Die 16-Milliliter-Packung Avastin kostet 2095,85 Franken. Ein 80 Kilo schwerer Mensch, der an Darmkrebs leidet, benötigt alle zwei Wochen eine Packung. Das Roche-Medikament gilt als Wunderwaffe gegen Krebs – obwohl das Wunder oft nur fünf Wochen dauert. Denn so lange kann Avastin das Wachstum von Darmkrebszellen im Schnitt verzögern, wie die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung feststellte.
Die Behandlung, um 35 Tage länger zu leben, kostet insgesamt 37'600 Franken.
Avastin ist einer der Umsatzrenner von Roche. 6,3 Milliarden Franken spülte das Mittel letztes Jahr in die Kassen des Pharmariesen. Roche ist die klare Nummer eins unter den Krebsmittelherstellern. Zusammen mit Nachbar Novartis beherrscht man fast den halben Weltmarkt. Und beide Konzerne versuchen, ihren Vorsprung mit dem Zukauf vielversprechender Firmen auszubauen. Novartis etwa hat im Februar die US-Biotechfirma Costim übernommen und im April die Onkologiesparte von GlaxoSmithKline geschluckt.
Krebsmedikamente der grosse Treiber der Pharmaindustrie
Krebsmedikamente sind der grosse Treiber der Pharmaindustrie. Mit ihnen lassen sich – nach den Mitteln für sehr seltene Krankheiten – die höchsten Margen erzielen. In keinem anderen Feld wird derart intensiv geforscht. Über 300 neue Wirkstoffe befinden sich in Entwicklung – doppelt so viele wie gegen Herzkrankheiten, Schlaganfall und Alzheimer. Die Branche ist auf dem grossen Sprung nach vorn. Denn die neue Generation von Krebsmitteln kann zielgenau bei jenen Patienten eingesetzt werden, bei denen sie wirklich wirkt. Bis in zehn Jahren sollen sie die heute üblichen Strahlen- und Chemotherapien ablösen. Bankenanalysten reiben sich die Hände. Es ist – wie damals Viagra – die perfekte Story, um den trägen Pharma-Aktien Schub zu geben.
Um welche Summen es geht, lässt sich auch am Hautkrebsmittel Yervoy ablesen. Die 200-Milligramm-Packung kostet 20'425,65 Franken, eine Therapie rund 120'000 Franken. Die zuvor übliche Chemo war nicht viel schlechter, aber zehnmal billiger zu haben. Der Aktienkurs des Yervoy-Herstellers Bristol-Myers Squibb hat sich seit der Zulassung des Mittels vor drei Jahren verdoppelt.
Krebsspezialisten, Krankenkassen und Gesundheitsbehörden sind alarmiert. Zwischen 2007 und 2012 stiegen in der Schweiz die Ausgaben für Krebsmedikamente um 125 Prozent, hat der Krankenversicherer Helsana berechnet. «Und das ist nur der Anfang», befürchtet Oliver Reich, der dort den Bereich Gesundheitswissenschaften leitet. Denn es kommen gleich mehrere Entwicklungen zusammen, die alle auf eines hindeuten: rasant steigende Kosten im Kampf gegen Krebs.
Krebs wird zunehmend eine chronische Erkrankung
Die Zahl der Erkrankungen wird zunehmen – parallel zur höheren Lebenserwartung. Denn Krebs ist wie Diabetes eine klassische Alterskrankheit. Je älter wir werden, desto grösser ist das Risiko. Zudem wird Krebs dank verbesserter Diagnosetechniken und Screenings immer früher diagnostiziert – entsprechend länger dauern Behandlungen. Und die neue, viel teurere Generation von Medikamenten wirkt zwar lebensverlängernd, aber auch sie verspricht Heilung höchstens in Ausnahmefällen. Damit wird Krebs zunehmend zu einer chronischen Erkrankung.
«Das sind sehr positive Entwicklungen», sagt Reich. Doch man müsse sich die Frage stellen, wie lange sich dieses System finanzieren lasse. Zumal viele neue Mittel nur sehr geringfügige therapeutische Verbesserungen brächten: «Häufig gibt es nicht einmal gesicherte Daten, ob ein Medikament das Überleben eines Patienten überhaupt beeinflusst.» Mit Krebs sechs Wochen länger leben kostet im Schnitt gemäss Berechnungen von Helsana derzeit 30'000 Franken.
