Der Hort der globalen Moral befindet sich in einem unspektakulären, dunklen Bau in der Londoner City. Zwischen Stellwänden, Abdeckmatten und Bauschutt hindurch findet man den Weg zur Zentrale von Amnesty International, vorbei an einem verlotterten Empfang, der diesen Namen nie verdient hat. Die Sessel im Warteraum sind durchgescheuert. Die Wände mit Plakaten zugepappt. Der Fussboden zum letzten Mal vor 43 Jahren geputzt. Draussen vor dem Hauptquartier röhrt eine Baumaschine.

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Amnesty International, kurz AI. Vor dieser 43 Jahre alten Organisation zittern um positive Presse besorgte Regierungschefs vor ihrer Wiederwahl genauso wie Unternehmensleiter, die unter Konsumenten- und Aktionärsdruck stehen. AI zählt heute 1,8 Millionen Mitglieder.

Von der Londoner Baustelle aus leitet Irene Zubaida Khan als Generalsekretärin eine der mächtigsten Pressure-Groups der Welt. Man könnte davon ausgehen, dass sie nach einer Reihe von Missetaten in Unternehmen (Enron, WorldCom) von einer weltumfassenden Welle der Regulation profitiert. Vermutlich, auch dieser Verdacht liegt nahe, tut sie dies selbstgerecht und völlig wirtschaftsfeindlich, unter dem Deckmantel der so genannten Corporate Social Responsability agitierend. Ein Gespräch in der Londoner Zentrale liefert dafür vorerst eine Bestätigung, zeigt dann aber Erstaunliches.

    Zur Person
    Irene Khan


    Die 1956 in Bangladesch geborene Irene Zubaida Khan lebt in London, ist mit einem deutschen Staatsbürger verheiratet und hat mit ihm eine Tochter. Seit August 2001 ist die Juristin (Spezialgebiete: Menschenrechte, internationales Recht) im Vollamt Generalsekretärin der 1961 gegründeten Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). Khan ist die erste Frau, die erste Muslimin und die erste Asiatin an der Spitze von AI.

    Frau Khan, wofür kämpfen Sie?

    Irene Zubaida Khan: «Letztlich kämpfe ich für die Gerechtigkeit. Man kann dies als gesetzliche oder soziale Gerechtigkeit übersetzen, was nicht immer dasselbe ist.»

    Oder als moralische Besserwisserei.

    «Ich mag diese Feststellung nicht. Wir sind ein Teil des wachsenden Körpers einer globalen Zivilgesellschaft. Wir sind sicherlich sehr machtvoll. Aber wir stützen uns auf geltendes Recht.»

    Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das ist doch die Arroganz einer Organisation?

    «Nein, wir richten nicht die USA und ihr Tun in Guantanamo anhand einer eigenen, von uns geschaffenen Werteskala. Wir messen alles einzig an den Werten der Menschenrechte. Die Uno und alle demokratischen Staaten haben diese 1948 adaptiert. Es sind die Werte, die den USA selber zu Grunde liegen.»

    Gerechtigkeit, Frau Khan, ist doch Definitionssache.

    «Die Globalisierung hat auf der einen Seite die Märkte geöffnet, auf der anderen Seite auch die Grenzen für globale Werte niedergerissen. Das ist eine positive Seite der Globalisierung. Ich sehe heute zwar noch viele Unterschiede in der Auffassung von Gerechtigkeit in der Welt, aber ich sehe auch viele Gemeinsamkeiten. Das ist neu.»

Irene Khan überrascht mit ihrer Sicht der Globalisierung. Und zuerst mit ihrer eigenen Erscheinung. Die gebürtige Bangalin ist klein gewachsen, wirkt zierlich und spricht leise. Sie sei zu zart für den Kampf mit harten Bandagen, könnte man meinen. Doch Fragen kontert sie rasant. Gedanklich scheint sie weit voraus. Wo andere ein Pokerface aufsetzen würden, blickt sie dem Fragenden in die Augen. Mit dieser direkten Art können im Hauptquartier nicht alle gleich gut umgehen. Es gibt Kritiker in den Ländersektionen, die ihr das punktgenaue Argumentieren als Härte auslegen, die meinen, dass dies ganz und gar unpassend für eine Bewegung sei, die sich dem Schutz von Menschenrechten verschrieben hat.

Im Gespräch runzelt Irene Khan die Stirn, wenn sie nicht einverstanden ist, und ihr Kopf nickt heftig, wenn man ihre Meinung trifft. Schauspielerei und Versteckspiele kennt sie nicht, Eitelkeit scheint ihr fremd. Seit drei Jahren leitet Khan die Nichtregierungsorganisation AI. Wie sie es macht, überrascht ebenfalls. Sie tut dies mit dem Selbstverständnis eines CEO. Das sagt sie selber, und das lässt sich an der Organisation ablesen.

