BILANZ: Sie demonstrieren Ihre Macht –bei Credit Suisse, Julius Bär, nun Lufthansa. ISS lehnte Wolfgang Mayrhuber als Chairman ab, grosse Aktionäre folgten der Empfehlung, bis die Airline sie umstimmte. Mayrhuber wollte schon nicht mehr. Was lief da schief?
Jean-Nicolas Caprasse: Wenn ich mir Herrn Mayrhubers Wahlergebnis von nur 63 Prozent ansehe, ist wohl wirklich etwas schiefgelaufen – bei Lufthansa. Dort fehlt ein tiefer Dialog zwischen Konzern und wichtigen Aktionären. Es ist die Pflicht eines Unternehmens, seine Investoren rechtzeitig über Vorhaben zu informieren. Gerade in einem Fall wie diesem, der gegen normale Corporate-Governance-Regeln verstösst. Herr Mayrhuber hat zu viele andere Boardsitze.
Als Stimmrechtsberater kann ISS Verwaltungsräte blockieren, Kapitalerhöhungen, Zukäufe. Firmen fürchten Ihre Entscheidungen, denen wichtige Aktionäre folgen. Lufthansa macht Sie verantwortlich.
Aktionäre fällen ihre eigene Wahl, basierend auf vielen Quellen und der eigenen Meinung. Firmen stigmatisieren gern ausländische Investoren und Berater, wenn ihnen etwas nicht passt. Unsere Richtlinien, nach denen wir abstimmen, stehen ganz klar auf unserer Website. Da gibt es keinen Grund, überrascht zu sein.
Manager kritisieren, Sie verfolgten Ihre Regeln derart strikt, dass Sie länderspezifische Unterschiede vernachlässigten.
Wir sind eine auf Leitlinien basierende Organisation, das ist wahr. Aber wir schauen sehr genau die Grundlagen jedes Landes an. Und unsere Regeln werden jährlich zusammen mit Kunden und Marktteilnehmern aktualisiert.
Sie haben rund 500 Leute, um 40 000 Firmen abzudecken. Damit können Sie nicht ernsthaft tiefgehend analysieren.
In der Tat, das ist eine ziemliche Menge. Wir haben daher einen Eskalationsprozess, um die bedeutendsten Entscheidungen oder Veränderungen zu diskutieren. Jede Woche treffen sich unsere Senior Manager, um die wichtigsten Generalversammlungen zu beraten.
Sie treffen im Gegensatz zu Finanzanalysten selten Manager der beobachteten Firmen. Fehlen Ihnen nicht Informationen?
Wir folgen ja immer unseren Abstimmungsregeln. Aber natürlich würden wir gern häufiger Manager treffen. Das passiert jetzt öfter. Meist sprechen wir mit Investor-Relations-Chefs, Generalsekretären, manchmal Finanzchefs. Auch Verwaltungsräte werden interessierter.
Helfen den Firmen solche Treffen überhaupt? Die ändern ja ihre Regeln nicht.
Nun, wenn sie sinnvolle Erklärungen liefern, werden wir die berücksichtigen. Das kann auch unsere Stimmempfehlung beeinflussen, was ab und zu passiert. Sie ist Resultat eines konstruktiven Dialogs. Wir sind keine Aktivisten. Wir haben kein spezielles Interesse am Ergebnis einer Generalversammlung.
Immer mehr Investoren folgen Ihren Empfehlungen – auch Schweizer Pensionskassen. Manager warnen, ISS werde zu mächtig und könnte bei Bewertungsfehlern alle in die falsche Richtung lotsen.
Ganz klar gewinnen Stimmrechtsberater eine stärkere Rolle. Corporate Governance wird wichtiger, und zugleich stimmen eben auch mehr Aktionäre ab. In Europa votierten 2008 im Schnitt 60 Prozent der Anleger, 2012 waren es 66. Technisch einfachere Lösungen erleichtern Abstimmungen, das erhöht das Interesse, und wir spüren einen Anstieg in der Verantwortung institutioneller Investoren, ihre Stimme abzugeben. Wir arbeiten dabei in einem wettbewerbsintensiven Markt mit zehn Stimmrechtsberatern in Europa und den USA. Und wir bieten auf unserer Plattform Research von Drittparteien wie dem deutschen Berater Ivox an.
Aber es gibt nur zwei grosse Namen im Markt: ISS und Glass Lewis. Ein Oligopol.
Manager und Investoren können doch entscheiden, wen sie als Berater anstellen. Und dem vertrauen sie als Partner. Institutionelle Investoren werden auch anspruchsvoller, was Corporate Governance angeht, und erstellen ihre eigenen Prinzipien. Eines unserer Teams erstellt Abstimmungsempfehlungen nicht anhand der ISS-Regeln, sondern entsprechend jenen unserer Kunden. Da passiert es, dass wir verschiedenen Investoren unterschiedliche Abstimmungen empfehlen.
Wie stark steigt das Interesse an ISS?
Die Zahl unserer Kunden nimmt stark zu, in Europa voriges Jahr um 15 Prozent. Immer mehr Anleger nutzen unsere Recherchen und Empfehlungen – zuallererst unser Hauptprodukt, die Analyse von Traktanden für Generalversammlungen, aber auch unsere jährlich viermal versandten Corporate-Governance-Updates über die Unternehmen.
Bei Generalversammlungen arbeitet ISS nur Traktanden ab. Sie ignorieren wichtige Themen, bloss weil eine Firma sie nicht auf die Abstimmungsliste nimmt?
Wir berücksichtigen auch einige Finanzhighlights. Aber der Fokus auf die Traktanden ist nun mal unser Business. Einige hängen ja mit Strategie- oder Finanzthemen zusammen. Wir haben ein Spezialteam von Finanzanalysten, das Investoren über strategische Hintergründe für Übernahmen, Kämpfe um Aktionärsstimmen sowie den Einfluss auf Firmenwert, Corporate Governance und Aktionärsrechte informiert.
Gerade da ist das ISS-Know-how limitiert.
Wichtiger wäre es, die Traktanden rechtzeitig zu erhalten. Einige Firmen geben sie erst wenige Tage vor der Generalversammlung heraus. Wir brauchen zur Stimmempfehlung aber 13 bis 17 Tage. Dieses Problem ist viel grösser.
Der Aktionärskämpfer
Corporate Governance ist Jean-Nicolas Caprasses Passion geworden. Der Europachef des US-Stimmrechtsberaters ISS hat über 20 Jahre Erfahrung – vor allem als Mitgründer des Investorenberaters Deminor Rating und als Partner der Muttergesellschaft Deminor International. Seine Sporen verdiente er sich bei J.P. Morgan in Brüssel und New York, nach einem Job als Assistent des CFO von American Petrofina.