Es war schon ziemlich aussergewöhnlich, als der 25-jährige Seidenweber plötzlich zusammen mit halb so alten Buben und Mädchen die Schulbank der Realschule Berneck im St. Galler Rheintal drückte. Doch Jacob Schmidheini (damals noch mit i statt y), Sohn des Dorfschneiders Hansjakob Schmidheini von Balgach, wusste, worauf es ankam. Geboren am 25. Juni 1838, war er ein schwächliches Kind und musste früh hart arbeiten. Seine Lehre in Teufen schloss er mit 15 ab. Zeit für eine ordentliche Schulbildung blieb da nicht.

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Zu allem Überfluss befielen den armen Jungen als 5-Jährigen auch noch die Pocken. Die Folge war eine Wunde an der Achillesferse, die ihn nur mit Beschwerden gehen liess und zunächst zum Invaliden machte, weil sich die Eltern die empfohlene Operation nicht leisten konnten. Mit 22 Jahren war Schmidheiny in die Seidenweberei von Sorntal eingetreten und mehrmals nicht befördert worden, weil man ihm Kollegen mit besserer Schulbildung vorzog. In nur 31 Wochen paukte er also den Stoff der zweiten Oberstufenklasse durch, um das Manko wettzumachen. Er hatte nur ein Ziel, das er bei jeder Gelegenheit pathetisch von sich gab: «Fabrikant will ich werden!»

Um jeden Preis selbstständig

Kurz darauf wurde er in der Seidenweberei tatsächlich befördert. Gesundheitlich ging es ihm aber immer schlechter, sodass er endlich den chirurgischen Eingriff machen liess. Er kündigte und nahm nach der Operation eine schmerzhafte viermonatige Kur in Angriff.

Wieder genesen, beschloss er, 27-jährig, entgegen dem elterlichen Rat, selbstständig zu bleiben. Mit seinem letzten Ersparten kaufte Schmidheiny die leer stehende Hafnerei an der Landstrasse zwischen Balgach und Rebstein und installierte dort ein paar Webstühle. Seine Stoffe fanden rasch guten Absatz, vor allem in Südbayern. Doch ausgerechnet diese Region wurde im preussisch-österreichischen Krieg besonders in Mitleidenschaft gezogen.

Aufstieg zum «Schlossherrn»

Vom deutschen Professor Karl Völker konnte er kurz darauf das zum Bauernhof verkommene Schloss Heerbrugg erwerben. Völker verlangte eine Anzahlung von 10000 Fr., die Schmidheiny mit Hilfe eines befreundeten Kaufmanns aufbrachte. Völker hatte schon 1856 am Fusse des Schlosshügels eine Ziegelei eingerichtet. Zunächst widmete sich Schmidheiny den Maulbeerbäumen und der Seidenraupenzucht von Völker, die Weberei gab er auf.

Erst 1870 im Alter von 32 Jahren und inzwischen verheiratet mit der Toggenburgerin Elise Kaufmann fällte er jenen Entscheid, der die Grundsteinlegung für die späteren Zürcher Ziegeleien und den Weltkonzern Holcim bedeutete: Er begann, sich mit der kleinen, bescheidenen Ziegelei zu befassen. Er studierte die heikle Frage der Rohstoffbeschaffung und pröbelte oft bis tief in die Nacht mit neuen Werkzeugen und Apparaten. Daneben legte er bei der Produktion selbst Hand an und teilte das einfache «Zmittag» mit seinen Arbeitern. Er sah voraus, dass die industrielle Entwicklung unweigerlich zu einem erhöhten Bedarf an Baumaterial führen musste. Als im Espenmoos bei St.Gallen die Ziegelhütte einer Feuersbrunst zum Opfer fiel, kaufte er die Brandstätte für wenig Geld und errichtete eine zweite, modernere Ziegelei.

Doch der Neo-Fabrikant erlitt immer wieder Rückschläge. So zerstörten mehrere Brände Teile seiner Fabriken. 1880 gelang ihm erstmals die Herstellung eines besonderen Strangfaltziegels, der fixfertig aus der Maschine kam und nur noch in gewünschter Länge abgeschnitten werden musste. In einer Stunde konnten jetzt stolze 800 Ziegel produziert werden.

