Am Morgen des 11. September 2001 ging Hans Lerch in New York joggen. Später, nach dem Duschen, schaute der CEO von Kuoni in seinem Hotelzimmer in der 52. Strasse fern. Auf CNN sah er ein Loch in einem der beiden Hochhäuser, erblickte Rauch, hörte Schreie. Lerch blieb vor dem TV-Apparat stehen und rief Micheline in der Schweiz an, sagte zu seiner Frau, du, ich bin erst morgen im World Trade Center, nicht heute, ich bin sechs Kilometer entfernt, mach dir keine Sorgen. Er legte auf und sah das zweite Flugzeug in den anderen Turm rasen. In jenem Moment dachte Hans Lerch: Jetzt hat sich die Welt verändert.
Knapp zwei Jahre später sitzt Hans Lerch in seinem Eckbüro am Konzernsitz in Zürich. Die grosse Veränderung der letzten Jahre ist nicht in seinem Gesicht abzulesen. Sie ist in den Büchern des grössten Schweizer Reiseunternehmens zu finden, das er seit 1999 führt. Der Umsatz ist weggeschmolzen. Lerch und seine Kollegen aus der Reisebranche – Claus Niederer von Hotelplan, Michael Frenzel von TUI, Stefan Pichler von Thomas Cook – finden sich in einem gebeutelten Markt wieder. Die Risiken sind gestiegen.
Die Angst
Die Welt ist schlecht geworden. Man könnte depressiv werden. Hans Lerch zählt auf: Drei Monate Geschäftsflaute nach 9/11. Dann der Anschlag in Djerba im Mai 2002. Im September 2002 in Bali. Bush, der von Krieg zu reden begann. Eine Bombenexplosion in Kenia. Der Irak-Krieg. Und Sars. Hans Lerch sagt: «Wenn alles zusammenkommt wie seit 2001, dann kann das der Tourismus nicht ertragen.»
Die Sars-Seuche lähmte Kuonis Business in diesem Jahr. Während mindestens zweier Monate des zweiten Quartals wollte kein Reisender mehr etwas von Asien wissen. Zwischen Bombay, Peking und Australien war das Reisegeschäft zum Erliegen gekommen. Selbst Thailand, bis dahin das Hauptziel der wichtigen Kuoni-Reisenden mit Abflugland England, stürzte ab.
|
Die Angst hat die Menschen in den Industrieländern unvorbereitet getroffen. «In den Neunzigerjahren lebten wir in einem Zeitalter, in dem alles immer besser wurde», sagt Hans Lerch und wird leicht sarkastisch: «Die damals vorherrschende Geisteshaltung der Menschen war, dass man ganz ohne Probleme durchs Leben kommt und dabei erst noch sehr reich wird.»
Und nun das. Terror, Bomben, Seuchen. Wie passt das zum problemlosen Leben? Wie passt das zu meinem Geschäft?, fragt sich Hans Lerch.
Die Reisebranche versucht seit Monaten mit Promotionsprogrammen und mit Werbung zu antworten. In England, wo Kuoni eine Milliarde Umsatz macht, hat der Konzern soeben eine 500 000 Pfund schwere Kampagne angeschoben, die zum Reisen nach Thailand animieren soll – bezahlt vom thailändischen Staat, der Touristen anlocken will.
Doch nützt das etwas gegen die Angst? Hans Lerch zuckt mit den Schultern. «Wenn jemand Angst hat, dann kann man ihn gratis in die Ferien schicken, und er wird nicht gehen.»
