Es ist schon fast Routine. Wenn der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in die Kamera seines Smartphones spricht, weiss Eugen von Rubinberg, dass er liefern muss. Denn nur Minuten später nimmt sich sein Algorithmus das Video aus der Ukraine vor und übersetzt es in Dutzende von Sprachen.
Eugen von Rubinberg ist Mitgründer des Schweizer Startups Vidby, das mithilfe von künstlicher Intelligenz in der Lage ist, Videos automatisch in mehr als siebzig Sprachen zu übersetzen – fast in Echtzeit. «Unsere Mission ist es, Videoinhalte für jeden, für jede und überall auf der Welt zugänglich machen», sagt er.
Schweizer Technologie ist ein wichtiges Instrument für die Ukraine
Im Ergebnis legt Vidby eine Sprecherstimme über das Video, so wie man es von Dolmetschern und Dolmetscherinnen gewohnt ist. Das klingt zwar noch ein wenig nach einer vom Computer generierten Stimme, doch künftig soll Vidby auch Emotionen und Stimmfarben erkennen, die sich aus der Lautstärke, Kraft, Resonanz und dem Stimmklang ergeben, und sie entsprechend interpretieren.
Für die Ukraine ist die Technologie aus der Schweiz zu einem wichtigen Instrument geworden. «Heutzutage ist die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung von entscheidender Bedeutung», sagt Iryna Borovets, Generaldirektorin für öffentliche Diplomatie und Kommunikation im Aussenministerium der Ukraine. «Es ist fast unmöglich, ein Video an einem Tag mit herkömmlichen Methoden in zehn bis dreissig Sprachen zu übersetzen.» Vidby hingegen sei dazu in der Lage, so Borovets.
Riesige Menge an Videos von Selenski
Anders lässt sich die Menge der Videos auch kaum bewältigen. Nach Angaben des ukrainischen Aussenministeriums wurden mit Vidby bereits mehr als siebzig Reden des Präsidenten übersetzt, was über 650 Minuten Ausgangsmaterial entspricht. Übersetzt in bis zu dreissig Sprachen ergibt das mehr als 10’000 Minuten neues Videomaterial, das auf den Webseiten der Botschaften im Ausland und in sozialen Medien veröffentlicht wird.
Dass Vidby den ukrainischen Behörden seine Dienstleistung kostenlos zur Verfügung stellt, ist kein Zufall. Ein grosser Teil der Entwickler des Unternehmens sind Ukrainer und arbeiten auch heute noch in dem Land. «Das ist unser kleiner patriotischer Beitrag, den wir leisten», sagt von Rubinberg.
Samsung, Siemens und Cisco als Kunden
Das Unternehmen, das von Rubinberg erst im vergangenen Herbst zusammen mit Alexander Konovalov gegründet wurde, spricht bei seinen Übersetzungen von einer Genauigkeit von 99 Prozent.
Dafür muss das Transkript aber vorbereitet werden. So müssen Wörter, die nicht übersetzt werden sollen, vorher markiert werden. Eine vollautomatische Übersetzung schafft eine Genauigkeit von 80 Prozent. Genug, um den Inhalt zu verstehen. Aber zu wenig, um wirklich professionell zu wirken.
Für Vidby mussten Konovalov und von Rubinberg nicht bei null anfangen. 2017 erregten sie bereits viel Aufsehen mit Drotr, einem Messenger, der in der Lage war, mehr als hundert Sprachen simultan zu übersetzen. Die Gespräche in Videokonferenzen konnten in mehr als vierzig Sprachen übersetzt werden. Doch Geld liess sich damit nicht verdienen.
Das soll nun anders werden. Den Markt für Video- und Audiotranskriptionen beziffert von Rubinberg auf 30 Milliarden Dollar, ein Grossteil davon entfalle auf die USA. Mit Vidby wendet sich das Startup daher nun an Unternehmen, Medien, Nichtregierungsorganisationen, Behörden und Influencer. Zu den Kunden gehören Samsung, Siemens, Generali, Cisco und Kärcher. Jüngster Neuzugang ist die Harvard University.
Dieser Text wurde zuerst unter dem Titel «Schweizer Startup übersetzt Selenskyj-Reden kostenlos» bei «Die Welt» publiziert.