Jeder vierte Kunde springt ab. Konzerne investieren jährlich Millionenbeträge, um sie wieder zurückzuholen. Sascha Dietze, Geschäftsleitungsmitglied der deutschen Viveon, spricht von bis zu 10% des Umsatzes. Demnach gibt die Swisscom mehrere Dutzend Mio Fr. für ihr Win-Back- Programm aus. Der hohe Einsatz lohnt sich offensichtlich: «Die Kundenabgänge haben sich zumindest im Fixnetz abgeflacht», sagt Swisscom-Sprecher Sepp Huber. Konkrete Zahlen will er keine nennen. Doch bei einer Kündigung reagiert der Ex-Monopolist blitzschnell: Meldet sich ein Swisscom-Abonnent bei Tele2 an, wird er meist noch am selben Tag zurückgelockt - mit freien Gesprächsminuten oder Gratisgeräten.
Der Kampf um die Kunden tobt aber nicht nur unter den Telekomanbietern. Auch Finanzinstituten und Versicherungen bereiten abwandernde Kunden Mühe. Jährlich sind es über 5%, die ihren Bank- und Versicherungsberatern den Rücken kehren - ein vergleichsweise hoher Wert für eine Branche, in der Anbieter grösstenteils überzeugt sind, Vertrauen sei der wichtigste Erfolgsfaktor für die Kundenbindung.
Die Kunden selbst können mit dieser nostalgischen Betrachtungsweise der Firmen-Kundenbeziehung aber offensichtlich nichts mehr anfangen, an die implizite Treuepflicht halten sie sich nicht mehr: Eine höhere Preistransparenz und die steigende Zahl der Anbieter, deren Produkte immer austauschbarer werden, machen den Kunden zum Rosinenpicker: Er nutzt Dienstleistungen verschiedenster Anbieter und ist bereit zu wechseln, sobald ein billigeres Angebot lockt.
Wer seine Klientel da nicht in Scharen abwandern sehen will, kann es sich nicht mehr leisten, lediglich auf die Kundenbedürfnisse zu reagieren: Zu einem professionellen Churn-Management gehört, «die Erwartungen der Kunden zu übertreffen, das heisst ihre Wünsche zu antizipieren.» Dies sagt Peter Winklemann, Customer Relationshipmanagement-Spezialist der Fachhochschule Landshut. Danach gilt es, dem zweifelnden Kunden nur noch im entscheidenden Moment das richtige Angebot zu unterbreiten. Weil viele Firmen ihre Klientel, gerade wegen der aufgelockerten Kunden-Beziehungen, selten zu Gesicht bekommen, dürfte es allerdings schwierig sein, ihnen nur schon einen Wunsch von den Augen abzulesen.
*Früh gewarnt*
Autohändler kompensieren das Kontaktmanko mit Service-Verträgen: So wurde die 10-jährige Service-Garantie, die jeder Opel-Käufer erhält, eingeführt, damit die Kunden regelmässig in eine Opelgarage müssen - möglichst auch für den nächsten Autokauf. «Wir schreiben alle Absichtsäusserungen unserer Kunden auf», so Martin Ruckstuhl, Opel-Händler in Zürich. Sagt ein Kunde, er wolle im Herbst sein Auto wechseln, ruft ein Opel-Vertreter im Sommer bei ihm an.
Von dermassen engen Kundenkontakten können andere Dienstleistungsbetriebe nicht profitieren. Telekomanbieter oder Versicherer bekämpfen das Abwanderungsrisiko ihrer Kunden denn auch mit elektronischen Frühwarnsystemen. So ging die CSS in den vergangenen Jahren intensiver auf Datensammlung: Der Krankenversicherer hat anhand von ehemaligen Austritten Indikatoren berechnet, die anzeigen, welche Kunden vorhaben abzuspringen: Je jünger die Versicherten und deren Vertrag mit der CSS, je tiefer die bezogenen Leistungen und der Versicherungsgrad sind, desto höher steigt die Gefahr, dass ein Versicherter kündigt. «Eine entscheidende Rolle spielen auch die Prämien unserer Konkurrenz», sagt Volker Schmidt, Leiter Kundensegmente. In diesem Jahr wird das neue System zum ersten Mal operativ eingesetzt: Die CSS will alle Kunden, die eine Austrittswahrscheinlichkeit von über 40% aufweisen, mit gezielten Marketingmassnahmen halten. Wie diese aussehen, sei heute noch nicht definiert, so Schmidt. Einzelne Kundensegmente könnten beispielsweise, wie heute bei den Grossbanken schon üblich, zu einem Event eingeladen werden. Besondere Bemühungen sollen ab Sommer auf den Kündigungstermin hin aufgenommen werden. Bereits ab April dürfen sich die CSS-Churner auf eine vorzügliche Beratung im Call-Center freuen: Die Mitarbeiter werden auf ihrem Bildschirm ablesen können, ob der Kunde am Telefon tief, mittel oder hoch absprunggefährdet ist.
*Genau beobachtet*
«Das wird allerdings noch nicht ausreichen, um die Kunden wirklich zu binden», sagt Schmidt. Denn nur gerade 40% der Kunden, die kündigen, melden sich vorher im Call Center.
Doch nur schon der mündliche Kontakt zu den gefährdeten Kunden erhöht die Erfolgschancen, diese zu halten: «Im Gespräch ist es leichter, jemanden zurückzuhalten, als wenn der Kunde seinen Austritt per Brief oder Mail kommuniziert», erklärt Angelika Bärtsch, Kundendienstleiterin bei Tele2. Der Telekomanbieter, der schon seit drei Jahren Churn-Management betreibt, hat denn auch im letzten Jahr damit begonnen, die gefährdeten Kunden anzurufen. Erwähnt ein Kunde das Wort Kündigung, wird er an einen Retention-Agenten weitergeleitet, der die Befugnis hat, Gesprächsguthaben von mehreren Stunden zu vergeben. Als Frühwarnsystem nutzt Tele2 die Gesprächsdauer: «Telefoniert jemand immer länger als einen Monat nicht mehr über Tele2 oder benutzt nicht mehr alle Nummern, die über uns laufen, melden wir uns und fragen nach, woran es liegt und was wir verändern können.»
Bei den Handy-Anbietern dienen neben den freien Gesprächsminuten vor allem auch Gratisgeräte mit Abo-Verlängerung als Bindungsmittel. Einige Firmen können das Telefonierverhalten ihrer Kunden bereits dermassen detailliert auswerten, dass sie ihnen individuell zugeschnittene Angebote, wie beispielsweise Verbilligungen auf Auslandgespräche, anbieten können. Darüber hinaus sind die Firmen bestrebt, den Kunden möglichst viele Dienstleistungen zu verkaufen.
Wie die Frühwarnung funktioniert, will man bei Swisscom oder Sunrise allerdings nicht preisgeben. Orange behauptet, ihr System bestehe nach wie vor aus telefonischen Kundenbefragungen, was angesichts des harten Konkurrenzkampfes doch zweifelhaft erscheint. Denn nur wer dem Kunden einen Schritt voraus ist, hat in Zukunft auch die Chance, dessen Wünsche nicht nur vorauszusehen, sondern sie auch zu steuern.
Loyalität und Vertrauen bedeuten den Kunden nichts mehr: Kriegen sie ein besseres Angebot von der Konkurrenz, sind sie weg. Wer die Kunden vom Absprung abhalten will, muss in ihre Seele blicken können
Von Benita Vogel
am 04.02.2003 - 18:38 Uhr
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