Die Entwarnung kam Mitte März von Bundesrätin Doris Leuthard, just als die Kreditkrise mit dem bevorstehenden Kollaps der fünftgrössten US-Investmentbank, Bear Stearns, in einen Albtraum auszuarten drohte. Die Krise, so liess sie verlautbaren, werde der Schweizer Konjunktur «kaum grösseren Schaden» zufügen. Die Reaktion Leuthards ist verständlich. Es ist schliesslich die politische Aufgabe der Wirtschaftsministerin, Frohsinn zu verbreiten, auch wenn die dunkelsten Sturmwolken am Horizont dräuen.
Aber dass Konjunkturspezialisten, die es eigentlich besser wissen müssten, ins selbe Horn stossen und auf Zeit spielen, ist schon fast unverzeihlich. Die Wirtschaftsprognosen für die letzten Monate von der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH, von Credit Suisse oder BAK Basel Economics waren permanent zu optimistisch – und sie sind es noch immer. In diesem Jahr sehen sie nur eine kleine Delle vor – nach einem Wachstum von über drei Prozent 2007. Die Wirtschaftsleistung, heisst es unisono, sollte nicht unter das Potenzialwachstum von rund zwei Prozent fallen. Und auch für 2009 erwarten etwa die Basler Ökonomen keinen starken konjunkturellen Taucher. Nach vier Jahren Wirtschaftsboom, so könnte man meinen, gehe es immer weiter aufwärts.
Reines Wunschdenken. Die Weltwirtschaft wird von einer beispiellosen Finanzkrise heimgesucht – und die Schweizer Spezialisten tun so, als wäre nichts gewesen. Die Börsen stürzen, die globalen Kreditmärkte liegen flach, am Interbankenmarkt geht gar nichts mehr. Die Notenbanken schütten Hunderte von Milliarden in die Geld- und Kreditmärkte. Es fruchtet nichts. Woche für Woche umrunden neue Hiobsbotschaften den Globus. Milliardenpleiten sind an der Tagesordnung, Hedge Funds brechen zusammen, Banken wie die englische Northern Rock oder die deutsche Industriebank IKB überleben nur dank der Hilfe des Staates. Andere wie die UBS oder Citigroup mussten Finanzspritzen von ausländischen Staatsfonds in Anspruch nehmen. Immer neue Abschreiber von faulen Krediten in Milliardenhöhe wie bei der Credit Suisse Mitte März lösen weitere Schockwellen aus. «Das dicke Ende des Subprime-Debakels werden wir erst im Frühling 2009 sehen», sagt Prof. Hans-Werner Sinn, Chef des deutschen Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, «dann werden die Jahresabschlüsse 2008 veröffentlicht.»
Begonnen hat die Krise in den USA. Im August platzte die Immobilien-Bubble, die Banken hatten plötzlich faule Kredite von verbrieften schlechten Hypotheken in den Büchern, die sie zu Milliardenabschreibern zwangen. Während das Finanzsystem immer weiter ins Trudeln geriet, schlitterte in den USA eine Branche um die andere in die Krise, zuerst die Finanzindustrie, dann die Bau- und Immobilienbranche, die Konsumgüterindustrie und der Detailhandel, die Auto- und die IT-Industrie. Seit dem ersten Quartal 2008 tritt die US-Wirtschaft an Ort. «Die Frage ist nicht, ob die USA eine Rezession durchlaufen», betont Nouriel Roubini, Professor an der University of New York, «sondern wie tief sie sein und wie lange sie dauern wird.»
Nun, die US-Konsumenten haben die Antwort darauf schon gegeben. Sie traten in den Ausstand. Das vom Conference Board ermittelte Vertrauen der Konsumenten ist auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren gefallen. Im Detailhandel sinken die Umsätze. Die neusten Arbeitslosenzahlen weisen nach oben, und dies ist erst der Anfang. Nach ersten groben Schätzungen werden allein bei den Banken über 100 000 Jobs zur Disposition stehen, was eine Rückkoppelung auf die Jobs in anderen Branchen zur Folge haben wird. Zugleich vertieft sich die Immobilienkrise auf dramatische Weise. Die Hauspreise haben bis zu 20 Prozent nachgegeben – ein schnelles Ende des Tauchgangs ist folglich nicht zu erwarten.
