Kriegt VW nochmal die Kurve? Der Auto-Koloss mit 600'000 Mitarbeitenden ist ins Schleudern gekommen. Dabei ist Volkswagen die beliebteste Automarke in Deutschland nach Besitz in der Bevölkerung. Und ein Schwergewicht der deutschen Volkswirtschaft. Kann Konzernchef Oliver Blume (56) das Steuer herumreissen und den Autobauer aus der Krise fahren?

Andreas Herrmann (59), HSG-Professor und Mobilitätsexperte, kann sich einen Untergang des VW-Konzerns zwar nicht vorstellen: «Der deutsche Staat würde eingreifen, denn eine VW-Pleite hätte einen Dominoeffekt und würde zahlreiche mittelständische Zulieferer ebenfalls in die Pleite treiben.» Erste Zulieferer sind bereits im VW-Strudel. Der bayrische Autozulieferer Schaeffler will europaweit 4700 Stellen streichen. Auch Schweizer Zulieferer spüren die Krise, etwa die Berner Feintool-Gruppe, die harte Sparmassnahmen angekündigt hat.

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VW müsse nun durch eine «Rosskur». Konzernchef Blume sei dafür der richtige Mann, so der Experte zu Blick: «Er steht nicht zur Diskussion, auch wenn er jetzt harte Sparprogramme verkünden muss.»

Eine lange Liste der Verfehlungen

Doch die lange Liste der Versäumnisse von VW habe eine extrem schwierige Lage geschaffen. Zum einen ist der Markt für tiefpreisige E-Fahrzeuge schwach. Die aktuellen VW-Modelle sind zu teuer, die neuen kommen zu spät. Der Druck der Konkurrenz aus China ist immens. «Diese müssen den Markt aber noch aufwendig bearbeiten», erklärt Herrmann. Doch sie spuren vor: Der chinesische E-Auto-Riese BYD hat soeben einen Vertriebsvertrag mit der Emil Frey AG abgeschlossen, der chinesische Mitbewerber Nio versucht es in Europa vorerst auf eigene Faust.

Herrmann sieht das grösste Problem aber bei den Kosten: «Die VW-Produktion ist viel zu komplex.» BYD und Tesla produzieren in einem Aluminium-Druckguss-Verfahren. Heisst: Bei der Fertigung müssen nicht wie bei VW rund 70 Bauteile verschweisst, verklebt oder verschraubt werden, sondern 4 bis 6. «Damit entfallen Fertigungsstationen, was die Kosten massiv senkt», so Herrmann.

Darüber hinaus sei die riesige Variantenvielfalt bei VW ein Problem. Weil jeder Kunde sein Fahrzeug nach individuellem Gusto bestellen kann, ist die Produktion komplex. «Im Grunde fahren viele Millionen verschiedene VW-Fahrzeuge auf den Strassen», schätzt Herrmann.

Nicht zuletzt bekommt VW seine Software nicht in den Griff. «Cariad ist ein endloses Trauerspiel», so Herrmann. Sechs Milliarden hat VW in die Auto-Software investiert. Die bislang nur Ärger macht. Herrmann geht davon aus, dass VW künftig verstärkt auf Lösungen im Rahmen neuer Kooperationen setzt. Im Juni 2024 wurde mit US-Hersteller Rivian (grösster Aktionär: Amazon) ein Joint Venture gegründet, bereits im März hatte VW eine Beteiligung am chinesischen Hersteller Xpeng angekündigt.

Zu viel Einmischung der Politik

Kommt das alles zu spät? VW habe immer noch viel zu bieten, sagt Herrmann. Doch der Konzern habe den Wandel viel zu lange verschleppt. Weil man sich auf Lorbeeren ausruhte: Der chinesische Markt bescherte den deutschen Herstellern einen Absatzrekord nach dem anderen. Herrmann: «Die Doktrin lautete: Am besten alles beim Alten belassen, bloss nichts Neues wagen, Produkte und Geschäftsmodelle funktionieren ja». Das führte in eine Sackgasse. «VW muss den Massenmarkt ins Auge fassen», sagt Herrmann.

Doch es gibt Hindernisse bei der Transformation. Etwa, dass VW «eher politisch als unternehmerisch geführt» werde. Weil die Gewerkschaften im Schulterschluss mit dem SPD-regierten Land Niedersachsen – das Grossaktionär bei VW ist – keine harte Transformation zulassen. «Sollten die Gewerkschaften voll auf Konfrontation gehen, wird es schwierig», sagt Herrmann. VW müsse die gut dotierten Tarifverträge zwingend neu verhandeln.

Keine Alternative zur Rosskur

Dass sich die VW-Eigentümer – hauptsächlich die Familien Porsche und Piëch – noch im Juni dieses Jahres 4,5 Milliarden Euro an Dividenden auszahlen liessen, sei in diesem Kontext allerdings «kein gutes Signal», bemerkt Herrmann. Natürlich entscheiden die Eigentümer über die Gewinnverwendung. Es wirkt aber, als habe man noch einmal alles aus der Firma geholt.

Jetzt stehen eine Schliessung dreier Werke (von insgesamt 10 in Deutschland) an, Löhne müssen neu verhandelt werden. VW muss auch weiter investieren. Und streckt die Hand nach dem Staat aus.

Denn es hängt zu viel an VW und dem Automobilbau-Standort Deutschland. Der aktuelle Abschwung werde laut Herrmann «einen Wohlstandsverlust» mit sich bringen, die tieferen Löhne bei Hunderttausenden Angestellten auch tiefere Steuereinnahmen. So gesehen geht es nicht anders: Der Turnaround muss gelingen. Doch im Dezember drohen schon die nächsten Streiks in den VW-Werken.