Seit Irene Khan da ist, hat sich Amnesty International so stark gewandelt wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Die energische Frau lässt die tradierten und gepflegten Vorurteile nicht mehr gelten: Die gute, bunte Zivilgesellschaft ist unter ihr mit der bisher als schlecht und grau geltenden Wirtschaft zusammengerückt. Gegenseitige Missverständnisse lösen sich auf. Die Welten werden durchlässig.

Das mag erstaunen. Bekannt ist mittlerweile, dass die grossen, global tätigen Unternehmen, die Multinationals, gelernt haben, mit dem Druck der mächtigen Nichtregierungsorganisationen umzugehen (siehe BILANZ 8/2004). Getrieben durch das eigene Gewissen oder gezwungen durch gesetzliche Korsetts, haben sich Konzerne längst in den fruchtbaren Dialog mit den NGOs begeben. Nun beginnen sich die NGOs selber als multinationale Gebilde zu erkennen, die von wirtschaftlichen Organisationsformen lernen können und wollen. Irene Khan personifiziert diesen Trend.

Erstes Beispiel: Irene Khan reiste im Januar vom farbigen Weltgipfel der NGOs in Mumbai direkt ins verschneite Davos ans World Economic Forum. In Mumbai posierte sie mit einem Elefanten inmitten einer schrillen Party für die Menschenrechte. In Davos sass sie zwar noch am Katzentisch der Weltwirtschaft, diskutierte aber mit Brabeck, Vasella und Co. auf den Podien wacker über gerechte Arbeitsbedingungen. Für Irene Khan sind Mumbai und Davos ein und dasselbe: die real gewordene Globalisierung.

Zweites Beispiel: Im Sommercamp an der Harvard Business School in den USA dachte Irene Khan kürzlich mit Unternehmensleitern von globalen Konzernen über die eigenen Organisationsformen nach. Mit japanischen, europäischen und US-amerikanischen Konzernverantwortlichen stritt sie beispielsweise über die Vor- und Nachteile der Dezentralisierung von Unternehmensentscheiden. Durchaus in eigener Sache, wie es sich im Gespräch in London zeigt.

Gerne würde Khan – das ist zu spüren – Amnestys Strukturen verändern. Doch das ist komplizierter als zunächst angenommen. AI mag politisch durch den hauptamtlichen CEO von London aus zentral geführt sein, doch die 55 Ländersektionen arbeiten operativ und meist auf freiwilliger Basis unabhängig und selbstständig. Sie verfügen über eigene Budgets (gesamthaft schätzungsweise 170 Millionen Franken pro Jahr) und sind innerhalb geltender Spielregeln ihrer internationalen Führung nur begrenzt Rechenschaft schuldig (siehe Artikel zum Thema «In der Schweiz gut vertreten»). London mit der Forschungs- und Administrationsabteilung kommt mit jährlich 55 Millionen Franken aus.

In ihrem Londoner Büro kommt Irene Khan schnell auf die Wirtschaft zu sprechen: «Nach den Anschlägen von 9/11 ging eine einfache Botschaft um die Welt: Wer Menschenrechte limitiere, wer Bewegungsfreiheit einschränke, erziele mehr Sicherheit. Das ist aber nicht wahr. Es existiert keine empirische Evidenz für eine solche Behauptung. In Tat und Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Ich glaube, dass dieses Thema sehr wichtig für das Wirtschaften an sich ist.»

    Warum?

    «Business benötigt Stabilität. Eine Situation, in der die Menschenrechte nicht beachtet werden, erzeugt Instabilität, Krisen, Gewalt. Das alles ist dem Geschäftemachen nicht förderlich.»

    Sehen Sie Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichem Wachstum und dem Einhalten der Menschenrechte?

    «Die kann ich in der Tat erkennen. Wachstum kann eine Verbesserung der Menschenrechtssituation bedeuten. Leider nicht nur. Wachstum kann auch negative Konsequenzen haben.»

    Beispiel?

    «Ich nenne Ihnen das Beispiel von Frauenarbeit. Die Globalisierung hat die Frauenarbeit salonfähig gemacht, gleichzeitig aber auch die Ausbeutung von und die Gewalt gegen Frauen gesteigert. Amnesty ist auf diesem Gebiet tätig geworden.»

