Die Uhr stoppte bei 3 Stunden, 59 Minuten und 21 Sekunden. Anton Affentranger, Chef von Implenia, dem grössten Schweizer Baukonzern, legte Anfang Mai am Genfer Marathon eine Punktlandung hin. Unter vier Stunden wolle er laufen, hatte er zwei Tage vor dem Startschuss gesagt. Mission erfüllt.
Noch schneller unterwegs ist der 57-Jährige bei Implenia. Die Mittelfristziele erreichte der Konzern vorzeitig, der Betriebsgewinn kletterte 2012 auf über 100 Millionen Franken, der Umsatz auf knapp 2,7 Milliarden, die Zürcher erzielen branchenunüblich hohe Renditen von 34 Prozent auf dem investierten Kapital, die Aktie notiert 70 Prozent über Vorjahr: 2012 war ein Rekordjahr.
Das Ergebnis ist für Affentranger eine Bestätigung. Anfang Oktober 2011 trat er als VR-Präsident ab und übernahm nach Abgängen an der Konzernspitze zum zweiten Mal die operative Leitung. Viele zweifelten. So auch Max Rössler von der Parmino Holding, mit 16 Prozent grösster Implenia-Aktionär: «Die Skepsis nach den vielen Abgängen war gross; auch ich war etwas verunsichert. Doch die Entwicklung und die Zahlen zeigen seither, dass Affentranger der Richtige ist.» Der Konzernchef könnte sich zurücklehnen und sich sagen, dass er es allen gezeigt habe. Doch Affentranger lebt hochtourig. «Das ist alles Geschichte», pflegt er Mitarbeitenden zu sagen, die sich zu lange selber auf die Schulter klopfen.
Wechsel zwischen Zuckerbrot und Peitsche
Anfang Mai besuchte er das örtliche Management und Mitarbeitende in Chur. Der Manager, dem nachgesagt wird, dass er neben sich niemanden dulde, erwies sich nicht als distinguiert, sondern als Chef zum Anfassen. Toni, wie sie ihn nennen, gibt sich volksnah. Er duzt Mitarbeiter, kennt viele beim Vornamen, tauscht Nettigkeiten aus, hört sich persönliche Schicksale an. In diesem Moment ist der verbissene Marathonläufer – Affentranger nennt es «leidenschaftlich» – fern. Dann steht er auf der Bühne und sagt: «Implenia ist für mich nicht gut genug in der Kundenorientierung».
Affentranger weiss, wann Zuckerbrot und Peitsche angebracht sind. «Wir müssen aufpassen, dass wir nicht bequem werden», sagt er. Zwar läuft Implenia wie eine gut geölte Maschine. Doch die strategischen Baustellensignale sind in Sicht. Das Jahrhundertbauwerk Neat neigt sich der Vollendung zu, die Erträge aus dem 24-Milliarden-Projekt kommen nicht wieder. Der Schweizer Markt ist zu klein, wachsen kann Implenia nur im Ausland. Und schliesslich muss Affentranger die Implenia-Spitze so organisieren, dass er dereinst einen Nachfolger aus den eigenen Reihen berufen kann.
Noch ist das Zukunftsmusik. Doch sie ist bereits hörbar. «Ich werde sicher nicht bis 65 Jahre an der Spitze von Implenia stehen», sagt Affentranger. Die ersten Schritte hat der Konzern eingeleitet. Implenia, 2006 entstanden durch die Fusion von Zschokke und Batigroup, bündelte im März ihre Aktivitäten neu, entfernte eine Managementschicht, erweiterte dagegen das neue Group Executive Board von fünf auf neun Mitglieder. Die Führung werde dadurch flacher und die Konzernleitung sei näher am Geschäft, sagt Affentranger. Neu sitzen die Chefs aus der Romandie und Norwegen am Tisch, Sitzungssprache ist Englisch. Das verkompliziere zwar die Sitzungen, lacht Affentranger, aber es sei zu bewältigen. Seinen Nachfolger möchte er intern rekrutieren. «Vielleicht ist es jemand aus der jetzigen Führung, vielleicht eine Stufe tiefer, vielleicht ist die Person gar noch nicht bei Implenia», sagt er sibyllinisch.
