Die Verluste sind abgebucht, die Wunden geleckt. Drei Jahre nachdem die New Economy zu Ende gegangen war, haben sich die Turbulenzen einigermassen gelegt. Viele Unternehmen haben ihre Finanzen saniert und schmieden wieder Wachstumspläne. Auch die Schweizer Wirtschaft hat sich stabilisiert und erfreut sich an positiven Wachstumsprognosen. Stehen wir nun einfach am Anfang eines typischen nächsten Konjunkturzyklus? Oder hat die Entwicklung der späten Neunzigerjahre in der Schweiz längerfristig Spuren hinterlassen?
Werfen wir einen Blick auf die Herausforderungen, mit denen Unternehmen auf ihrem Wachstumspfad heute konfrontiert sind: Sie sind in den letzten Jahren keineswegs kleiner geworden. Einerseits sind Unternehmen weiterhin mit einer steigenden Anzahl von Wachstumsopportunitäten konfrontiert. Kontinuierlich werden Handelsbarrieren abgebaut, Märkte harmonisiert und modernisiert. Die EU ist auf 25 Länder angewachsen und ist nun mit 450 Millionen Einwohnern der grösste freie Markt neben China. Das Wirtschaftswachstum der Schwellenländer hat zu einer Kaufkraft geführt, die auch diese Märkte für eine stetig grössere Produktpalette attraktiv macht. Gemäss neuerem Research sollen die gesamten Bruttosozialprodukte der BRIC-Länder – Brasilien, Russland, Indien und China – in weniger als 40 Jahren grösser sein als diejenigen der G-6-Länder. In China beispielsweise können sich in absehbarer Zeit mehr Menschen ein Auto leisten als in den USA. Und der Trend zur Erhöhung der persönlichen Mobilität bleibt auch in den entwickelten Märkten ungebrochen. Übers Auto hinaus möchten die Konsumenten Handy, E-Mail, Internet, ja selbst ihre Musikstücke, ihre Fotografien und ihre Vermögensanlagen in mobiler Reichweite haben.
Andererseits sind dies Opportunitäten, deren Komplexität stetig zunimmt und deren Verwirklichung immer mehr Innovation und Aufbau von neuem Wissen notwendig macht. Opportunitäten, die immer kurzlebiger werden und um die sich im globalen Wettbewerb immer mehr Konkurrenten reissen. Heute mag sich eine Firma fragen: «Investieren wir nun in China oder Indien? Oder doch lieber in Osteuropa?» Unternehmen, die in diesem Umfeld erfolgreich wachsen wollen, setzen sich zwangsweise einem Risiko aus. Die Frage ist: Sind wir bereit, dieses Risiko zu tragen?
Seit dem Ende der New Economy hat die Wirtschaft mit einer zusätzlichen Wachstumshürde zu kämpfen: einer stark gesunkenen Risikobereitschaft. Die meisten haben in der New Economy viel verloren – die Öffentlichkeit das Vertrauen in die Wirtschaft und gesicherten Wohlstand, die Investoren viel Geld und eine beachtliche Anzahl Manager Job und Ansehen.
Initiierte Änderungen in der Corporate Governance – auch wenn sie grundsätzlich wünschenswert sind – werden zu einer weiteren, institutionalisierten Reduktion der Risikobereitschaft von Verwaltungsrat und Management führen. Denn beide werden für eingegangene Risiken zunehmend persönlich belangt. Kürzlich sprach ich mit einem sehr erfolgreichen Unternehmensführer über die Genesis von zwei äusserst Gewinn bringenden Akquisitionen. Beide waren damals bei einzelnen Verwaltungsratsmitgliedern sehr umstritten. Sehr wahrscheinlich würde heute ein Verwaltungsrat auf Grund grosser Vorbehalte von einzelnen Mitgliedern entscheiden, diese Käufe nicht zu tätigen – und damit mit dem Risiko eben auch die Chancen reduzieren. Die Entscheidungsprozesse in der Unternehmensführung haben einen Grad an öffentlicher Transparenz erreicht, der Vorsicht vor gesundes Unternehmertum zu stellen droht.
Diese reduzierte Risikobereitschaft steht im Gegensatz zu den Wachstumserwartungen an die Unternehmen. Vor allem kotierte Unternehmen werden unter dem öffentlichen Druck risikoreichere Geschäftsopportunitäten kaum mehr wahrnehmen können. Sie werden gezwungen sein, sich hauptsächlich auf ihr operatives Kerngeschäft zu fokussieren, wo das kurzfristige Risiko naturgemäss am tiefsten ist. Aktivitäten mit höherem Wertschöpfungspotenzial, aber auch höherem Risiko, wie das Aufbauen neuer Bereiche oder tiefer greifende Umstrukturierungen, werden sie nur noch begrenzt selber tätigen können. Sie werden dies vermehrt Dritten überlassen müssen. Es ist anzunehmen, dass der Rückgang von Risikoinvestitionen der kotierten Unternehmen von Private-Equity-Firmen und allenfalls privaten Investoren gedeckt wird. Die Unternehmen laufen daher Gefahr, ihre Wachstums- und Gewinnperspektiven nach unten korrigieren zu müssen.