Irene Zubaida Khan weitet die Kampfzone von AI aus. Mit ihr legte sich die Organisation im August 2001 auf eine neue Ausrichtung fest. Amnesty war bis dahin eine in erster Linie Briefe schreibende Pressure-Group im Dienste von Gefangenen, Gefolterten oder zum Tode Verurteilten. Das Durchsetzen von politischen und Bürgerrechten stand im Vordergrund. Die Wirtschaft spielte in diesen Überlegungen keine Rolle. Dabei hatte sich die Welt längst verändert. Darin wirkte AI reichlich antiquiert. Auf neuen Aktionsfeldern waren bereits andere Organisationen in einen bisweilen skurrilen Wettkampf der Helfer getreten.

In dieser Phase kam die operativ erfahrene Irene Khan wie gerufen. 21 Jahre lang hatte sie im Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge gearbeitet. Sie hatte Boatpeople in Südostasien betreut, sie war im Kosovo und in Mazedonien, in Pakistan und Indien stationiert.

Irene Khan lernte bereits früh verschiedene Welten kennen: Mit 16 Jahren verliess sie einst zusammen mit einer ihrer zwei Schwestern das von Bürgerkriegswirren gebeutelte Heimatland Bangladesch. Ihre Eltern, der Vater Arzt, verfrachteten sie nach Nordirland in eine katholische Mädchenschule. Später studierte Khan Jura an der Universität von Manchester und spezialisierte sich in einem weiteren Schritt an der Harvard Law School in den USA auf internationales Recht und Menschenrechte. Ein Stipendiat der Ford Foundation führte sie danach nach Genf und später zur Uno.

Die Spezialistin für Flüchtlingsfragen durchlief im Sommer 2001 alle Assessments bei Amnesty und wurde Nachfolgerin des Senegalesen Pierre Sané. Sie ist die erste Frau, die erste Muslimin und die erste Asiatin an der Spitze einer der wichtigsten global tätigen NGOs. Sie garantierte einen Wechsel in der Führung nach innen wie auch in der programmatischen Justierung der Institution.

Rund 500 Länderdelegierte betrauten sie Ende August 2001 an der Versammlung in Senegal mit der Mission, sich auf das Territorium der sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte vorzuwagen. Einflussreiche europäische Ländervertretungen wie Deutschland oder Frankreich rieten davon ab, wollten bei den Kernkompetenzen bleiben und befürchteten ansonsten einen Konturenverlust. Sie unterlagen in der Schlussabstimmung. Die Schweiz, Norwegen und andere grosse Geberländer waren begeistert.

Irene Khan legte schnell los, entschied, setzte durch. Sie schuf sich den Ruf als eine, die eine «Managementvision» habe.

    Frau Khan, warum wollten Sie den Aktionsradius von AI ausweiten?

    «Wir müssen die gesamtheitlichen Menschenrechte im Visier haben. Die Zeit ist um, in der nur Symptome bekämpft wurden. Jetzt geht es darum, die Systeme zu ändern.»

    Was unternehmen Sie selber dagegen, dass in Ihrem Haus Ihre Leute sich nicht als bessere Menschen sehen und all die anderen vom hohen Berg der Moral herab belehren wollen?

    «Wir erwarten, dass sich Unternehmen in einer bestimmten Weise verhalten. Das müssen wir von uns selber natürlich auch verlangen. Wir müssen immer wieder unsere Arbeitsbedingungen überdenken, die Rechte, die Regeln, die Transparenz. Wir wissen, dass wir sorgfältigt und ehrlich sein müssen. Wir sind seit vielen Jahren eine relevante Organisation, hätten aber nicht die Masse, einen ernsten Zwischenfall und Reputationsschaden zu überleben. Deshalb sind unsere Regeln streng. Deshalb treiben wir unser Impact-Assessment voran.»

    Was verstehen Sie darunter?

    «Jene, die uns Geld geben, wollen immer genauer wissen, was wir damit erreichen. Ihnen müssen wir exaktere Antworten liefern.»

    Sie sprechen womöglich vom Share-holder-Value?

    «Ja, genau. Einige Menschen geben Amnesty Geld, weil sie sich vielleicht unwohl fühlen, weil es ihnen im Verhältnis zu anderen Menschen gut geht. Weil es ihnen zu gut geht. Aber viele wollen einfach in Menschenrechte investieren. Sie investieren in ein auf Resultate ausgerichtetes Arbeiten. Das machen wir, auch wenn es komplexer als früher ist.»

    Warum komplexer?

    «Vor vierzig Jahren waren Menschenrechte ein Thema zwischen den Bürgern und dem Staat. Heute sind Unternehmen beteiligt, bewaffnete Gruppen, die Zivilgesellschaft. Wir finden uns in einer Multistakeholder-Situation wieder.»