Kronprinzen
Noch ist es nicht so weit. Altersmässig gäbe es in der aktuellen Führungscrew aber Alternativen. Der 46-jährige René Zahnd leitet die Sparte für komplexe Hochbauten. Er verantwortet die Hälfte des Konzernumsatzes – sein Bereich steuert aber nur knapp ein Fünftel zum Betriebsgewinn bei. «Das kann doch nicht sein», stichelt Affentranger vor versammelter Mannschaft in Chur. Die Ebit-Marge liegt bei tiefen 1,5 Prozent. Zahnd hat ein Ziel «nördlich von zwei Prozent» ausgegeben. Neu aufgestiegen in die Konzernspitze ist Reimer Siegert (44). Er führte bis anhin eine kleine Stabseinheit, jetzt ist er Chef des Bereichs Umbau und Projektentwicklung mit 300 Mitarbeitenden. Am Umsatz gemessen klein, steuert Siegert so viel zum Betriebsgewinn bei wie keine andere Sparte.
Implenia hat die Nachfolgeplanung begonnen – endlich. Die Wahl des CEO endete zuletzt im Debakel. Werner Karlen musste 2009 nach 65 Tagen gehen. Sein Nachfolger Hanspeter Fässler hielt sich vergleichsweise lange, nach 15 Monaten war aber auch bei ihm Schluss. «Ich und mit mir der Verwaltungsrat haben zweimal einen Fehlentscheid getroffen», räumt Affentranger ein, der Implenia damals präsidierte. Er sei während dreier Jahre mehrheitlich mit dem Hedge Fund Laxey beschäftigt gewesen, der ab 2007 Implenia zu übernehmen versuchte. «Ich hatte operativ mit Implenia selbst wenig zu tun», erinnert sich Affentranger, «und mir wurde spät bewusst, dass CEO Christian Bubb auf einmal im Pensionsalter war.» Intern habe es keine Kandidaten gegeben, also habe man extern gesucht. Das ging zweimal schief. «Danach getrauten wir uns nicht mehr zu suchen, weshalb ich den Posten definitiv übernahm.» Affentranger der Notnagel? Kenner sehen das anders. Er sei misstrauisch, wisse alles besser und habe selbst anpacken wollen.
Platz für andere
Den Vorwurf, dass es neben ihm keinen Platz für andere gebe, lässt Affentranger nicht gelten. «Ich glaube nicht, dass es schwierig ist mit mir. Ich kann aber manchmal unmöglich sein. Das ist normal. Das Führen von Implenia ist nicht die Pfadi.» So schlimm ist er auch nicht. Seit seinem Antritt ist Implenia personell stabil. Die neue Organisation ist aber zentralistischer und stärkt die Position des CEOs. Ob es funktioniert, hängt davon ab, welche Freiheiten Affentranger den bislang föderalistisch organisierten Einheiten lässt.
Auch der Verwaltungsrat wurde durchgeschüttelt. Der ehemalige Holcim-CFO Theophil Schlatter und Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger strichen nach nur zwei Jahren die Segel. Der Magistrat sollte als Gesicht stehen für Implenias Nachhaltigkeitsschiene. Sein Input soll aber bescheiden gewesen sein; öfters geriet er zudem mit Affentranger aneinander. Die beiden wollten sich gegenüber BILANZ nicht äussern. Schlatter und der Bundesrat a.D. werden von der ETH-Professorin Sarah Springman, der Anwältin Chantal Balet Emery, dem ehemaligen KPMG-Schweiz-Chef Hubert Achermann und Bühler-CEO Calvin Grieder ersetzt. Hinter dem aufgestockten VR stecke keine Strategie, heisst es bei Implenia. Man habe gute Leute gesucht und gefunden.
Eine andere Baustelle des Baukonzerns liegt im Gotthardmassiv. In drei Jahren sollen die Züge fahrplanmässig durch die 57 Kilometer lange Neat fahren; die stetig fliessenden Erträge bleiben dann aus, der Markt schrumpft. Affentranger: «Das Volumen, das die Neat in den Schweizer Tunnelmarkt gebracht hat, fällt ersatzlos weg.» Kompensieren kann der Baukonzern ein solches Milliardenprojekt nicht direkt. Operativ lässt sich die Zitrone noch etwas auspressen, etwa im Beschaffungswesen. Bislang kauften die Einheiten unabhängig voneinander ein. Künftig wird die Beschaffung auf Konzernebene angesiedelt.