Der zähe Langstreckenläufer scheint ratlos. 33 Jahre ist Hans Lerch schon bei Kuoni. Seit seinem zwanzigsten Altersjahr. Er ist der fadengerade Manager aus Roggwil bei Bern, der seinem Gegenüber direkt in die Augen blickt, wenn er mit ihm spricht. Kein Spiegelfechter oder Schaumschläger, auch kein Philosoph. Er hat eine Schlammschlacht mit dem ehemaligen Stiftungsratspräsidenten durchlebt. Er hat im letzten Dezember die Diskussion im Verwaltungsrat um seine Ablösung überstanden. Er ist immer noch CEO und bügelt eben seinen grössten, 200 Millionen Franken teuren Fehler aus, den Einkauf im Massengeschäft in Skandinavien. Inzwischen kommt er mit dem resoluten Wesen des ihm ähnelnden Verwaltungsratspräsidenten Andreas Schmid zurecht.
Gefahren kommen und gehen, Lerch bleibt. Es scheint, als ob Hans Lerch vor allem auf seine eigene Ausdauer vertrauen würde. Bei 3:22:18 steht seine beste Laufzeit für 42,195 Kilometer. In jedem Marathon gerät man in Krisen. Die Angst läuft mit.
Wachsende Selbstverständlichkeit
Die Angst der Kunden ist das eine, diese «politischen Zyklen, denen wir neuerdings unterworfen sind», wie ein Kuoni-Verwaltungsrat sagt. Das andere sind die strukturellen Veränderungen der Branche, verlangt und gefördert von Kunden und Konkurrenz.
Die aufgekommenen Billig-Airlines beschleunigen diese Entwicklung. Die Individualisierung der Reisenden und die Verfügbarkeit und die Selbstverständlichkeit des Reisens haben stark zugenommen. In der Branche wird der Trend mit dem unmöglichen Wort «Commoditysierung» zusammengefasst, vom englischen «commodity» (Gebrauchsware) abgeleitet. Hans Lerch sagt: «Wie war es vor dreissig Jahren glorios, eine Reise zu machen! Heute ist Reisen nichts Spezielles mehr.»
Hansruedi Müller, Professor für Tourismus an der Universität Bern, sagt, dass die Auswirkungen dieses Phänomens auf die Branche enorm seien. Er nennt die Kurzfristigkeit im Buchungsverhalten, die sich wegen der politischen Ereignisse und der Reaktion der Kunden noch weiter verschärfe. Zum selben Themenkreis gehöre für ihn die verstärkte Preisfokussierung der Kunden. Letzteres führt Müller auf die sinkenden Nettobudgets zurück.
In den letzten zehn Jahren bewegten sich die Steuerabgaben eines Schweizer Haushalts seitwärts, die Gesundheitskosten stiegen massiv, und die Saläre verharrten auf demselben Niveau. Die Freizeitbudgets fressen maximal 20 Prozent des Nettoeinkommens. Zwei Drittel davon waren bis vor zehn Jahren für Reisen und Ferien reserviert. Das hat sich geändert: Neue Ausgabeposten Computer, Anlässe oder Technologie lassen das Ferienbudget weiter schrumpfen. Müllers Schlussfolgerung: «Heute sind die Freizeitbudgets und die Ferienbudgets tendenziell kleiner als vor zehn Jahren.»
Neue Vertriebskanäle
Hans Lerch winkt ab. Auch wenn es in Strategietreffen mit dem Verwaltungsrat immer wieder zur Sprache kommt, sieht Lerch im Sinken der Kundenbudgets keine Gefahr. Er sagt: «Ein kleineres Nettobudget hält niemanden davon ab, zwei Wochen in der Dominikanischen Republik Ferien zu machen, wenn man dort billiger leben kann als während derselben Zeit in Zürich.» Eine eben erschienene Studie der Beratungsfirma Mercer stützt seine Aussage vorerst: Schweizer, Belgier und Niederländer lassen sich in Europa ihre Reisen immer noch am meisten kosten. Durchschnittlich 1000 Euro gibt ein Schweizer pro Jahr für Ferien aus. In Deutschland sind es 600 Euro.
