Absenzen kommen die Betriebe teuer zu stehen. Gemäss Bundesamt für Statistik fehlt in der Schweiz im Durchschnitt jeder Mitarbeiter aus gesundheitlichen Gründen neun Arbeitstage pro Jahr am Arbeitsplatz. Im Durchschnitt kostet ein Absenzentag insgesamt 750 Fr. an Lohnfortzahlungen und indirekten Kosten, zum Beispiel höhere Risikoprämien und Kostensteigerungen bei den Sozialversicherungen. Bei einem Unternehmen der Maschinenbranche mit 400 Beschäftigten kann dies, wie die Suva berechnet hat, mehr als 6% der Gesamtlohnsumme von rund 30 Mio Fr. ausmachen.
Das schränkt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ein, sondern belastet auch direkt oder indirekt Sozialversicherungen, Steuerzahler und damit die Gesamtwirtschaft. Denn wer im Unternehmen häufig fehlt, gehört nach den Erfahrungen des Swiss-Re-Managers Jan Botsema zu jener Risikogruppe von Arbeitnehmenden, die dereinst in der Invalidenversicherung landen werden.
Die steigende Zahl von Absenzen drückt sich vor diesem Hintergrund nicht zuletzt in der Zunahme der IV-Renten aus: Die Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zu beziehen, ist zwischen 1992 und 2004 von 3,2 auf 5,2% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter gestiegen. Und dies wiederum brachte die Invalidenversicherung in eine finanzielle Lage, die mit einem Defizit von 1,5 Mrd Fr. per Ende 2004 und einer aktuellen Verschuldung von mehr als 6 Mrd Fr. als katastrophal zu bezeichnen ist.
Dramatische Entwicklung
Wer die IV ernsthaft sanieren will, muss die dramatische Entwicklung bei den Neurenten in den Griff bekommen. Dazu braucht es ein effizientes System zur Früherfassung und Frühintervention: Das ist einer der zentralen Ansatzpunkte der 5. IV-Revision, die derzeit von der sozialpolitischen Kommission des Nationalrats behandelt wird.
Erstaunt nahmen jedoch einige Kommissionsmitglieder während der Hearings mit Experten zur Kenntnis, was heute schon an betriebsinterner und -externer Früherfassung möglich wäre und tatsächlich auch schon gemacht wird, zum Beispiel bei Siemens Schweiz, Migros, Suva, CSS oder der Thuner Bauunternehmung Frutiger. Dazu die freisinnige Aargauer FDP-Nationalrätin Christine Egerszegy: «Es ist heute schon so vieles möglich, dass sich die Frage aufdrängt, ob wir überhaupt die Früherkennung noch ins Gesetz schreiben müssen.» Die Antwort aber schiebt sie gleich selber nach: «Wenn es keine Vorschriften gibt, macht jeder nur das, was er muss. Und das ist zu wenig.»
Von Freiwilligkeit hält auch die Kommissionspräsidentin, die Zürcher SP-Nationalrätin Christine Goll, nichts. Seit es die IV gebe, sei ihrem Grundsatz «Eingliederung vor Rente», der ja eine frühe Betreuung beinhaltet hätte, nicht nachgelebt worden. Daraus zieht Christine Goll den Schluss: «Bei dieser Revision müssen wir klar sagen, wie die Früherkennung konkret umgesetzt werden soll, sonst bleibt alles ein frommer Wunsch.»
Aus diesem Grund möchte Goll, dass die Frage der so genannten interinstitutionellen Zusammenarbeit, also das Zusammenspiel von IV, Arbeitslosenversicherung (ALV) und Sozialhilfe, sauber geklärt wird, «damit keine Parallelstrukturen entstehen». Die Knacknuss dabei: IV und ALV sind Institutionen des Bundes, während die Sozialhilfe in der Kompetenz der Kantone liegt. Goll: «Wenn die Zusammenarbeit funktionieren soll, braucht es ein Bundesgesetz.»
Werner Durrer, Chef der IV-Stelle Luzern, begrüsst den einstimmigen Entscheid der Nationalratskommission, das Prinzip der Früherkennung und Frühintervention in der 5. IV-Revision festzuschreiben. «Das gibt uns endlich die legale Basis, uns frühzeitig mit den möglichen IV-Fällen zu befassen.» So werde zum Beispiel klar geregelt, wer wann mit dem Hausarzt der arbeitsunfähigen Mitarbeitenden reden oder wer wem welche Vollmachten erteilen dürfe.
Solche Regelungen sind wichtig: Nach Gesetz fallen Arbeitsunfähige während eines Jahres in die Zuständigkeit des jeweiligen Taggeldversicherers. Erst dann kommt die IV zum Zug, viel zu spät, denn nach Erfahrung von Fachleuten entscheidet sich in den ersten zehn Wochen, wie sich eine krankheitsbedingte Absenz entwickelt entweder zur Rückkehr an den Arbeitsplatz oder hin zur Invalidität. Frank Peric, Chefarzt der IV-Stelle des regionalärztlichen Dienstes Nordostschweiz in Zürich, sagte dazu letzte Woche am SIZ Care Forum: «In der entscheidenden Phase hat die IV mit ihren Fachleuten für Integration und Rehabilitation aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen nichts zu sagen.»
Mit der 5. IV-Revision soll sich das ändern. Sie sieht neu eine sechsmonatige Frühinterventionsphase vor, während der die Frage der künftigen Rente und möglicher Wiedereingliederungsmassnahmen geklärt werden soll. Um die Früherfassung auch zu realisieren, brauchen die IV-Stellen mehr Personal. Ihr Personalbestand soll um 240 erhöht werden.
