BILANZ: Herr Schoss, Sie bauen nach Scout24 jetzt ein weiteres Internetportal auf, eines für Behinderte. Wie kam es dazu?

Joachim Schoss: Ich hatte vor drei Jahren einen schweren Verkehrsunfall, die Ärzte haben mich damals schon aufgegeben. Ich bin sehr dankbar, überlebt zu haben, und möchte jetzt anderen helfen, die in einer solchen Notlage sind. Deshalb habe ich mich entschieden, MyHandicap.com zu gründen.

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Wie hilft ein solches Portal Behinderten?

Wenn Sie plötzlich Opfer eines Unfalls werden und körperlich behindert sind, haben Sie viele Fragen, und kaum jemand gibt Ihnen Antworten. Ist mein Leben überhaupt noch lebenswert? Wie komme ich zu den besten Prothesen? Wo praktizieren die erfahrensten Ärzte? Ich habe am eigenen Leib erfahren müssen, wie schwer es Behinderte haben, an vernünftige Informationen heranzukommen. Es gibt im Internet keine Seite, die das Wissen bündelt. Das wollen wir mit MyHandicap.com ändern.

Ihnen fehlen der rechte Arm und das rechte Bein. Fällt es Ihnen schwer, über den Unfall zu reden?

Eigentlich nicht, das gehört ja auch zur Verarbeitung des Ganzen. Ein betrunkener Autofahrer hat mich damals über den Haufen gefahren. Ich war mit einem Freund in Südafrika auf einer Motorradtour. Wir fuhren am letzten Tag unserer Reise mit unseren Harleys gemütlich auf einer schnurgeraden Landstrasse. Etwa zehn Kilometer vor unserem Ziel kam uns ein Bus entgegen, der wiederum von einem Auto überholt wurde. Meinem Freund ist der Autofahrer noch ausgewichen. Mich hat er leider erwischt.

Sie waren vor dem Unfall selbstständig, unabhängig, auf dem Höhepunkt Ihrer Leistungsfähigkeit. Und plötzlich sind Sie auf andere angewiesen.

Das war anfangs sehr hart und natürlich eine unglaubliche Umstellung. Aber diese Hilflosigkeit war zugleich ein starker Ansporn für mich, buchstäblich wieder auf die Beine zu kommen. Auch beim Aufbau von Unternehmen hat mich Stress immer stärker gemacht. Je höher der Druck war, desto mehr Energie hatte ich. So ähnlich war das zum Glück auch mit dem Unfall.

Sie schwebten zwischen Leben und Tod.

Vier Wochen lang wusste ich abends vor dem Einschlafen tatsächlich nicht, ob ich am nächsten Morgen wieder aufwachen würde. Es gab da eine Nacht, in der auch noch innere Organe kollabiert sind. Drei Ärzte standen um mich herum, und einer sagte leise auf Afrikaans: «Den kriegen wir nicht mehr hin.» Ich war bei Bewusstsein und verstand diesen Satz. Sie warteten darauf, dass ich sterbe. Ich habe diesen Tiefstpunkt nur deshalb überlebt, weil ich in jener Nacht meine Kinder bei mir gespürt habe. Sie waren nicht wirklich anwesend, aber ich habe gespürt, wie sie mir Mut zugesprochen haben. Das hat mir die nötige Kraft gegeben.

Der Unfall hat für Sie schlimme und vor allem bleibende Folgen. Dennoch wirken Sie keineswegs niedergeschlagen.

Ich habe trotz allem viel Glück gehabt. Auf dieser Reise trug ich ausnahmsweise meinen Integralhelm, weil ich den Halbhelm kurz vor der Abreise nicht hatte finden können. So blieb wenigstens mein Gesicht heil. Dann war die Unfallstelle nur sechs Minuten von einer sehr guten Privatklinik entfernt. Auf den anderen 2000 Kilometern unserer Tour wäre vermutlich nicht einmal der Rettungswagen schnell genug zur Stelle gewesen. Und meine Blutgruppe ist in Südafrika weit verbreitet. Gott sei Dank, denn ich benötigte 160 Packungen Blut. Das sind über 60 Liter.

Viele Unfallopfer gehen am Frust über ihre Behinderung zu Grunde. Was hat Sie motiviert, den Kampf aufzunehmen?

