Peter Spuhler hat das vollbracht, was sie in Brasilien ein Wunder nennen. Ein weisses Kreuz auf rotem Grund ziert die weltberühmte Christusstatue von Rio de Janeiro.
Es ist ein Geste der Dankbarkeit an Spuhlers Firma Stadler Rail. Die Thurgauer Zugbauer liefern die neuen Züge für die Corcavado-Bahn, die Touristen auf den Aussichtsberg und zur Statue bringen. Zehn Jahre zogen sich allein die Verhandlungen um den Auftrag – und das, obwohl der nur knapp 25 Millionen Franken schwer ist.
Ein solider Mittelständler
Was für Brasilien voller Prestige und Symbolik steckt, war für Stadler Rail nur ein Auftrag von vielen. Zuletzt erhielten die Schweizer Zuschläge für den Bau von elf Strassenbahnen in Augsburg, für 34 Lokomotiven in Taiwan und 22 weitere in Spanien. Das klingt nach einem soliden Mittelständler.
In den vergangenen 32 Jahren machte Mogul Spuhler aus einer Manufaktur mit 18 Mitarbeitern einen Konzern, der in einem Atemzug mit Siemens und Alstom genannt wird und milliardenschwer ist. Doch jetzt wächst der Druck auf den 60-Jährigen – von der Konkurrenz aus China, dem Brexit und seit dem Frühjahr auch von der Schweizer Börse.
Sie haben beim Börsengang von Stadler Rail 1,4 Milliarden Franken eingenommen. War das eine Belohnung für Ihre Arbeit – oder nur ein unternehmerischer Schritt?
Wenn Sie eine Firma 32 Jahre lang aufbauen, müssen sie sich irgendwann fragen, wie sie noch fitter für die Zukunft werden. Wir wollten die Möglichkeit haben, uns für weiteres Wachstum Mittel über den Kapitalmarkt beschaffen zu können. Gleichzeitig ist eine Börsennotierung in gewissen Märkten ein zusätzliches Gütesiegel, etwa im angelsächsischen Raum und in Skandinavien.
Für unseren weiteren Kurs haben wir jetzt nicht nur den Konzern hinter uns, sondern auch die Aktionäre. Aber es ist natürlich richtig, dass beim Börsengang einiges Kapital zurück in meine private Holding kam. Davon habe ich die Hälfte bereits wieder investiert, auch bei Stadler. Ich suche nicht mit der Kasse unter dem Arm das Weite.
Vielleicht sollten Sie sich das überlegen. Nach dem Start wurden die Papiere von der «Finanz und Wirtschaft» kürzlich zum «Liebhaberwert für Eisenbahnbegeisterte» degradiert.
Wir sind aktuell auf dem höchsten Kursniveau bei circa 48 Franken. Das sind fast 25 Prozent über dem Ausgabekurs von 38 Franken vom 12. April 2019. Aber wir stehen natürlich vor Herausforderungen. Wir machen einen Umsatzsprung von zwei auf knapp vier Milliarden.
Das hinterlässt Spuren. Gleichzeitig sind wir erneut starken Währungsschwankungen ausgesetzt: Die Hälfte der Produktionsleistung in der Schweiz wird exportiert; da spüren wir das Erstarken des Schweizer Frankens ganz besonders. Auch dem Pfund, das deutlich im Wert schwankt, sind wir ausgesetzt – und in Grossbritannien steht der Brexit unmittelbar bevor, was die Unsicherheit dort weiter erhöht. All das sind geopolitische Herausforderungen, auf die wir keinen Einfluss nehmen können.
Also lautet die Devise: Aktien verkaufen?
Wir haben einen Auftragsbestand von knapp 15 Milliarden Franken, was einen neuen Rekord darstellt. Für mich ist das ein sehr wichtiger Aspekt, mit dem wir unsere Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis stellen können – trotz des schwierigen globalen Umfelds. Angesichts der rezessiven Tendenzen in Europa und den USA geben mehrere Jahresumsätze in den Büchern eine gewisse Sicherheit – auch für die Aktionäre.
Kürzlich haben sie Aufträge für elf Strassenbahnen in Augsburg, 34 Lokomotiven in Taiwan und 22 weitere in Spanien erhalten. Sind viele, scheinbar kleinere Aufträge teil ihrer Unternehmensstrategie?
