Die Sonne brennt in Adliswil, als Nora Spanudakis (19) und Kevin Braunschweig (20) zum Fotoshooting erscheinen. Er, lässig in Poloshirt und Sneakers, sie, in Shirt und Jeans, drücken für ein paar Minuten wieder die Schulbank der Zurich International School (ZIS), die sie vergangenes Jahr abgeschlossen haben. Nora und Kevin kennen die ZIS von der Pike auf. «Ich habe vom Kindergarten an sämtliche Stufen durchlaufen», sagt Nora schmunzelnd, «und bin die Ausnahme.» Schwierig, bei immer neuen Kameraden einen Klassenspirit zu entwickeln. Das sei nicht immer «super» gewesen.
Anders Kevin. Der amerikanisch-schweizerische Doppelbürger wechselte nach dem Kindergarten an der ZIS an die Jüdische Schule Noam in Zürich. An die öffentliche Schule und ans Gymi wollte er nicht. «In der sechsten Klasse habe ich entschieden, dass ich in den USA studieren will», sagt Kevin, der seiner zehn Jahre älteren Schwester nacheifert. Sie hatte ihn auf den Geschmack gebracht, vom Leben in den USA erzählt, vom College geschwärmt.
Die Welt sehen
«Also ging ich zurück an die ZIS, schloss das Advanced Placement ab und habe vergangenes Jahr mein Business-Studium in Boston begonnen.» Im September startet er das dritte Semester an der renommierten Brandeis University. An der ZIS habe ihm das Gemeinschaftsgefühl gefallen und das ausserschulische Angebot, schwärmt der Student. Dem aufgeweckten Jungspund gefällt es in Boston. Und doch sagt der Sohn einer Amerikanerin und eines Schweizers: «Meine Zukunft sehe ich derzeit in der Schweiz.» Vielleicht auch deshalb, weil Kevin kein klassisches Expat-Kind ist, sich nicht alle paar Jahre an eine neue Umgebung gewöhnen musste, die Eltern nicht für multinationale Unternehmen arbeiten, sondern für die ZIS und das gehobene Warenhaus Globus.
Nora ist wie Kevin in Rüschlikon ZH aufgewachsen. «In der Schweiz ist es schön», sagt sie, «aber nach dem Studium zurückkehren? Nein, der Gedanke liegt mir fern.» Sie studiert seit zwei Semestern an der Universität Warwick Biomedizin, an einer der besten britischen Hochschulen, und will die Welt entdecken. Wie ihr griechischer Vater, der vor Jahren für eine Stelle bei Dow Chemical in die Schweiz immigrierte und heute CEO eines griechischen Unternehmens ist. «Ich wollte mal raus aus der Schweiz, mache Praktika in verschiedenen Ländern», sagt die 19-Jährige mit deutschem, griechischem und Schweizer Pass.
Zu wenig Schulen
Rund 3400 Schüler besuchen im Kanton Zürich eine internationale Schule. Das sind gerade mal 1,6 Prozent aller Schüler. Zwar listet die Swiss Group of International Schools 39 Institute. Aber nicht alle folgen den einheitlichen Schulplänen etwa der International-Baccalaureate-Organisation. Viele orientieren sich an den kantonalen Lehrplänen. Die Boston Consulting Group kam schon vor drei Jahren zum Schluss, dass es in der Schweiz zu wenige internationale Schulen gebe. Seither hat sich die Lage verschärft. Zum einen wurde das Wachstum unterschätzt. Die Schülerzahlen haben sich vervielfacht, wie etwa an der kleinen International School Winterthur. Das junge Institut, 2002 gegründet, startete mit zwölf Schülern. Heute sind es 168. Von Wirtschaftsdellen fast unberührt – die Dotcom-Bubble verlangsamte das Wachstum, die Finanzkrise liess die Schülerzahlen schmelzen –, wächst die Schule wieder im zweistelligen Prozentbereich und ist über Vorkrisenniveau.