Ich habe schon immer das Leben als Herausforderung betrachtet. Ich glaube an das Schicksal und bin insofern bereit, Situationen zu akzeptieren und nach vorne zu schauen. Ich denke, viele Unternehmer ticken so. Wer sich ständig den Kopf darüber zerbricht, was alles schief gegangen ist, der wird als Unternehmer nicht bestehen. Wer mit seinem Schicksal hadert, schraubt sich nur immer tiefer in den Boden hinein.

Das klingt heroisch.

Finden Sie? Aber es ist meine feste Überzeugung, dass man besser nach vorn schauen und die Chancen der Zukunft sehen sollte. Silvester 2002 haben mich ein paar enge Freunde im Krankenhaus in Südafrika besucht. Wir waren zu siebt oder acht. Um Mitternacht sagte mir einer: «Joachim, es ist sehr schwer, dir jetzt ein frohes neues Jahr zu wünschen.» – «Ganz im Gegenteil», sagte ich zu ihm, «ich glaube, 2003 wird das beste Jahr meines Lebens!»

Das müssen Sie erklären.

Ich war ganz unten, es konnte eigentlich nur noch aufwärts gehen. Ich war physisch fast weg, ich hatte 36 Kilo Gewicht verloren. Ich musste und wollte wieder zu Kräften kommen. Ich habe mir dann eine Art privaten Businessplan für meine Zukunft aufgestellt. Meine Vision war es, trotz allem wieder ein möglichst normales Leben führen zu können. Man muss sich dann kleine Ziele stecken und unermüdlich darum kämpfen, diese Ziele zu erreichen. Wenn man das geschafft hat, tankt man daraus die Kraft und die Befriedigung für den nächsten Schritt. Das funktioniert beim Aufbau eines Unternehmens – und es hilft auch in solch schweren Zeiten.

Was waren das für kleine Ziele?

Ein wichtiger Punkt war, mit der Prothese wieder gehen zu lernen. Dann musste ich von der Dialysemaschine loskommen. Die Ärzte hatten mir strikte Diätpläne verordnet. Wenn ich mich hätte gehen lassen, würde ich wohl heute noch an diesen Maschinen hängen. Auch ganz alltägliche Dinge werden zu Hürden: Ich musste mich als Rechtshänder umstellen auf meine linke Hand. Binden Sie sich mal nur mit der linken Hand die Schnürsenkel zu!

Ist so ein Lernprozess nicht unglaublich nervenaufreibend?

Ja, aber was bleibt anderes übrig, wenn man nicht aufgeben oder jammern will? Man muss einfach anfangen. Der längste Weg beginnt bekanntlich mit dem ersten Schritt, und sei er noch so klein.

Das sagt sich leicht.

Ich hatte durchaus Respekt vor dem Riesenberg, der sich da vor mir auftürmte. Ich war körperlich in vielen Dingen auf dem Entwicklungsstand meines damals 17 Monate alten Sohnes. Wir waren in manchen Dingen quasi im Wettstreit miteinander. Das Laufen habe ich inzwischen gegen ihn verloren. Er ist jetzt vier Jahre alt und viel schneller zu Fuss als ich. Aber zum Glück kann ich wieder Auto fahren.

Sie wagen sich wieder auf die Strasse?

Das erste Mal wieder hinter dem Steuer zu sitzen, war unglaublich befreiend. Das war, wenn Sie so wollen, der Break-even-Punkt in meinem Businessplan.

Was ist mit den Rückschlägen: wenn der Körper nicht mitspielt, wenn alles länger dauert als geplant?

Natürlich gab es Rückschläge. Ich musste lernen, dass man nicht alles erzwingen kann. Manchmal brauchen die Dinge eine Weile. Mein Bein etwa wollte und wollte nicht heilen. Deshalb konnten die Ärzte zunächst keine Prothese ansetzen. Ich wollte aber so schnell wie möglich wieder laufen lernen. Als ich merkte, dass es nicht funktioniert, habe ich mich zunächst mit anderen Dingen beschäftigt. Und siehe da: Das Bein begann zu heilen. Pünktlich zu meinem 40. Geburtstag kam die Prothese, und ich konnte meine Freunde stehend empfangen. Das war ein wichtiger Moment, der mich sehr motiviert hat.

Wird man ängstlicher und risikoscheuer durch so eine Erfahrung?

Auf alle Fälle hat mich der Unfall vor weiterer Hybris bewahrt. Ich hatte vorher tatsächlich geglaubt, dass ich jedes Risiko kontrollieren könne. Jetzt bin ich vorsich-tiger. Anderseits: Die Fahrt auf dem Motorrad war ja nicht per se gefährlich. Sie können auch morgen von einer Strassenbahn überrollt werden. Aber dieses Gefühl, dass das Schicksal jederzeit zuschlagen kann, das macht mich demütiger.