«Die Party ist vorbei», schrieb Hans-Werner Sinn in einer Pressemitteilung. Für den Chef des Ifo-Instituts in München ist unbestreitbar, dass Europa sich den amerikanischen Turbulenzen nicht entziehen kann. «Es ist eine Illusion, dass China nun an die Stelle der USA getreten sei», sagt Sinn und stellt sich der gängigen Abkoppelungstheorie entgegen. In der Tat tragen die USA nach wie vor 28 Prozent zum weltweiten Sozialprodukt bei, China dagegen nur 5 Prozent. Ganz Asien zusammen bringt es mit 24 Prozent Anteil nicht einmal auf das Niveau der USA. Dazu kommt, dass die japanische Konjunktur, kaum so richtig in Fahrt gekommen, schon wieder stottert.
Die neusten Umfragen verheissen jedenfalls nichts Gutes – insbesondere für die Schweiz. Der Ifo-Index für das Weltwirtschaftsklima ist im Januar mit 90,4 unter das langjährige Mittel gefallen. Der Index wird aus einer Umfrage unter 1000 Experten aus 90 Ländern ermittelt. Seit dem Platzen der Dotcom-Blase 2001 hat sich der Indikator nicht mehr so stark zurückgebildet. Den stärksten Rückgang verzeichneten die USA und Westeuropa, darunter insbesondere Grossbritannien und die Schweiz. In diesen beiden Ländern mit ihrer relativ grossen Finanzindustrie hat sich der Index, so der Wortlaut im «World Economic Survey», «scharf zurückgebildet» (deteriorated sharply). «In den nächsten sechs Monaten», so heisst es im Bericht, «dürfte der wirtschaftliche Abschwung in der Schweiz auf die Kapitalkosten und den Privatkonsum übergreifen. Im Klartext heisst dies, dass die Kreditzinsen steigen und die Konsumausgaben zurückgehen. Hohe Kreditzinsen sind Gift für die Investitionen der Unternehmen. «Dehnen sich die Risikoprämien für Kredite aus», schreibt die Bank Sarasin in einer Studie, «besteht die Gefahr einer Investitionsrezession.»
Der Befund des Ifo-Wirtschaftsklima-Index steht in krassem Gegensatz zu den Aussagen hiesiger Wirtschaftsauguren. Der private Konsum soll in diesem und im kommenden Jahr um satte 2 respektive 1,5 Prozent wachsen – mithin die Rolle des Schweizer Konjunkturmotors übernehmen. Die KOF ETH prognostiziert gar ein Wachstum von über 2 Prozent in beiden Jahren. Dabei zeigt der Konsumentenstimmungsindex deutlich abwärts. Schon Mitte letzten Jahres hat die Talfahrt begonnen. In dieselbe Richtung zeigt auch der vorauslaufende Konjunkturindikator der KOF ETH. Auch er hat im August 2007 gedreht. Der Rückgang ist noch nicht dramatisch, aber angesichts der annualisierten Wachstumsrate von 3,7 Prozent im vierten Quartal 2007 doch bemerkenswert. Mit einem halben Jahr Verspätung wird sich der Negativtrend in der realen Wirtschaft niederschlagen – mit einer deutlichen Abkühlung.
Grösste Konjunkturbremse in diesem Jahr wird der Export. Sein Wachstum wird von satten zehn auf unter drei Prozent schrumpfen, ein ziemliches Problem für eine Exportnation wie die Schweiz. Der Export belegt nach neusten Studien rund 55 Prozent des Schweizer BIP. Schrumpfen werden vorab die Exporte in die USA und in die Länder, die ihre Währungen an den Dollar gebunden haben (Länder mit sogenanntem Dollar-Peg). Dies sind asiatische Staaten wie auch viele Länder im Nahen Osten und in Südamerika. Schrumpfen werden aber auch die Margen. Die hohen Rohstoffpreise besonders von Erdöl und Stahl drücken der Industrie die Kosten in die Höhe. In vielen Exportmärkten können diese nicht auf die Preise überwälzt werden. Zugleich lässt das Erstarken des Frankens gegenüber Dollar und Euro die Erträge der Exporteure markant schrumpfen.
Schlecht fürs konjunkturelle Umfeld ist auch die anziehende Inflation. Mit 2,4 Prozent ist sie auf dem höchsten Stand seit 14 Jahren – mithin deutlich über dem von der Nationalbank tolerierten Mass. Die Produzentenpreise sind im Februar gar um 3,6 Prozent hochgeschnellt. Doch die SNB steht Gewehr bei Fuss. Erhöht sie jetzt die Zinsen, um die Inflation in den Griff zu bekommen, würgt sie die Konjunktur möglicherweise vollends ab. Sie selbst ist bezüglich des konjunkturellen Ausblicks offenbar nicht so optimistisch wie die Gilde der Auguren. Jüngst hat sie ihre eigene Wirtschaftsprognose nach unten revidiert – auf noch 1,5 Prozent. Denn viel Wachstum kann der Konsum nicht generieren, wenn den Haushalten über die Inflation praktisch das ganze Plus an Kaufkraft wegbricht. Bei einer erwarteten Lohnsteigerung von rund 2,7 Prozent bleiben im Moment noch 0,3 Prozent reale Kaufkraftsteigerung.
