Der Aktienkurs hat sich fürs erste nach Verkündigung des Verkaufs der Stromnetzsparte an Hitachi kaum bewegt. In Deutschland und im Schweizer Headquarter zittern die Mitarbeiter vor einem allfälligen Jobabbau. Und nicht der grösste Kunde der ABB-Stromnetzsparte, die chinesische State Grid of China, schliesst den Deal ab. Sondern die japanische Hitachi bekommt den politstrategisch bedeutsamen Konzernteil. Das schafft Unsicherheit.
Sicher war und ist nur, dass die Stromnetzsparte in irgendeiner Form nicht mehr Teil des ABB-Konzerns sein sollte. So wollten es die aktivistischen ABB-Investoren Cevian, Artisan Partners. Und zuletzt liess auch der grösste Aktionär, die schwedische Investorenfamilie Wallenberg durchblicken, dass die Aktie zeitweilig nicht der grösste Glücksfall ist.
Gerätselt wurde also nur noch darüber, wann der Deal stattfinden soll und an wen veräussert werden könnte. FT, Reuters und Bloomberg wurden im Monatsabstand mit Verkaufsgerüchten aus Insiderkreisen der ABB gefüttert. Von Verhandlungen mit den Japanern – Hitachi und Mitsubishi – sowie mit der chinesischen State Grid of China war die Rede.
Dass es nun Hitachi geworden ist, überrascht. State Grid of China ist der grösste Kunde der ABB-Stromnetzsparte. Die Chinesen waren immer hoch interessiert am Know-How der Schweizer. Bei Aufträgen spielte es stets eine Rolle, dass diese an ABB vergeben würden, wenn ein Teil des Wissensvorsprungs zur Verfügung gestellt wurde.
Nicht ohne China
Das Phänomen, dass China westlichen Firmen deren Know-How abringen will, beschäftigte sogar schon die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hat vor zwei Jahren bei ABB angeklopft, ob der Konzern nicht am Kauf des Roboterherstellers Kuka in Deutschland interessiert wäre, bevor die Chinesen zuschlagen. Bloss, um nicht an die know-how-hungrigen Chinesen auf der Jagd nach Wettbewerbsvorteilen zu verkaufen. Ohne Erfolg.
Klar ist, das Thema war - und ist - politisch heikel. Ob es nun um Roboter oder kritische Infrastrukturen wie die Stromversorgung geht. Auch die USA haben bekanntlich aus Gründen der nationalen Sicherheit immer wieder Probleme damit, dass chinesische Firmen sich die Bewirtschaftung kritischer Infrastrukturen in den Bereichen Verkehr, Mobilfunk und Energie unter den Nagel reissen wollen.
Jetzt liefern die Japaner diese kritische Infrastruktur an die Chinesen. Deren Präsidenten Xi Jinping und die Kommunistische Partei kann das auf den ersten Blick nicht freuen, welche die Kompetenz gerne in ihren eigenen Reihen gesehen hätten. Nicht ohne Grund dürfte deshalb die Kontaktpflege Spiesshofers mit China so einen hohen Stellenwert in der ABB haben. Und wohl nicht ohne Grund lief im Gleichschritt zu den Verkaufsverhandlungen ein Deal in China nach dem anderen über den Ticker.
Fokus auf Robotik
ABB hatte noch im November Absichtserklärungen mit einigen chinesischen Firmen unterschrieben - darunter State Grid und China Southern Power Grid. Und parallel zum Stromnetz-Verkauf an die Japaner bekommen die Chinesen Investitionen, Know-How und Jobs in der Robotik. Und das nicht zu knapp. «China könnte in den nächsten drei Jahren ABBs grösster Absatzmarkt werden und damit die USA ablösen», sagte ABB-Chef Ulrich Spiesshofer bereits 2017 dem «Handelsblatt». Damals wurde weltweit fast jeder dritte Roboter bereits nach China verkauft. «Peking honoriert die Tatsache, dass wir komplett und auch sehr früh lokalisiert haben», sagte Spiesshofer.
Bereits im Jahr 2005 verlagerte ABB seine Robotik-Zentrale nach China. Heute beschäftigt das Unternehmen 18000 Mitarbeiter in China, davon allein 2000 in der Forschung und Entwicklung. Im Oktober hatte ABB die 150 Millionen Dollar teure Investition in den Bau einer Roboterfabrik in Schanghai verkündet. Im November wurde ein Innovations- und Forschungszentrum in Xiamen im Wert von 300 Millionen Dollar eingeweiht.
Zeitgewinn für Spiesshofer
Nicht zuletzt könnte der Deal Ulrich Spiesshofer helfen, gegenüber den Aktionären Zeit zu gewinnen, wenn die Aktie doch nicht wie erhofft nach dem Verkauf an Hitachi abhebt. Immerhin muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, von seinem Argument, die Stromnetzsparte sei ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil der ABB, abgerückt zu sein. Das nährte Spekulationen, seine Zeit beim Schweizer Industrieriesen sei abgelaufen.
Den Verkaufserlös aus der Stromnetzsparte will er an die Aktionäre ausschütten. Die Komplexität der Organisation soll reduziert werden. Und das Segment Antriebstechnik soll als vierter Geschäftsbereich mit Wachstumspotenzial aufgebaut werden.
Was der Verkauf Spiesshofer zudem ermöglicht, ist eine völlig neue Argumentationsschiene für den Geschäftsverlauf. Er kann sich von den bisherigen Zielzahlen verabschieden. Ein «neuer Konzern-Zielrahmen» wird definiert.