«Die Schere zwischen dem medizinisch Machbaren und dem Bezahlbaren geht immer weiter auf», sagt der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher. Lange werde man um die Diskussion über Ethik und Effizienz im Gesundheitswesen nicht mehr herumkommen. «Man kann nicht unbegrenzt viel ausgeben, nur um das Überleben eines Patienten um ein paar Wochen zu verlängern.» Dieses Geld fehle dann einfach an anderer Stelle. Dass man den Preis für den Wert eines Lebens nicht in Franken und Rappen angeben könne, bedeute nicht, dass man zwangsläufig jeden Preis für lebensverlängernde Massnahmen zahlen müsse, so Locher.
«So schwer es uns auch fällt, aber als Gesellschaft müssen wir die Frage beantworten, wie viel uns ein Jahr länger leben wert ist», sagt auch Gesundheitsökonom Willy Oggier. Wenn man darauf verzichte, wirke das auf die Pharmaindustrie wie eine Einladung, die Preise weiter zu erhöhen.
Medikamentenpreise stärker regulieren
Gesundheitsminister Alain Berset setzt derweil seine Politik der kleinen Sparschritte fort und will jetzt das System, wie Medikamentenpreise festgelegt werden, weiter verschärfen. So sollen neu auch Zwangsrabatte, wie sie in Deutschland üblich sind, mit eingerechnet werden. Zudem soll der therapeutische Vergleich mit anderen Medikamenten wieder eine stärkere Rolle spielen, kündigte Berset Mitte Juni an. Man sei sich «bewusst, dass aufgrund der Demographie und des medizinischen Bedarfs die Kosten für Arzneimittel in spezifischen Anwendungsgebieten wie Krebs stärker steigen werden als in anderen Anwendungsgebieten», erklärt das Bundesamt für Gesundheit.
Die alle drei Jahre durchgeführte Überprüfung der Arzneimittelpreise zeige aber, dass man die Kosten bestehender Therapien habe senken können. Solche Sparbemühungen gehen Heinz Locher zu wenig weit: «Es fehlt ein systematischer Ansatz. Man geht zu wenig strukturiert und oft zu zufällig vor.» Das heutige System, mit Ländervergleichen den Preis neuer Medikamente zu bestimmen, tauge bei Krebsmedikamenten überhaupt nicht. Im Gegenteil, es treibe die Preisspirale nur noch weiter an. Wie viel ein Medikament in der Entwicklung kostet und wie oft es eingesetzt wird, dürfe nicht der Massstab dafür sein, wie teuer Medizin ist. «Entscheidend ist allein der Gewinn an Gesundheit für den Patienten», so Locher.
Wochen länger zu leben
Helsana-Gesundheitsökonom Oliver Reich kritisiert, dass nicht einmal eine klare Meinung darüber bestehe, was man unter höherer Lebensqualität zu verstehen habe. Es könne aber nicht sein, dass man Lebensqualität aufgrund der Anzahl Wochen bestimmt, die ein Patient länger überlebt.
Reich ortet grosse Probleme aber in einem anderen Bereich: im sogenannten Off-Label-Use. Denn viele Mittel werden gegen Krebsarten eingesetzt, für die sie eigentlich gar nicht zugelassen sind. Dann müssen die Krankenkassen entscheiden, zu welchem Preis sie das Medikament vergüten. Gemäss Bundesamt für Gesundheit funktioniert dieses vor drei Jahren eingeführte System gut. Eine Umfrage bei den Krankenkassen ergab jedoch, dass viele Kassen bereits den Aufwand scheuten, um mit den Pharmafirmen tiefere Medikamentenpreise zu verhandeln. Sie vergüteten «oft den Höchstpreis, ohne dass sie diesen als gerechtfertigt erachten», heisst es im Bericht.
Helsana hat in den letzten Monaten deshalb ein Modell entwickelt, um die Preise beim Off-Label-Use nach einem standardisierten Verfahren zu bestimmen. Sie will es nicht für sich behalten. «Wir sind in Verhandlungen mit den anderen Krankenkassen. Es sieht danach aus, dass wir es noch dieses Jahr flächendeckend einführen können», sagte Reich dem Beobachter. Aber auch das ist nicht mehr als ein weiterer Beitrag, um die Folgen der befürchteten Preisexplosion zumindest etwas einzudämmen.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Schwester-Publikation, dem «Beobachter».