Der ausgebildeten Juristin kommen die Signalwörter aus der Sprache der Ökonomie locker über die Lippen. Über «Reputation» und «Risk-Management» doziert sie leidenschaftlich gerne, wenn die Themen angetippt werden. Dann kommt sie, die ein Forschungs- und Dokumentationszentrum vorantreibt, geschwind auf den im Jahr 2003 verabschiedeten Strategieplan zu sprechen. Er gilt für sechs Jahre. Drei Schlüsselwörter hebt sie aus dem Papier hervor: Zuverlässigkeit, Wachstum und Kampagnen. Ein auf zwei Jahre Dauer ausgerichteter, operativer Plan erklärt diese drei Codes.

Mit Zuverlässigkeit meint AI unter anderem auch den Schutz der Investoreninteressen. Unabhängige Buchhaltungskontrollen und ein regelmässiges Rapportieren des Managements an ein neunköpfiges Komitee, das mit einem Verwaltungsrat vergleichbar ist, sollen diese Zuverlässigkeit signalisieren.

Wachsen will AI schneller als bis anhin, wobei hier die Spendengelder als rechnerische Grösse dienen. Um zehn Prozent haben sie zuletzt jährlich zugelegt. Sie finanzieren wiederum die Kampagnen, deren Resultate künftig genauer unter die Lupe genommen werden sollen.

    Frau Khan, Sie sind ein mit einem Fünfjahresvertrag versehener CEO einer Nonprofitorganisation. Beziehen Sie analog zu Ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Wirtschaft Bonuszahlungen?

    «Ja, einen leistungsabhängigen Bonus.»

    Diese Leistungsabhängigkeit erscheint schwierig abschätzbar: Erhalten Sie wegen des Irakkriegs oder der illegalen Handlungen in Guantanamo nun keinen Bonus?

    «Mein Bonus hängt glücklicherweise nicht von den USA ab. Das Komitee beurteilt, wie ich meine gesteckten und definierte Ziele erreicht habe. Ich werde nicht an Zahlen gemessen, sondern an der Qualität.»

    Das klingt immer noch vage.

    «In den letzten zwei Jahren lief eine AI-Kampagne in Russland. Ich wurde daran gemessen, ob ich diese Kampagne richtig gemanagt hatte. Genau dasselbe gilt für Guantanamo oder für den Irak.»

    Wie ist das in diesen beiden Fällen?

    «Es geht nicht um das Gewinnen, es geht um das Kämpfen. Die Frage lautet: War das gut, was ich gemacht habe? Denn wir unterscheiden sehr genau zwischen Gutes-Tun und Sich-gut-Fühlen. Man kann sehr viel tun, das einem selber gut tut, aber tut man es auch gut? Das ist die Frage, die wir unseren Stakeholdern schuldig sind: Kommen sie auf ihre Kosten?»

    Das von Ihnen erwähnte Impact-Assessment krankt daran, dass die Resultate von Amnestys Aktivitäten nur schwer zu messen sind.

    «Es ist schwierig, das stimmt. Bis zum Jahr 2006 möchten wir ein Assessment-System aufgebaut haben, das unsere Aktivitäten bestimmt und deren Erfolge misst.»

    Wie soll ich mir dieses System vorstellen?

    «Wenn wir beispielsweise mit einer bestimmten Kampagne die Haltung der Menschen verändern wollen, können wir Studien vorher und nachher machen und die Resultate messen. Dann sehen wir schwarz auf weiss, ob wir mit unserer Botschaft durchgedrungen sind.»

    Wird dies zu Rückkoppelungen auf Ihre Forschungs- und Dokumentationsabteilung führen?

    «Selbstverständlich. Wir werden wissen, welche Kampagnen warum besser funktionieren als andere. Wir entwickeln dieses System zusammen mit anderen NGOs in einem so genannten Kampagnen-Netzwerk.»

Irene Khan hat sich ein ambitioniertes Ziel vorgenommen: Sie visiert innerhalb von sechs Jahren eine Verdoppelung der Erträge an. 450 Millionen Franken gelten als Zielgrösse. Die Folgen sind jetzt schon absehbar: Die Infrastruktur wird wachsen. Im Londoner Hauptquartier arbeiten derzeit 450 Personen. In zwei Jahren werden es bedeutend mehr sein. Ausserdem steht die Organisationsfrage an: Wie viel Dezentralisierung erträgt die Nonprofitorganisation in der angepeilten Grösse noch? Welche Antwort Khan auch finden mag, sie wird das internationale Netzwerk gewaltig strapazieren und die Sektionen herausfordern.

Man sollte die zierliche, undogmatisch auftretende Frau aus Bangladesch nicht unterschätzen. Sie baut Amnesty International mit viel Krafteinsatz um. Wo sie arbeitet, stiebt es. Schutt, Staub und Baumaschinen, wo immer man auch im und vor dem Londoner Hauptquartier hinsieht.