Für uns sind das keine kleinen Aufträge, sondern jedes Mal zweistellige Millionenbeträge. Wir sind gerade in Europa sehr stark aufgestellt. Mit einem durchschnittlichen europäischen Bestellvolumen von elf Milliarden Euro pro Jahr, bei einem weltweiten Volumen von 55 Milliarden Euro jährlich, ist Europa das global grösste Marktgebiet.
Und hier sind wir nicht weit entfernt von den Marktanteilen von Siemens und Alstom. Mit unserem neuen Werk in den USA wollen wir Nordamerika als wichtige Marktregion erschliessen. Dort haben wir schon mit einigen Aufträgen für Furore gesorgt. In Südostasien, wo wir schon mehrmals Fuss fassen wollten, ist uns mit Aufträgen aus Taiwan und einem Joint-Venture in Indonesien der erste Schritt gelungen.
Ist das nächste Ziel ihrer Asienexpansion dann der chinesische Markt?
Nein. China ist für uns ein geschlossener Markt. Da müssen wir gar kein Angebot abgeben, wir haben ohnehin keine Chance. Das gilt für eine Handvoll geschlossener Märkte, auf denen wir gegen eine Wand laufen, etwa für Japan, Südkorea und Frankreich, wo praktisch nur bei inländischen Unternehmen bestellt wird. Wir lassen die Finger davon, denn es gibt noch so viele Märkte, auf denen wir sinnvoller angreifen können.
Das Problem ist aber doch, dass es die Chinesen andersherum machen. Die stehen mit ihren Produkten bei uns vor der Tür – zum Kampfpreis.
Ich bin sehr liberal, was die Öffnung der Märkte betrifft. Aber die Spiesse müssen gleich lang sein. Deshalb bin ich, zumindest in diesem Punkt, mit Trump einverstanden. Der Westen muss die Marktverzerrung über staatlichen Subventionen, das Aufkaufen von Märkten und Technologieunternehmen durch Staatsunternehmen, stärker sanktionieren.
Ich habe nichts dagegen, wenn die Chinesen Europa angreifen – Wettbewerb tut gut. Aber dann müssen auch wir Westeuropäer auf dem chinesischen Markt akzeptiert werden. Genau das ist nicht der Fall. Dass mal jemand auf den Tisch haut, finde ich absolut richtig.
Europa, immerhin Kernmarkt im weltweiten Bahngeschäft, haut also nicht genug auf den Tisch.
Nein. Ich bin der Meinung, Europa ist politisch zu schwach aufgestellt. Wir sollten unsere globalen Interessen als ganzer Kontinent konsequenter vertreten. Aber das schwierige Konstrukt der Europäischen Union ist dabei im Nachteil. Russland oder China haben mit ihren Staatsformen und ihrem Präsidialsystem in diesem Punkt einen Vorteil, was langfristige strategische Überlegungen anbelangt – leider, muss man sagen.
Dann muss Sie die gescheiterte Fusion von Siemens und Alstom innerlich zerrissen haben. Die beiden wären ein toller Konkurrent gegen China gewesen – aber auch ein Gegner für Sie.
Wir haben uns nicht gegen diese Fusion gewehrt. In einigen Bereichen wäre die Marktmacht aber zu sehr ausgeprägt gewesen. Beim neuen europäischen Zugsicherungssystem ETCS wäre ein Marktanteil in Europa von circa 90 Prozent erreicht worden.
Aber wir wollten, dass die Fusion zustande kommt. Denn unsere Branche ist ein Projektgeschäft – kein Produktgeschäft. Grösse ist hierbei nicht zwingend ein strategischer Vorteil, weil die Skaleneffekte sich zu wenig durchschlagen.
Wir haben 1800 «Flirt»-Züge in 18 Länder verkauft, aber immer mit kundenspezifischen Anpassungen. Das ist in der Automobilbranche oder Luftfahrt ganz anders, wo über die Grösse auch Kosteneffekte erzielt werden. Die Fusion hat für uns deshalb eine untergeordnete Rolle gespielt. Die Chinesen kommen meiner Meinung nach sowieso und werden sich auf Grossserien konzentrieren. Wir sind besonders bei mittleren Aufträgen stark – da haben wir noch eine Menge dagegenzuhalten.
Und was haben Sie zu bieten?