Wie ändern sich die Prioritäten nach so einem Einschnitt?

Es klingt vielleicht seltsam, aber mein Leben war früher sehr einseitig. Ich habe ja praktisch nur gearbeitet. 18 Jahre lang. Damals auf der Intensivstation schwor ich mir: Falls ich das hier überlebe, ändere ich mein Leben! Und genau das ist passiert. Ich arbeite weniger, verbringe mehr Zeit mit den Kindern und meinen Freunden. So ein Unfall relativiert vieles. Die meisten Dinge, mit denen man sich im Job täglich rumärgert, sind belanglos. Und früher habe ich mehr in der Zukunft gelebt, heute lebe ich in der Gegenwart.

Wie viele Stunden pro Woche verbringen Sie noch am Schreibtisch?

Ich bin nicht mehr operativ tätig. Ich sitze noch in einigen Verwaltungs- und Aufsichtsräten. Früher habe ich vielleicht 70 Stunden pro Woche gearbeitet. Heute komme ich auf 20. Ich habe mit den Gründungen und den Verkäufen genug Geld verdient, um mir keine Sorgen machen zu müssen. Es ergibt für mich keinen Sinn, jetzt noch mehr Energie in den weiteren Vermögensaufbau zu investieren. Vielmehr versuche ich, mit dem Geld sinnvolle Dinge anzustellen. Ich hatte schon vor dem Unfall ein Testament gemacht, das einige Stiftungen im Falle meines Todes mit Geld versorgt hätte. Doch muss man erst sterben, um wohltätig zu werden?

Und Sie haben das gemacht, was Sie am besten können: ein Internetportal gründen.

Ja, wir haben grosse Pläne mit MyHandicap.com. Wir wollen ein globales Netzwerk für Behinderte aufbauen. Es gibt Behinderungen, die auf der ganzen Welt nur 20-mal vorkommen. Diese Menschen über ein solches Medium zusammenzubringen, ist eines der Ziele. Wir wollen Betroffene motivieren, den Lebensmut nicht zu verlieren, und auch zu einer guten Reintegration beitragen. Ausserdem brauchen Behinderte eine bessere Interessenvertretung. Das System behandelt Betroffene häufig wie Werkstücke. Sie werden wie ein Auto in die Werkstatt gefahren, und es wird etwas an ihnen repariert. Der Kunde ist oft jemand anderes, meist der jeweilige Sachbearbeiter der Krankenversicherung oder der Arzt. Dies wollen wir ändern. Die Nutzer können auf der Internetseite kommentieren und bewerten, wo sie wie gut betreut worden sind. Das hilft anderen.

Soll MyHandicap.com eine gewinnorientiertes Firma wie Scout24 werden?

Nein, wir werden mit diesem Portal kein Geld verdienen können. Dafür ist die potenzielle Benutzergruppe zu klein. Wir haben deshalb eine Stiftung gegründet und sind auf Sponsoren und fremde Hilfe angewiesen. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich auch andere für die Ziele der Stiftung engagieren würden. Der Wille ist bei vielen durchaus vorhanden, aber oft fehlt der entscheidende Anstoss.

Wie belohnen Sie sich für all diese Mühen?

Ich erfülle mir gerade einen anderen Traum und baue mir ein eigenes Auto. Zwei Freunde, ein Autodesigner und ein Techniker, der lange im Sauber-Rennstall gearbeitet hat, helfen mir dabei. Wir bauen einen individuell auf meine Anforderungen abgestimmten Flitzer. Wer weiss, vielleicht wird aus diesem Projekt mal eine Firma! Es gibt bestimmt da draussen noch andere Verrückte wie mich, die ein massgeschneidertes Auto kaufen würden. Erste Pläne liegen bereits in der Schublade.

Moment mal, Sie wollen doch weniger arbeiten. Und jetzt denken Sie schon wieder über neue Gründungen nach?

Ich muss ja nicht an vorderster Front dabei sein. Aber vollkommen loslassen kann ich einfach nicht. Das Unternehmerische liegt mir wohl im Blut. Ich werde hoffentlich auch noch in 30 Jahren Ideen umsetzen. Ich sehe die Lücken und will sie schliessen. Das ist es, was mich antreibt.