Geschäft in Norwegen
Zumindest federt das Projektentwicklungsgeschäft die versickernden Einnahmen aus dem Gotthard ab. Implenia kauft Land, entwickelt darauf ein Projekt und verkauft es in der Regel, wenn die Baubewilligung vorliegt, mit der Auflage, dass Implenia bauen darf. «Hier erzielen wir Margen, die bedeutend höher liegen als im eigentlichen Bau», sagt Affentranger. Zum Beispiel in Oerlikon, wo Implenia zwei Wohnhochhäuser baut. (siehe «Planspiele» auf Seite 50). Doch das Konzept hat seine Tücken. Bleiben die Käufer weg und wird weniger gebaut, «dann wäre davon das Projektentwicklungsgeschäft negativ tangiert», sagt Martin Hüsler, Analyst bei der ZKB. Implenia bliebe auf hohen Kapitaleinsätzen sitzen. Stark steigende Zinsen oder ein Zuwanderungsstopp wären fatal. Implenia sieht ihre Zukunft daher auch in der Vergangenheit. Drei Viertel der Wohngebäude in der Schweiz sind älter als dreissig Jahre. Renovationen sollen Volumen bringen und den Betriebsgewinn auf 140 bis 150 Millionen Franken steigern.
Zusätzliches Volumen bolzt Implenia nicht in der Schweiz, sondern in Norwegen. «Dort beträgt der Infrastrukturmarkt rund 13 Milliarden Franken und wächst bis 2015 auf 16 bis 17 Milliarden», sagt Affentranger. In der Schweiz stagniert der Markt bei rund 10 Milliarden.
Auslandabenteuer
Grossaktionär Rössler ist damit nicht glücklich: «Schweizer Baukonzerne hatten im Ausland selten Erfolg.» Auch Implenia nicht. Vor sechs Jahren wagte der Konzern mit der Margerite im Logo den Schritt nach Russland. Affentranger sprach gar vom «zweiten Heimmarkt». Die Finanzkrise bremste das Vorhaben. «Zum Glück», sagt er heute. «Osteuropa passt heute noch nicht zu uns.» Implenia setze auf gesunde Märkte, in denen der Staat in die Infrastruktur investiere und gesund sei. Die Schweiz, Norwegen und Schweden erfüllen diese Kriterien. Bislang gibt ihm der Erfolg recht. Das Volumen in Norwegen hat sich im letzten Jahr mehr als verdoppelt. 300 der anvisierten 500 Millionen Franken, die Implenia bis spätestens 2017 zulegen will, sollen aus dem Ausland stammen.
Investor Rössler bleibt skeptisch. «Implenias Norwegengeschäft entwickelt sich bis jetzt gut, wobei es Implenia in der nächsten Zeit auch noch bestätigen muss.» Zumal der Eintritt in den Markt nicht einer fundierten Analyse entsprang, sondern dem Zufall. Implenia bot für einen Unterseetunnel in Stockholm, verlor, schaute sich in Skandinavien um, bemerkte, dass die norwegische Regierung einem National Transport Plan folgte, und übernahm die Firma Betonmast Anlegg. In den nächsten zehn Jahren steckt der Staat mehr als 80 Milliarden Franken in die Verkehrsinfrastruktur.
Nicht nur Norwegen bohrt sich durch Berge. Frankreich und Italien bauen zwischen Lyon und Turin einen ähnlich langen Tunnel wie die Neat. Die Strecke soll 25 Milliarden Euro kosten und bis 2029 erstellt sein. Der französische Konzern Bouygues möchte sich das Prestigeprojekt sichern, mit Implenia als Juniorpartner. «Bouygues fragte uns an, ob wir mit ihnen für den Tunnel böten. Da hilft uns die Neat-Erfahrung», sagt Affentranger.
Implenia und die regionalen Probleme
Im heimischen Chur kämpft der Konzernchef mit regionalen Problemen. Auch seine Mitarbeiter sind nicht um Kritik verlegen: Formularflut, Abteilungen, die nur auf ihre eigene Kasse schauten, Implenias Zahlungsmoral. Kein Problem für Affentranger, der die Fragen routiniert pariert. Implenia ist auf Kurs, 2013 dürfte der Konzern erneut zulegen, erstmals scheint das Auslandengagment zu greifen. Affentranger, ausgebildeter Banker, reüssierte als Quereinsteiger. Im Baugeschäft ist das eine Leistung, das gestehen ihm selbst die Kritiker zu. «Ich habe Affentrangers Entscheide grundsätzlich immer befürwortet», lobt Rössler. Marathonläufer Affentranger hat nur ein Problem: René Zahnds Sparte mag mit tiefen Margen kämpfen – auf der Rennstrecke ist er schneller. Zahnd, Läufer wie auch einige andere Konzernleitungsmitglieder, distanzierte im letztjährigen Genfer Marathon seinen Chef um mehr als eine halbe Stunde.