|
Viel mehr beschäftigt den 53-jährigen Hans Lerch die Auflösung eines Dilemmas. Der selbstverständlich gewordene Kundenanspruch nach jederzeit verfügbaren und dennoch billigen Reisen arbeitet gegen die Ausstrahlung seines Produktes. Gegen die Einmaligkeit. Gegen die Marke. Commodity versus Brand. «Hörnli ist Hörnli. Brot ist Brot. Reise wird Reise», sagt Hans Lerch. Reiseprodukte drohen austauschbar zu werden. Was tun dagegen? Weiterlaufen. Mitmachen. Der Langstreckenläufer von Kuoni sagt: «Selbstverständlich werden Differenzierungsmerkmale, zum Beispiel über Zusatz- und Beratungsleistungen, an Bedeutung gewinnen.»
Die Beobachter der Branche sind sich einig, dass Kuoni – aus Strategiedenken oder durch Gelegenheit – Vorkehrungen getroffen hat. Im Ausland verhindert das Fokussieren auf das Spezialistengeschäft die Austauschbarkeit. In der Schweiz jedoch muss Kuoni im Massengeschäft antreten. Da wird es schwieriger. Hier antwortet der Konzern mit drei Marken auf die Commoditysierung. Kuoni als der teure, Helvetic Tours als der preiswerte und Reisen Netto als der billigste, über Internet operierende Brand.
Das zweite Problem, das Hans Lerch umtreibt, ist die Folge der Individualisierung beim Kunden: Dessen Drang zum kurzfristigen Buchen nimmt zu (in England liegt der Anteil der Spätbucher gemäss Mercer-Studie bei 50 Prozent).
|
Ein authentisches Beispiel aus einem Reisebüro verdeutlicht die heutigen Ansprüche an den Reiseveranstalter. Kommt ein Kunde und sagt: Meine Familie und ich wollen morgen in die Ferien. Morgen? Ja, morgen. Wohin? Nach Kanada. Ein wenig hier umherfahren, ein wenig dorthin fliegen. Auto und Blockhütte. Wenig später verlässt der Mann mit einem Arrangement für 30 000 Franken das Office. Am nächsten Tag fliegt er.
Hans Lerch kennt etliche Beispiele dieser Art. Seine Kuoni muss den Kunden als Individuum behandeln und dennoch die Vorteile des gebündelten Einkaufs wahrnehmen. Das sei lösbar. Schwieriger wird es anderswo. Lerch sagt: «Die entscheidende Frage ist: Wie und wo kauft der Kunde, und wo hänge ich mein Produkt hin, dass ich noch gesehen und gekauft werde?»
Die Antwort sucht die Branche in erster Linie im Web. Reise-TV, interaktives Fernsehen, gilt weiterhin als technisch nicht genug entwickelt und zu teuer. Kuoni hat ihre Erfahrungen damit in England gemacht und ist ausgestiegen. Heute generiert sie mit Reisen Netto rund ein Viertel ihres Schweizer Umsatzes via Internet. TUI, Thomas Cook, FirstChoice, ReWe, sie alle sind auf der Suche nach dem direkten Draht zum Kunden. Bis zur Entdeckung des absolut Neuen aber bleibt der traditionelle Absatzkanal – und der gilt als wesentliches Problem. Kuoni will in der Schweiz an den über hundert eigenen, kapitalintensiven Filialen festhalten, weil sie denkt, dass sie dies tun muss. Zu Recht, denn zu viele Kunden würden ihr heute verloren gehen, wenn sie beispielsweise die Zürcher Filiale an der Bahnhofsstrasse schliessen und dort nicht – wie eben geschehen – in den neuen Teppich investieren würde.
«Wir sind aber bereit, den Dimmer Internet aufzudrehen, wenn die Zeit reif ist», sagt Hans Lerch. Das ist typisch für ihn. Vorerst wird weitergelaufen.
Einmalige Chancen
Risiken, wohin man schaut. Hans Lerch hätte viele Gründe, die Herausforderungen zu scheuen. Er reckt sich auf seinem Stuhl: «Viele sagen heute, diese Industrie ist ja sowieso tot. Ich denke das überhaupt nicht. Diese Industrie ist nicht tot. Man ist nur vorsichtiger als früher.»