Vor lauter Arbeit vergass Schmidheiny allerdings, das Verfahren patentieren zu lassen, was er wenigstens besser machte, als ihm die Erfindung seines Lebens gelang: «Der mehrfache Kollergang.» Nach seinen Ideen liess er einen Apparat konstruieren, der ein gleichmässiges Durchkneten der Rohmaterialien Lehm und Mergel erlaubte. Die Maschine produzierte keine Abfälle mehr, benötigte weniger Kraft als bisherige Walzwerke, arbeitete viel schneller und war erst noch kaum störungsanfällig. Nach einigem «Feintuning» konnte Schmidheiny diese Maschine in halb Europa vermarkten und genoss fortan in der Fachwelt hohes Ansehen.

Höhere Löhne gefordert

In der Region war er inzwischen ein beliebter Unternehmer, dem ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein nachgesagt wurde. Er war Mitinitiator der neuen rheintalischen Strassenbahn und sass von 1891 an im Kantonsparlament. Dort fiel er durch ungewöhnliche Voten auf. Legendär wurde seine Forderung nach höheren Lehrerlöhnen. Wenn nötig, werde er sie aus seiner eigenen Tasche bezahlen, verkündete er den verdutzten Kantonsräten.

So war er enttäuscht, als einer seiner Söhne ein Studium ergriff und nicht die Ziegeleien übernahm. Schliesslich entschieden sich Ernst und Jacob II 1902 doch noch für das Geschäft. Deren Vater starb nach einem Herzinfarkt frühmorgens am 18. Februar 1905 in seiner Fabrik im Espenmoos.

Zur Schmidheiny-Dynastie hat der Verein für Wirtschaftshistorische Studien Zürich in der Reihe Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik 1994 Band 61 («Von Schmidheiny zu Schmidheiny») herausgegeben. Weiterführende Informationen: www.pioniere.ch. Bereits erschienen: Schoggipionier Rudolf Sprüngli, Nr. 28, und Brown Boveri, Nr. 29.

Lesen Sie nächste Woche: Henri Nestlé.

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Nachgefragt: «Er steht für die Verwurzelung»

Holcim-Verwaltungsrat: Thomas Schmidheiny über seinen Urgrossvater Jacob Schmidheiny.

Was ist von Ihrem Urgrossvater Jacob Schmidheiny geblieben?

Thomas Schmidheiny: Zuallererst sein Unternehmergeist. Dann sein soziales Bewusstsein und Engagement. Und unsere Tätigkeit ist bis heute im eigentlichen Sinne erdverbunden: vom Lehm beziehungsweise. Ziegel zum Kies bzw. Zement.

Ist er Ihnen bis heute ein Vorbild?

Schmidheiny: Sein Wirken hat für mich insofern Vorbildcharakter, als er ein langfristiges unternehmerisches Wirken immer mit Innovationskraft verbunden hat. Dabei hat er sich weit über das eigene Unternehmen hinaus gesellschaftlich und politisch engagiert. Jacob Schmidheiny steht für echte Verwurzelung in der Region.

Sehen Sie Parallelen zwischen ihm und Ihnen?

Schmidheiny: Es wäre anmassend von mir, Parallelen zu beanspruchen. Parallelen, so es sie gibt, müssten von Dritten erkannt werden.

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Fakten:

Die Firmen heute

Zürcher Ziegeleien: Sie sind Teil der Conzzeta-Holding, zu der auch die Industrielaser-Herstellerin Bystronic und die Mammut Sports Group (Mammut, Raichle, Toko, Ajungilak) gehören. Weitere Unternehmen der Gruppe sind FoamPartner (Schaumstoffe) und Swiss Lack sowie eine Immobilienfirma. Die Conzzeta-Holding wird von Jacob Schmidheiny, einem Urenkel des gleichnamigen Pioniers, als VR-Präsident geleitet. Die Gruppe setzt 1,2 Mrd Fr. um und erzielte 2005 einen Konzerngewinn von 63,5 Mio Fr.

Holcim: Aus dem Ziegelgeschäft hervorgegangen ist auch Holcim, der heute zweitgrösste Zementkonzern der Welt (Umsatz: 18,5 Mrd Fr.; Ebit: 3,4 Mrd Fr.). Der langjährige Delegierte Thomas Schmidheiny, ein Urenkel des Pioniers, sitzt im Verwaltungsrat und ist mit 20% wichtigster Aktionär. Daneben kümmert er sich um seine Ragazer Hotels und seine Weingüter. Sein Bruder Stephan, der sich als Pionier in nachhaltiger Entwicklung einen Namen machte, hat seine Aktivitäten in Lateinamerika einer Stiftung vermacht. Zu seiner Anova Holding gehören Wertschriften, Immobilien und eine Kunstsammlung.