Dass die US-Rezession gravierende Auswirkungen haben werde, so der US-Ökonom Roubini kürzlich an einer Tagung in Washington, sei auf das Zusammenfallen von vier Schocks zurückzuführen: die weltweite Krise in den Bau- und Immobilienmärkten, die globale Kreditverknappung als Folge der Finanzkrise, die sinkenden Kurse von Aktien und Obligationen (ausser den Staatsanleihen) und die stark steigenden Rohstoffpreise. Auch Dominique Strauss-Kahn, Direktor des Internationalen Währungsfonds, bestätigte jüngst, dass die Kreditkrise «ernsthafte wirtschaftliche Konsequenzen haben und eine globale Antwort erfordern» werde. Die Bank Sarasin rechnet damit, dass «die Gewinne in den USA um 10 bis 20 Prozent einbrechen» werden. Aber auch in den anderen Regionen werden die Gewinne fallen und die Aktienkurse weiter nach unten treiben.
Ungemach droht auch aus den Schwellenländern, insbesondere aus Asien. Das Wachstumswunder könnte plötzlich zusammenbrechen: dann nämlich, wenn diese Länder ihre an den Dollar gebundenen Währungen mit einem Schlag aufwerten müssen, um die Inflation wirksam zu bekämpfen. In Russland beträgt die Teuerung zehn Prozent, im Reich der Mitte strebt sie auf diese Marke zu. Erst wenn der Yuan zum Dollar aufwertet, geht die Inflation zurück – aber auch die Konkurrenzfähigkeit Chinas auf den Exportmärkten. Die Exporte brechen ein, und die globale Nachfrage wird in Mitleidenschaft gezogen. China wird schlagartig vom Heizer zum Bremser für die Weltkonjunktur.
Die Schweiz kann sich den globalen Trends nicht entziehen, zu vernetzt ist sie als kleine offene Volkswirtschaft. Direkt betroffen sind Branchen, die ein dreifaches Risiko tragen: Sie exportieren erstens aus der Schweiz heraus, sind zweitens konjunktursensitiv und haben drittens ein starkes Dollar-Exposure. Diese, sagt Sarasin-Ökonom Alessandro Bee, «kommen besonders stark unter die Räder.» Etwa die Uhrenindustrie. Luxusuhren gehen zu 95 Prozent in den Dollarraum. Aber auch die Finanzdienstleister sind notgedrungen mit der Wall Street, dem grössten Finanzplatz der Welt, eng verflochten. Gemäss Daniel Kalt, Head of Swiss Research der UBS, sind daneben die Maschinenindustrie, die Medizinaltechnik, die Chemie- und Pharmaindustrie exponiert. Die Entwicklung der Börsenkurse seit Anfang Jahr legt ein beredtes Zeugnis darüber ab (auch wenn sie bisweilen zum Überschiessen neigen). So sind die Kurse der zyklischen Technologiewerte fast gleich stark abgestürzt wie die der Banken. Die Konsumgüter gaben 30 Prozent nach, und die volatile Telekomindustrie musste 25 Prozent preisgeben. Frühzykliker, so die Erfahrung, nehmen eine sich ankündigende Rezession regelmässig vorweg (siehe «Absturz total» als PDF).
Wenig gelitten haben dagegen die defensive Nahrungsmittel- oder die Energiebranche – keine Wachstumsbolzer, aber solide Werte, die wenig volatil sind. Nestlé etwa legt eine stabile Entwicklung vor, weil sie unter anderem in den ausländischen Märkten selbst produziert. Auch andere grössere Firmen wie ABB, Novartis oder Sulzer haben diesen Ausweg gewählt und ihre Währungssensitivität so reduziert. Kleineren Firmen, der grossen Mehrheit der Schweizer Exporteure, ist dies oft nicht möglich. Sie sind in Hightech-Nischen tätig, und ihre Produkte können nur aus der Schweiz heraus erfolgreich vermarktet werden. Ihr Margenverfall geht derzeit bis an die Schmerzgrenze – bei einem Dollarkurs unter einem Franken. So sagt etwa Uli Kern, ein Maschinenbauer aus Konolfingen BE mit einem Exportanteil von 90 Prozent: «Wir leiden brutal unter dem schwachen Dollar.»