Der zähe Manager hat seine Gründe, verhalten optimistisch zu sein: Die etlichen Bedrohungen der Branche und deren Antworten haben für Kuoni eine interessante, neue Ausgangslage geschaffen. Die Risiken verwandeln sich in Chancen. Vier Beispiele beweisen dies: Erstens: Da die Schweiz als Massenmarkt schlicht zu klein ist, hat Kuoni selber nie komplett vertikal integriert und stattdessen ihr Glück im Spezialistengeschäft gesucht. Die Schweizer besitzen keine ruinösen Hotels oder Flotten mit über hundert Flugzeugen wie die hoch verschuldeten Konkurrenten TUI oder Thomas Cook (siehe «Finanzsituation der Reiseveranstalter» links). Diese Riesen des Massengeschäfts leiden in einem unwirtlichen Wirtschaftsumfeld darunter, dass sie kapitalintensiv investiert und dabei noch mit einer Leverage belastet sind, die ihnen – als Hebel in guten Zeiten erdacht – in miesen Zeiten die Luft abpresst. Kuonis Vorteile hingegen sind offensichtlich: Die Verschuldung ist klein, die Liquidität hoch, der Spielraum für Akquisitionen gross. Für die Nummer sechs in Europa ist vieles denkbar, praktisch alles ist möglich.
Hans Lerch will weitere Spezialreiseanbieter im Ausland erwerben. Ein Umsatz von bis zu 200 Millionen gilt als Idealgrösse eines Übernahmekandidaten. Die kleine, französische Vacances Fabuleuses (Umsatz 2002: 24 Millionen Franken), gekauft im Juni dieses Jahres, dient als Vorbild. Doch Lerch muss sich sputen und das konjunkturelle Fenster nutzen. Denn wird das Wetter wieder gut, geht es auch der vertikal integrierten Konkurrenz besser.
|
Zweitens: Weil das Verhältnis zwischen Verwaltungsrat und Management zwar bereinigt, aber immer noch durch Wachsamkeit gekennzeichnet ist, kann sich keiner an der Spitze Kuonis ausruhen. Die Machtrelationen halten den besten Schweizer Tourismusmanager der Gegenwart, Hans Lerch, am Laufen. Umgekehrt zügelt sein CFO, Max Katz, den CEO, wenn dieser wieder einmal zu bullish zu werden droht. Analysten sehen in Hans Lerchs heissblütigem Temperament seine grösste Schwäche.
Drittens: Die tiefen Preise in der Hotellerie und im Flugwesen sind für Kuoni Geschenke des Himmels. Lerch handelt derzeit in einem reinen Käufermarkt. Er bestimmt die in den Keller gerutschten Preise. Der Spielraum für die Margen ist gross, die Kosten sind bereits stark gesenkt. Kein Wunder, sagt Lerch, dass Kuonis Bruttomargen heute besser seien als vor zehn Jahren. Acht Prozent organisches Wachstum pro Jahr heisst sein stolzes Ziel. Dies in einer Zeit, in der die Experten für die gesamte Reiseindustrie gerade mal zwei bis drei Prozent Wachstum prognostizieren.
Viertens: Wie an alles gewöhnt sich der Kunde auch an die Angst. Sie flacht ab. Es wird wieder gereist. Hans Lerchs Laufstil sieht deshalb lockerer aus als auch schon. Kuoni verzeichnet seine grössten Buchungszuwächse in Hongkong. Zwar von kleinem Niveau aus, aber immerhin. Hans Lerch sagt: «Im Frühling war Sars da, da reiste niemand. Jetzt aber sagen sich die Leute dort, komm, wir reisen schnell, bevor wieder eine Seuche kommt.»
In Hongkong folgten die Menschen einem Motto, sagt Lerch, «let’s do it while we can.» Es sagt mehr über ihn aus als über Hongkong.