Das gleiche Bild in Wädenswil. Die fast 50-jährige ZIS führt seit Jahren Wartelisten. Nächstes Schuljahr dürften gegen 1500 Kinder und Jugendliche ihr schulisches Rüstzeug an den fünf Standorten erhalten – 50 Prozent mehr als im Schuljahr 2006/07. Vor drei Jahren expandierte die ZIS: in Adliswil (Neubau für 36 Millionen Franken) und auch ausserkantonal in Baden (zur Miete). «Bei der Planung für den Neubau des Oberstufenschulhauses in Adliswil schätzten wir 2004 die Schülerzahl für das Jahr 2010 auf 1000 Schüler. Tatsächlich waren es 1400 Kinder», erklärt Peter Mott, Direktor der ZIS.
Wie es weitergeht, weiss er nicht: «Ich denke aber, dass die Nachfrage mittelfristig stabil bleibt. Selbst die Finanzkrise hatte null Auswirkungen», obwohl es etwa bei der UBS in der Schweiz heute nur noch 50 Expats gibt statt 130. Die internationalen Schulen sind heute nicht mehr von einer Handvoll Multis abhängig wie vor 10, 15 Jahren. Gerade aus dem EU-Raum zogen wegen der bilateralen Abkommen viele KMU zu. Die ZIS hat heute Verträge mit 40 bis 50 Firmen.
Zudem sorgen tiefe Steuern, die Sicherheit, eine gut ausgebaute Infrastruktur und hochstehende Kultur dafür, dass Expats ihren Aufenthalt in der Schweiz oft über mehrere Jahre ausdehnen. «Durchschnittlich bleiben sie vier bis sechs Jahre», beobachtet Michael Matthews, Direktor der Inter-Community School (ICS) in Zumikon. «Expats fühlen sich hier wohl, sie bleiben länger und länger.» Früher habe die Verweildauer zwischen zwei und vier Jahre betragen. Das verschärft die Kapazitätsengpässe der internationalen Schulen. Die ICS baut daher in Volketswil bis August 2016 einen neuen Campus für 700 Schüler. Damit verdoppelt die Schule das Angebot auf etwa 1500 Plätze.
Gesamtpaket
Der Wunsch nach einer globalen, einheitlichen Schulbildung für die Kids der modernen Wanderarbeiter ist gross. «Es ist schwierig, ständig das Schulsystem zu wechseln», sagt Peter Mott. Der Direktor der ZIS, violettes Hemd, hellgraue Hose, sitzt an diesem trüben Morgen gelassen in seinem Büro an der Steinacherstrasse hoch über Wädenswil. Wo sonst Primarschüler die Gänge des grellgrünen Campus mit Leben erfüllen, scheppern heute die Warenrollis der Hauswarte über die Fliesen. Das Schuljahr ist bereits um.
«Internationale Schulen sind gerade wegen der Expats entstanden», sagt Peter Mott, der das Wanderleben am eigenen Leib erfahren hat. Seit mehr als 20 Jahren leitet er die ZIS respektive deren Vorgängerschule. Ob in Singapur, Rio, Kapstadt oder Zürich: Der Nachwuchs lernt an internationalen Schulen rund um den Globus den gleichen Schulstoff. Das Material ist bekannt, die Unterrichtssprache meist Englisch, die Abschlüsse, oft das International Baccalaureate (IB) oder das Advanced Placement, gelten als Zulassung für Universitäten «around the world». Nora benötigte für ihr IB 36 Punkte. Das verlangt die Universität Warwick. Die ETH schreibt für die prüfungsfreie Zulassung gar 38 Punkte vor.
Standorte, die für die Zöglinge nicht das richtige Schulangebot bieten, geraten ins Hintertreffen. Für Expats muss das Gesamtpaket stimmen. Wichtig seien eine gute internationale Anbindung, ein fortschrittliches regulatorisches Umfeld, eine wettbewerbsfähige Steuersituation und «sehr gute Lebens- und Schulbedingungen für unsere Angestellten und deren Familien», betonte Swiss-Re-Chef Stefan Lippe unlängst an einem Anlass. Expats soll es an nichts fehlen. Bei der Credit Suisse betreut ein Spezialistenteam Expats in Sachen Steuern, Sozialversicherungen, Lebenskosten, Schulen, Umzug und Unterkunft. Sulzer stellt zwei Personen an, die sich um Global Mobility / Expat Management kümmern. Der Kampf um Schulplätze ist härter geworden, die Nachfrage grösser als das Angebot.