Wir sind dauerhaft in viele Ausschreibungen involviert. Bei Strassenbahnen und Lokomotiven haben wir in Europa aber sicherlich noch Nachholbedarf. Wir kommen demnächst in diesen beiden Bereichen mit neuen Fahrzeugkonzepten auf den Markt. Dafür haben wir gerade im Green-Technology-Markt einen ersten grossen Auftrag aus Schleswig-Holstein mit 55 Akkuzügen bekommen. In diesem Segment haben wir gute Chancen, zukünftig weiter zu wachsen.
Die Green Technology wird für den Verkehr auf der Schiene eine zentrale Zukunftsbedeutung haben. Beim ersten grossen Auftrag in Schleswig-Holstein setzen Sie auf Strom statt auf Wasserstoff. Ist das eine richtungsweisende Entscheidung?
Wir haben das Glück, dass wir bei beiden Technologien unsere Eisen im Feuer haben. In Schleswig-Holstein und den Niederlanden bringen wir Akkuzüge auf die Schiene, bei der österreichischen Zillertalbahn setzen wir auf die Brennstoffzelle. Ich persönlich glaube, dass sich der Akkuzug durchsetzt.
Denn alle Linien und Strecken, die zumindest teilweise elektrifiziert sind, haben hier einen klaren Vorteil: Auf den nicht elektrifizierten Teilstücken fahren sie im Batteriebetrieb und können bis zu 150 Kilometer überbrücken. Ist die Oberleitung wieder da, fahren sie wie ein Elektrotriebzug und laden ihre Batterie parallel wieder auf. Die Brennstoffzelle hat einen entscheidenden Vorteil auf nicht elektrifizierten Strecken über grosse Strecken. Aber die Technologie birgt auch gewisse Risiken, etwa bei der Betankung. Wir sind selbst gespannt, was sich durchsetzt.
«Ich persönlich glaube, dass sich der Akkuzug durchsetzt.»
Aber Sie plädieren dafür, das Akku-Eisen im Feuer stärker zu schmieden.
Ich glaube, dass schlussendlich Kunden und Märkte entscheiden. Wir müssen in der Lage sein, die Forderungen aus der Politik aufzunehmen und entsprechende Angebote zu liefern.
Es geht nicht darum, was sich Peter Spuhler wünscht, sondern was der Kunde will. Unsere Aufgabe ist dann, diesen Wunsch zu einem wettbewerbsfähigen Preis mit der entsprechenden Technologie zu erfüllen.
Hat denn die Deutsche Bahn schon eine Ausschreibung für einen Akku-ICE in der Schublade, die man ihnen schon mal geschickt hat?
Einen Akku-ICE wird es wohl nicht brauchen, da diese Strecken vollständig Oberleitung haben - aber eine Anfrage der Deutschen Bahnwird sicher kommen. Gerade nach dem Auftrag aus Schleswig-Holstein haben wir viele Anfragen erhalten, auch international.
Aber wie wichtig ist der deutsche Markt für Sie?
Der deutsche Markt ist nicht nur für Green Technology sehr wichtig, er ist generell ein entscheidender Bahnmarkt. Alle unsere Konkurrenten sind hier involviert. Deutschland ist ein Gradmesser: Wer sich hierzulande durchsetzen kann, dem gelingt das auch in anderen Märkten.
Werden Sie diese Schritte bei Stadler Rail noch aktiv mitgehen? Schliesslich haben Sie sich als heutiger Verwaltungsratspräsident bereits aus dem operativen Geschäfts zurückgezogen.
Der Verwaltungsrat hat im Schweizer Recht viel mehr gesetzliche Rechte und Pflichten als ein deutscher Aufsichtsrat. Die Führung des Strategieprozesses, «Mergers & Acquisitions»-Projekte, strategischen Lokalisierungsanteile bei Joint Ventures, die Begleitung des Angebotsprozesses sowie dessen Freigabe, die strategische Produktentwicklung und auch die Kundenpflege liegen in der Verantwortung des Verwaltungsrates. Diese Verantwortung nehme ich sehr gerne wahr.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass der schrittweise Rückzug mit 60 Jahren die richtige Entscheidung war. Es gibt nichts Schlimmeres als Unternehmer, die ewig an ihrem Sessel kleben.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel: «In China haben wir keine Chance».