Frau Fröhlich ging es etwas besser. Zwar rang sie noch immer nach Atem, wenn sie längere Sätze sprach, aber, so meinte sie tapfer lächelnd, die Chemotherapie sei gar nicht so schlimm. Bis vor einer Woche fühlte sich die 50-jährige Frau völlig gesund, bemerkte zwar eine zunehmende Kurzatmigkeit, aber das sei wohl die Folge einer Grippe. Vor einer Woche dann plötzlich Brustschmerzen und heftige Atemnot, auf der Notfallstation fanden wir einen Pneumothorax, also einen Kollaps der rechten Lunge, wegen eines Risses im Brustfell. Deswegen war in den normalerweise nicht existierenden Raum zwischen Brustwand und Lunge Luft eingedrungen. Diese liess sich zwar absaugen, und das Brustfell konnte verklebt werden. Die Computertomografie zeigte indes ein im ganzen Körper ausgedehntes Tumorleiden, eine besonders bösartige Form von Nierenkrebs, wie wir zwei Tage später aus einer Gewebsprobe wussten. Dann redeten wir lange mit Frau Fröhlich und mussten ihr sagen, dass es für ihre Krankheit keine wirkungsvolle Therapie gebe und dass sie in sehr kurzer Zeit sterben werde.
Fassungsloses Unverstehen ist die gut nachvollziehbare Reaktion solcher Patienten. Plötzlich ist alles anders, die Patientin fährt ganz allein auf dem Totenschiff, alle anderen leben weiter, und sie befindet sich schon in einer Zwischenwelt. Alles ist in Frage gestellt. Nein, eigentlich ist nichts mehr in Frage gestellt, der Zug rast im Tunnel nach unten, und all die angehäuften Güter werden zurückbleiben, zusammen mit den Lieben, die jetzt auf der anderen Seite sind.
Es mag dann zwar jene geben, die lächeln und wie der antike Dichter sagen: «Plaudite amici finita est la comedia» – applaudiert, Freunde, die Komödie ist zu Ende. Oder wie jener alte Mann, der gelöst meint: «Schön, jetzt sehe ich meine Frau wieder.» Den meisten von uns, die das Leben als letzte Gelegenheit leben, fehlt jedoch solche Gelassenheit. Und darum wird dann verzweifelt um diese letzte Gelegenheit gekämpft mit Chemie, Stahl, Strahl, Mistelblättern und positiven Energien. Lieber kämpfend und aus allen Rohren schiessend untergehen als noch einmal reflektierend zurückblicken …
Frau Fröhlich wollte unbedingt eine Chemotherapie, obwohl wir ihr kaum Hoffnung machen konnten, und jetzt tropfte das Gift.
Sie meinen, das sei kein Sommerthema und betreffe Sie nicht und ich wolle Ihnen allenfalls die Ferien verderben. Aber es kann Sie noch vor, während oder nach diesen Ferien treffen – lesen Sie die Todesanzeigen in den Zeitungen. Wie oft stossen Sie auf plötzlich oder nach langem Leiden Verstorbene Ihres Jahrgangs? Und Sie stossen auf noch viele Jüngere. Und es ist ein gutes Sommerthema. Gottfried Benn definierte in einem seiner Gedichte, was am schlimmsten ist: «Nicht im Sommer sterben, wenn alles hell und die Erde für Spaten leicht.» Und damit diese Erde leicht wird, sollten wir jeden Tag in Freude so leben, als ob es der letzte wäre, und uns unserer Bedeutungslosigkeit bewusst sein. Wir sind wichtig für unsere Lieben und einige Freunde, und diese werden traurig sein – aber wirklich unersetzbar sind nur Bundesräte, und da stehen für jeden, der allenfalls abberufen oder abgewählt würde, mindestens 20 Papabili bereit.
So ist es doch tröstlich, dass wir ersetzbar sind, und darum können wir über die Einmaligkeit unseres eigenen Endes nachdenken. Wenn wir dies können, so werden wir hoffentlich gelassen abtreten und keine Chemotherapie für die Psyche brauchen, die lediglich die Reflexion behindert und die Gesundheitskosten erhöht, aber nichts nützt. Frau Fröhlich ist übrigens friedlich und sanft vor wenigen Tagen gestorben.
Praktizieren wir also die Kunst des Lebens, die Ars Vivendi, und hören wir als Vorbereitung auf das Ende einmal wirklich sorgfältig in Schuberts letzte Sonaten hinein. Hier reitet der Tod durchs Feld oder – wie Andras Schiff es sagt – «weht der Wind durch den Friedhof». Und trotzdem ist alles ganz heiter.
Die Qualität des Todes hängt von der Qualität des Lebens ab. Geniessen Sie darum diesen Sommer.