus Europa abzubauen (Ausfuhren aus OECD-Ländern waren allerdings immer nur ein beschränkter Teil des Nestlé-Umsatzes). Das heisst nicht, dass wir keine Zukunft für Bauern hier bei uns sehen, im Gegenteil. Selbst bei offenen Märkten werden rund 70 bis 80 Prozent aller landwirtschaftlichen Produkte aus dem Land, in dem sie konsumiert werden, stammen. Aber jetzt ist der Zeitpunkt da, wo die Politik jungen Bauern wieder dauerhafte langfristige Zukunftsperspektiven aufzeigt, mit sehr viel weniger Schutz und Subventionen und stattdessen gezielten Beihilfen entweder für eine Neuorientierung oder für klar definierte Ausnahmesituationen, etwa die Bergland- wirtschaft.

Wichtig ist ein Signal, dass langfristig die Konsumenten überall in den Ländern und nicht die Politiker in den europäischen Hauptstädten zufrieden zu stellen sind. Bauern sind Unternehmer, keine beamteten Subventionsempfänger. Wird allerdings mit den grundlegenden Veränderungen der Landwirtschaftspolitik in Ländern und WTO noch lange zugewartet, riskieren wir, dass keine Bauern mit Unternehmergeist mehr übrig bleiben.

In verschiedenen Punkten habe ich zuvor die Entwicklungsländer angesprochen: Ich habe einen guten Teil meiner Nestlé-Karriere in Lateinamerika verbracht und weiss um die schwierige Situation der Bauern dort. Einerseits leiden sie unter dem Protektionismus der Industrieländer, etwa wenn diese ihre Überschüsse unter Selbstkosten absetzen oder gar gratis verteilen, andererseits unter unzähligen strukturellen Problemen, von Landtiteln, die nicht durchgesetzt werden können, über zunehmenden Wassermangel bis zu kaum befahrbaren Strassen. Abbau der Subventionen der Industrieländer und Erleichterung des Marktzugangs für landwirtschaftliche Produkte aus Entwicklungsländern im Rahmen der WTO sind hier deswegen nur ein erster Schritt; die Bauern dort benötigen im Grunde noch umfassendere Hilfe als jene in industrialisierten Ländern, um wettbewerbsfähig zu werden. Gleichzeitig müssen auch Mittel und Wege gesucht werden, um Produzenten von Produkten wie Kaffee vor starken Preisausschlägen zu schützen. Hier habe ich verschiedentlich Vorschläge für eine wirksame Exporterlösstabilisierung für ärmere Entwicklungsländer gemacht.

Mein Unternehmen ist auf einen steten Nachschub hochwertiger landwirtschaftlicher Rohstoffe angewiesen, und dies zu Preisen, die auch für die grosse Mehrheit der Konsumenten in Entwicklungsländern mit geringer Kaufkraft erschwinglich sind. Gleichzeitig sollte auch die Weiterverarbeitung von Rohstoffen in den Herkunftsländern nicht mehr so stark behindert werden. Heute geschieht das etwa durch die so genannte Zolleskalation, das heisst durch Zölle in Industrieländern, die mit der Verarbeitungsstufe der Rohmaterialien steigen. Diese Zolleskalation dient beispielsweise dazu, die Herstellung von löslichem Kaffee in Industrieländern vor jener an ausländischen Standorten und durch ausländische Konkurrenten zu schützen. Auch hier sind wir bei Nestlé rascher unterwegs und nehmen nicht zuletzt auch im Interesse der Entwicklungsländer von den WTO-Negoziatoren erwartete Verbesserungen in diesem Bereich vorweg: Bereits heute werden etwa 55 Prozent des weltweit produzierten Nescafé in Entwicklungsländern hergestellt. Wir hoffen nun natürlich, dass die Politik folgen wird.

Das Scheitern in Cancún ist für niemanden Anlass zu Freude – weder für Konsumenten noch für Entwicklungsländer, noch für Industrieunternehmen. Die Verhandlungen müssen so rasch wie möglich wieder aufgenommen und mit klaren Prioritäten – darunter Landwirtschaft, Abbau von Zolleskalation bei Gütern aus Entwicklungsländern, Reduktion von Zöllen, die ärmere Produzenten und Konsumenten besonders hart treffen – zu einem baldigen, guten Ende geführt werden.

Peter Brabeck-Letmathe (59) ist Vizepräsident und CEO von Nestlé in Vevey. Der gebürtige Österreicher absolvierte die Hochschule für Welthandel in Wien. Seit 1968 arbeitet er für Nestlé, davon 17 Jahre in Südamerika. 1987 kam er zurück nach Vevey. 1992 wurde er Generaldirektor, 1997 CEO. Der passionierte Berggänger und Gletscherpilot ist mit einer Chilenin verheiratet und Vater von drei Kindern.