Für ein Land wie die Schweiz wird diese Entwicklung Konsequenzen haben. Die weitere Senkung der schon grundsätzlich konservativen Einstellung zum Risiko könnte sich negativ auf die Wachstumsperspektiven der Schweiz auswirken. Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum gibt es in der Schweiz nur wenige Private-Equity-Firmen, die diese Investitionslücken schliessen könnten. Angesichts der freien Kapitalflüsse kann man erwarten, dass zum Beispiel risikoreiche Umstrukturierungsopportunitäten mehr und mehr von ausländischen Kapitalgebern ausgeschöpft werden. Dies dürfte nicht selten auch einen Abzug von Verantwortung und Arbeitsplätzen ins Ausland zur Folge haben. Schwieriger verhält es sich mit dem Aufbau neuer Unternehmen. Die begrenzte Bereitschaft, die nicht nur finanziellen Risiken beim Aufbau von neuen Unternehmen zu tragen, können auch ausländische Investoren nicht kompensieren.
Wachstum ohne Risiko gibt es nicht. Wir können jedoch Ansätze ausarbeiten, die dazu beitragen, dieses Risiko auf ein tragbares Mass zu reduzieren und zu steuern.
Grundsätzlich gibt es zwei – auf den ersten Blick gegensätzliche – Möglichkeiten, das Risiko von Wachstumsinvestitionen zu reduzieren: Fokussierung und Diversifizierung.
Um Risiken erfolgreich managen zu können, muss man sie möglichst gut kennen. Je weiter weg eine Wachstumsopportunität von den eigenen Kernkompetenzen ist, desto grössere Risiken birgt sie in sich. Es kann daher eine sinnvolle Strategie sein, sich bewusst auf das Management von gewissen Risiken zu spezialisieren. So hat die Swiss Re ihr Erstversicherungsgeschäft verkauft und sich ganz auf das Rückversicherungsgeschäft konzentriert, während die Zurich Financial Services ihr Rückversicherungsgeschäft verselbstständigt hat, um sich fortan voll und ganz dem Erstversicherungsgeschäft zu widmen. Indem ein Unternehmen sich dazu entschliesst, sich auf die Kernkompetenzen zu konzentrieren, entscheidet es sich auch für einen Umgang mit Risiken, die vertraut und somit besser steuerbar sind.
Andererseits dürfen Wachstumsstrategien nicht zu einem Klumpenrisiko führen. Anstatt den Geschäftserfolg von einer einzigen grossen strategischen Investition abhängig zu machen – was zwar schöne Gewinne einbringen kann, falls alles gut geht, aber auch das Potenzial hat, das Unternehmen zu Fall zu bringen, falls nicht –, kann es wirksamer sein, das Risiko zu diversifizieren. Ein Portfolio von Wachstumsopportunitäten mit unterschiedlichen und überblickbaren Risikokomponenten kann das Gesamtrisiko des Wachstums wesentlich reduzieren. So kann zum Beispiel die Produktion in mehreren Schwellenländern ein tieferes Risikoprofil haben als der Bau eines Grosswerkes in China oder Indien. Eventuell höhere Investitionskosten können dabei durchaus durch das tiefere Risiko wettgemacht werden.
Auf jeden Fall gehört ein laufendes Überprüfen des Geschäftsportfolios zur Pflicht. Um neue Risiken zu vermeiden, tendiert man dazu, weiterhin in das Bewährte zu investieren, anstatt sich mit neuen Ertragsmöglichkeiten, die ihre eigenen Risiken mit sich bringen, auseinander zu setzen. Die meisten Geschäftsaktivitäten haben aber einen zeitlich begrenzten Lebenszyklus mit entsprechenden Auswirkungen auf die Wertschöpfung und die erzielbaren Margen. Aus einer stark reduzierten Risikobereitschaft heraus nur das Bestehende weiterzu- entwickeln, kann am Ende das grösste Risiko sein. Denn wenn die Margen bereits erodiert sind, fehlen oft auch die Ressourcen, um einen anstehenden Umbau oder eine Neuausrichtung des Unternehmens zu finanzieren.
Sosehr der Widerwille, sich dem Risiko des Wachstums auszusetzen, verständlich ist, so sehr ist er vor allem für die Schweiz auch gefährlich. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir unseren Wohlstand längerfristig ohne Wachstum erhalten können. Und der einzige Weg, das Risiko des Wohlstandverlustes zu minimieren, liegt darin, neue unternehmerische Risiken einzugehen. Eine Aufgabe, die von allen Teilen der Gesellschaft wahrgenommen werden muss: dem Management, den Mitarbeitern, den Medien und der Öffentlichkeit.