Ende Juni wehrte sich René Zimmermann, Präsident der SBB-Pensionskasse, öffentlich für seine Versicherten. Man wolle, sagte er, «nicht die Neger im Umzug» sein.
Niemand protestierte.
Ende Juli legte die Kommunikationsagentur Goal der St.-Galler SVP ein paar Vorentwürfe für Wahlkampfinserate vor. Einer davon flachste, die Schweizer seien «immer mehr die Neger».
Jetzt war der Teufel los.
Der anonyme Informant, welcher der «SonntagsZeitung» den Inseratevorschlag zusandte, löste eine Medienkaskade aus, auf die sich nochmals kurz einzugehen lohnt. Denn nie zuvor in der Schweizer Mediengeschichte hat sich ein dermassen läppischer Sachverhalt zu einer derartigen Lawine ausgewachsen.
Medien, so zeigte sich in diesem Fall exemplarisch, verwandeln Irrealität in Realität. Nur was in den Medien steht, wird existenziell. Nach wenigen Tagen war vergessen, dass man sich bloss über eine unveröffentlichte Idee eines Werbetexters ereiferte – das nie erschienene Phantominserat wurde in den Köpfen zur Realität. Historiker Georg Kreis verdammte den von der SVP «lancierten Slogan», SP-Regierungsrätin Kathrin Hilber forderte im «Blick» eine Strafklage gegen das «üble Machwerk».
Medien, so zeigte sich ebenso exemplarisch, ersetzen Relevanz durch Resonanz. Kaum hatte die «SonntagsZeitung» das Nichtereignis auf Seite eins publiziert, stürzten sich die elektronischen Träger von der Tagesschau bis zu den Lokalradios auf das Fressen, am Montag folgten die Tageszeitungen, und alle blieben sie wochenlang dran.
Interessant dabei ist: Jeder Journalist, der über die Neger-Causa berichtete, wusste an sich genau, dass er sich mit einem banalen Furz befasste. Je länger und lauter der Furz indessen durch die Spalten und Sendungen schwirrte, desto bedeutungsschwerer wurde er – Resonanz war definitiv zu Relevanz geworden.
Wer sich darüber wundert, kennt die veränderten Produktionsformen im Zeitungsgewerbe nicht. Früher definierte der Chefredaktor mit seinen Ressortleitern die Themen, er sortierte die Inhalte nach Bedeutung und Belanglosigkeit und legte ihre journalistische Umsetzung fest. Heute hat er diese Aufgabe an so genannte Blattmacher delegiert, eine Art Marketingprofis.
Blattmacher orientieren sich weniger an inhaltlichen Kriterien, sie müssen nicht Fachspezialisten für Inhalte sein. Sie orientieren sich stattdessen am Verhalten ihres Konkurrenzumfelds: Wenn sich alle Kollegen auf ein Thema stürzen, muss dieses Thema für das eigene Blatt wichtig sein; wenn kaum jemand über eine Sache schreibt, muss diese Sache unwichtig sein. Selbst eine objektive Plattitüde wie die SVP-Negerposse kann es durch diesen Effekt auf die Frontseite schaffen: Die Blattmacher sind Plattmacher geworden.
Die erste Drehung an der Schraube ist dabei oft zufällig. Die harmlose Aussage des SBB-Pensionskassenchefs, er wolle «nicht der Neger im Umzug» sein, hätte den «Blick» durchaus zu einer saftigen Schlagzeile («SBB-Boss beleidigt Schwarze!») verleiten können. Gut möglich, dass wir dann ebenfalls einen medialen Lemmingtrail erlebt hätten, bis hin zur Titelgeschichte über «Rassismus in der Bundesverwaltung».
An der Marketingmesse X’02 debattierten letztes Jahr Experten zum Thema «low budget – high impact». Sie waren sich schnell einig, wem in der Schweiz die bisher effizienteste Werbung geglückt war: dem Messerstecher-Inserat der SVP aus dem Jahr 1993. Noch heute erinnert sich, dank einer gigantischen Medienkampagne, jedermann daran.
Unser Negerlein aus St. Gallen schaffte im Bereich «low budget – high impact» noch eine Steigerung. Erstmals gelang eine Kampagne mit «no budget – high impact».