Der Elektronikkonzern Siemens, einst eine der ersten Adressen der deutschen Industrie, scheint ein einziger Sumpf von Korruption, Bestechung und Bereicherung zu sein. In seltener Einmütigkeit ringen Politiker, Journalisten und Kirchenmänner die Hände und beklagen den Verfall der Moral.



Die Welle von Affären, Razzien und Verhaftungen, die das Siemens-Imperium seit November erschüttert, ist nur einer Gruppe von Konzernbeobachtern augenscheinlich recht gleichgültig – den Analysten und Investmentbankern. «Es ist doch bekannt, dass in der Investitionsgüter-Industrie geschmiert wird», sagt achselzuckend Karina Gundermann, Aktienexpertin bei der schwedischen Grossbank SEB. «Da fällt Siemens keineswegs aus dem Rahmen.» Wie nahezu alle Analysten ist sie für das Unternehmen und den Aktienkurs positiv gestimmt.

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Deutliche Rücktrittsforderungen



Freilich weiss auch Analystin Gundermann, dass auf dem Konzern eine schwere Hypothek lastet. Mit den Korruptionsfällen befassen sich mittlerweile Polizisten, Staatsanwälte und Gerichte in halb Europa, neuerdings auch in Russland. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass ein Grossteil des Top-managements von den schwarzen Kassen gewusst hat. Nachdem mehr oder weniger versteckte Vorwürfe in dieser Richtung monatelang auf Vorstandschef Klaus Kleinfeld zielten, rückt nun zunehmend sein Vorgänger Heinrich von Pierer ins Visier.

Er müsse als Chef des Aufsichtsrats zurücktreten, forderte vergangene Woche die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger SdK: «Er hat jahrelang in diesem System an der Spitze gestanden», so der Vorsitzende Klaus Schneider. Im gleichen Atemzug fordern Politiker wie die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, von Pierer solle seine Tätigkeit als Regierungsberater ruhen lassen.

China stört Korruption nicht



Offenbar stösst Siemens nur noch fern der Heimat auf Sympathien. So wundern sich in China örtliche Geschäftspartner über das ihrer Ansicht nach rabiate Vorgehen der Behörden gegenüber dem Konzern. «Die Chinesen fragen uns, ob der deutsche Staat etwas gegen Siemens hat», sagt Richard Hausmann, Chef der Regionalgesellschaft des Konzerns in China. Freilich ist Korruption in China eine Volksseuche. Ebenso wenig wie in Asien hat der Ruf von Siemens an der Börse gelitten. Der Kurs der Aktie, die im November bei 70 Euro notierte, ist seither auf etwa 80 Euro geklettert. «Wenn die Hiobsbotschaften anhalten, könnte die Siemens-Aktie allerdings durchaus unter Druck geraten», warnt SEB-Analystin Gundermann. Bis auf Weiteres hält sie jedoch an ihrer Kaufempfehlung fest.

Sie befindet sich in bester Gesellschaft: 19 Investmentbanken haben seit Jahresanfang Empfehlungen zu Siemens abgegeben. 18 Institute raten zum Kauf – die amerikanische Citigroup ebenso wie die UBS oder die französische Société Génerale. Keine der 19 Banken empfiehlt einen Verkauf.

Aktienexperten interessieren vor allem Zahlen. Und die sehen bei Siemens gut aus. Im 1. Quartal 2007 hat das Unternehmen einen Betriebsgewinn von 1,631 Mrd Euro erzielt. Das lag deutlich über den Erwartungen der Analysten; beispielsweise hatte das Bankhaus Sal. Oppenheim nur 1,505 Mrd prognostiziert. Obendrein nahmen die Auftragseingänge erneut kräftig zu.

Daher rechnen Siemens-Experten wie Michael Bahlmann von der Privatbank M.M. Warburg für 2007 und 2008 mit deutlichen Umsatzzuwächsen und überproportional steigenden Erträgen. «In 60% der Geschäftsfelder hat Siemens die selbst gesetzten Margenziele bereits erreicht. Wir sind zuversichtlich, dass das Unternehmen dies über kurz oder lang auch bei den restlichen 40% schafft», resümiert Analystin Gundermann.

Wegen der günstigen Entwicklung des Unternehmens sehen die Investmentbanken noch grosses Potenzial. Die Kursziele liegen zumeist zwischen 90 und 100 Euro. Das sind bis zu 25% mehr als der aktuelle Aktienkurs. Damit scheint Siemens an der Börse im Sektorvergleich allzu niedrig bewertet. Könnte das Unternehmen also zum Opfer einer feindlichen Übernahme werden, zumal sich 94% der Siemens-Anteile in Streubesitz befinden?

Analysten schätzen diese Gefahr recht gering ein. «Dazu müssten Finanzinvestoren einschliesslich der üblichen Prämie auf den aktuellen Kurs rund 100 Mrd Euro in die Hand nehmen», schätzt Siemens-Experte Pitz. «Bislang aber hatten selbst die grössten Übernahmen in den USA nur ein Volumen von etwa 50 bis 60 Mrd Dollar.» Obendrein könnten Finanzinvestoren, um den Wert des Konzerns kräftig zu steigern, auch nichts anderes machen als das, was CEO Kleinfeld bereits tut: Siemens radikal umbauen und auf die international konkurrenzfähigen Geschäftszweige zurückstutzen.

Kleinfeld will das historisch gewucherte Konglomerat auf drei zukunftsfeste Säulen zurückbauen: Medizintechnik, Fabrikautomation und Infrastruktur sowie Energie und Umwelt. In diesen drei Geschäftsbereichen hat das Münchner Unternehmen beste Chancen, weltweit zu den zwei oder drei führenden Anbietern zu gehören – und entsprechend gute Erträge zu erwirtschaften. «In der Medizintechnik verfügt Siemens über eine bessere Positionierung als General Electric oder Philips», loben die Analysten von der UBS.

Gründliche Entrümpelung



Alles andere aber muss raus. Neben der Com-Sparte, die mit dem Telekomgeschäft von Nokia zusammengelegt wird, will sich der Konzern noch in diesem Jahr vom Autoelektroniks pezialisten VDO trennen. An den Erträgen der Sparte gibt es zwar eigentlich nichts zu mäkeln. Doch Kleinfeld erscheint fraglich, ob die Siemens-Tochter auf lange Sicht mit Branchenriesen wie Bosch mithalten kann. Derzeit prüft die Konzernspitze zwei Optionen: Börsengang oder Verkauf. Der Autozulieferer Continental hat bereits sein Interesse an einem Erwerb geäussert. Und die Investmentbanken würden gern einen Börsengang begleiten. Doch die Gewerkschaft IG Metall würde beides nach Möglichkeit verhindern.