Private und IV gemeinsam
Braucht es angesichts dieses Mehraufwands die privaten Dienstleister noch, die sich im Vorfeld der Revisionsarbeiten zunehmend organisieren und an Fachtagungen verstärkt auf die Problematik aufmerksam machen? «Wo ein Geldtopf vorhanden ist, wollen alle davon profitieren», äussert sich die SP-Politikerin Christine Goll kritisch, «deshalb ist es wichtig, dass wir mit dem Gesetz Parallelstrukturen verhindern.»
Fachleute aus der Branche, wie zum Beispiel Rolf Günter, Verwaltungsratsdelegierter der SIZ Care AG, sehen in der Zusammenarbeit von Privaten und IV eine sinnvolle Ergänzung, weil es dank eines flächendeckenden Absenzenmanagements möglich sei, die echten Risikofälle früh zu erfassen, was durchaus im Sinne der IV sei. Wenn schon, würde es Christine Egerszegy lieber sehen, wenn die Firmen dieses Absenzenmanagement selber durchführten, weil Interne die Bedürfnisse sowohl der Mitarbeitenden als auch des Unternehmens besser kennten als ein Aussenstehender.
Dem widerspricht neben den bereits auf diesem Gebiet tätigen Dienstleistern der Luzerner IV-Stellenleiter Werner Durrer mit dem Hinweis, dass der grösste Teil der Schweizer Betriebe KMU seien: «Ein Kleinunternehmen hat doch nicht die gleichen Möglichkeiten wie eine Siemens oder eine Migros. Ich weiss aber aufgrund meiner täglichen Erfahrung, dass die KMU im Kontext von Krankheit und Sozialversicherungen auf Hilfe von aussen angewiesen sind.»
Teure Absenzen: Fehlzeiten infolge Krankheit
(in % der Fälle)
15 Tage43
614 Tage32
1530 Tage10
31120 Tage9
121365 Tage4
Mehr als 365 Tage2
Kosten infolge Krankheit
(in % der Ausfallkosten)
Absenzen von 15 Tagen3
Absenzen von 614 Tagen8
Absenzen von 1530 Tagen6
Absenzen von 31120 Tagen18
Absenzen von 121365 Tagen26
Absenzen von über 365 Tagen39
Quelle: SIZ Care AG
Nachgefragt: «Die IV wird so klug sein und mit uns Privaten zusammenarbeiten»
Früherkennung von Risikofällen ist keine Erfindung der 5. IV-Revision. In diesem Bereich sind heute schon einige private Dienstleister tätig, unter ihnen die in Zürich domizilierte SIZ Care AG, die von Rolf Günter geleitet wird.
Die 5. IV-Revision setzt den Schwerpunkt bei der Früherkennung von Risikofällen. Wie beurteilen Sie diese Vorlage? Diese Stossrichtung ist absolut richtig.
Zur Früherkennung sollen bei der IV rund 240 Stellen geschaffen werden. Gibt es diese Fachleute auf dem Markt? Die Frage stellt sich tatsächlich. Soll die Früherkennung professionell gemacht werden, muss das Personal über hohe persönliche und fachliche Kompetenzen verfügen.
Wird es private Anbieter wie Sie immer noch brauchen? Wir können auch künftig der IV insofern eine Entlastung bieten, als sie nicht alle Informationen mit eigenem Personal beschaffen muss.
Vorausgesetzt allerdings, dass die Vernetzung spielt. Das ist richtig. Die Vernetzung ist auch wichtig, damit die IV die Risikofälle auch zu einem Zeitpunkt gemeldet bekommt, in dem die Chance besteht, dass eine Invalidität mit Gegenmassnahmen noch verhindert werden kann. Wenn die IV klug ist, wird sie deshalb mit spezialisierten Firmen zusammenarbeiten.
Was bringt Ihre Tätigkeit einem Unternehmen? Es bringt ihm ein Frühwarnsystem, das ihm aufgrund der flächendeckenden Abklärung aller Absenzen auch aufzeigen kann, wo allenfalls Führungs-, betriebliche oder ablauftechnische Probleme vorhanden sind, die zu Ausfällen führen können. Entscheidend ist, dass das Unternehmen erkennt, dass es in der Frühphase von Absenzen aktiv werden sollte und nicht einfach passiv abwartet, bis die Arztzeugnisse eintreffen. Damit lassen sich Kosten einsparen und Langzeitfälle vermeiden.
Was kostet Ihr Engagement? Das hängt auch von unserem Aufwand ab. Im Durchschnitt rechnen wir etwa mit 120 Fr. pro Mitarbeiter und Jahr. Erfahrungsgemäss zahlt sich das mit dem Faktor 3 bis 5 für das Unternehmen aus. Kommt hinzu, dass wir dem Unternehmen den zeitgerechten Informationsfluss zu den Versicherern abnehmen, immer unter Einhaltung des Datenschutzes.
Lassen sich die Sozialwerke ohne die Bereitschaft der Arbeitgeber zum Engagement überhaupt reformieren? Nein. Aber Unternehmer machen dann etwas, wenn sie Anreize haben und sehen, dass ihr Engagement einen Nutzen bringt. Sie sind so schon stark genug unter Druck. Wenn man sie im Boot haben will und das ist nötig , muss man ihnen Anreize und einen Grund geben, etwas zu machen.
Haben Sie einen Vorschlag? Man könnte sich vorstellen, dass Unternehmer finanziell oder auch durch fachliche Unterstützung davon profitieren, wenn sie Behinderte im Unternehmen weiterbeschäftigen.