Keine Steuergelder
Schliesslich werden die internationalen Schulen nicht subventioniert. Stehen sich die Schüler wegen der engen Platzverhältnisse auf den Füssen, muss der Bagger her. Die Finanzierung neuer Millionenbauten ist ein Kraftakt für die durch Schulgebühren und Spenden finanzierten Nonprofit-Institute. Die eher hohen Schulgebühren (siehe Tabelle auf Seite 64) fliessen fast vollständig ins operative Geschäft. Investitionen müssen über Fundraising finanziert werden; der Kanton Zürich bezahlte bisher nichts für neue Schulbauten.
Das sei nicht zeitgemäss, findet Mott. «Wir sind standortfördernd, erhalten aber keine Steuergelder. Ohne internationale Schulen kämen keine multinationalen Unternehmen in die Schweiz. Wir sparen dem Kanton Geld, weil diese Schüler eben nicht die öffentlichen Schulen besuchen.» Zwar stellte der Kanton der ZIS für den 36-Millionen-Franken-Neubau in Adliswil ein günstiges Darlehen von mehr als 5,5 Millionen Franken zur Verfügung, die Stadt zusätzliche 1,9 Millionen Franken. Direktzahlungen erhält die Schule aber nicht. Laut neuem Volksschulgesetz wäre das möglich: «Der Regierungsrat kann (...) Beiträge bis zur Hälfte der anrechenbaren Kosten für den Neu- und Umbau von Gebäuden ausrichten», heisst es in Artikel 72 Absatz 1.
Das bleibt eine Kann-Formulierung. Bislang seien erst zwei Gesuche eingegangen, heisst es, denen nicht entsprochen werden konnte. Anders der Kanton Zug. Bildungsdirektor Stephan Schleiss öffnet jährlich die Schatulle für Zuger Kinder, die im Kanton eine Privatschule besuchen. Für jeden Vor- und Primarschüler werden pro Jahr 2551 Franken, auf Sekundarstufe 4449 Franken bezahlt. Schliesslich würden «öffentliche Schulen gerade durch die internationalen Schulen entlastet», begründet Schleiss.
Schwierige Integration
Zuwanderung, längere Aufenthaltsdauer, Investitionsschwierigkeiten: Die Bildungssituation für Expat-Kinder in der Schweiz spitzt sich zu. «Oft übernehmen Firmen Schulkosten für die Kids», sagt Martin Naville, CEO der Swiss-American Chamber of Commerce. «Da werden ganze Sponsoringpackages offeriert, damit potenzielle Schüler auf der Warteliste nach oben rutschen.» Selbst wenn der Nachwuchs letztlich die Schulbank drückt, integriert in der Gemeinde ist er selten. «Wir sind gewissermassen die Sozialzentren der Familien, die Gemeinde für die Schüler, die weit verstreut wohnen», erklärt ZIS-Direktor Mott. Statt im lokalen Fussballclub spielen die Kinder im Schulteam oder erhalten nach der Schule Musikunterricht. Die Schule vermittelt der internationalen Gemeinschaft ein Wir-Gefühl.
Viele Expats leben in einer Parallelgesellschaft. Die Campus-Mentalität erschwert die Integration in die hiesige Gesellschaft. Nora und Kevin kennen das Problem. «Wir konnten unsere gesamte Freizeit und unsere Freundschaften innerhalb der Schule gestalten und pflegen. Aber ich habe auch versucht, mich lokal zu integrieren», sagt Nora. Und Kevin: «Ich habe mich in der Schule und im öffentlichen Leben engagiert. Das Niveau im FC Kilchberg-Rüschlikon war doch etwas höher als in der Schule», schmunzelt er. Kevin ist bilingue. Wer nicht Deutsch spricht, dem bleibt bloss die Schule.