BILANZ: Jürgen Dormann, ist die ABB ein Selbstbedienungsladen?
Jürgen Dormann:
Nein, das ist sie nicht. Man soll nicht zwei Ausreisser, bezogen auf 155 000 Mitarbeiter, verallgemeinern. Das wäre nicht nur nicht korrekt, sondern auch extrem unfair.

Wie konnte es dann passieren, dass sich die Herren Barnevik und Lindahl aus der Unternehmenskasse 233 Millionen Franken selbst und gegenseitig zuschieben konnten?
Einer greift in die Kasse und läuft weg: Das ist zu plakativ formuliert. Die Hintergründe liegen in nicht hinreichend überlegten Vereinbarungen. Die Massstäbe waren zu Beginn der Neunzigerjahre, als diese Vereinbarungen getroffen wurden, in der Schweiz noch nicht so weit entwickelt, als dass man die heutigen Messlatten anlegen könnte.

Die Beträge, um die es hier geht, wären auch damals jenseits von gut und böse gewesen.
Es stimmt, dass die Kultur, die guten Sitten und das allgemeine Verständnis über Werte sich von den Neunzigerjahren bis heute kaum verändert haben. Das Problem bei ABB war, dass die notwendigen Prozesse, um die Pensionszuschüsse festzulegen und zu überwachen, nicht etabliert waren.

Konkret: Wie konnte der VR-Vizepräsident, in diesem Fall Robert Jeker, einen Pensionsplan unterschreiben, ohne die Zahlen zu kennen?
Das müssen Sie Herrn Jeker fragen.

Barnevik hingegen wusste von der absoluten Höhe der Bezüge, die er sowohl für sich als auch für Lindahl vereinbarte …
… das ist logisch, ja …

… dann hat er Sie und die anderen VR- Mitglieder hinters Licht geführt.
Was die Motive waren und ob er uns bewusst hinters Licht geführt hat, will ich nicht kommentieren. Fakt ist, dass der VR die Zahlen nicht zeitnah gekannt hat.

Fakt ist aber auch, dass sich der VR bis letzten Frühling gar nicht nach den Zahlen erkundigt hat.
Ja, das ist auch Fakt. Auch wir im VR haben Fehler begangen, das gebe ich zu. Aber warum? Weil die VR-Mitglieder, die ja alle gestandene Geschäftsleute sind, von derartigen Vorgehensweisen und auch von absoluten Beträgen in dieser Höhe niemals ausgehen konnten. Das lag jenseits des Vorstellbaren.

Sie haben in den letzten Wochen mehrmals öffentlich die Corporate Governance von ABB kritisiert. Sie waren in den letzten Jahren selbst VR-Mitglied. Es hätte auch an Ihnen gelegen, für Corporate Governance zu sorgen.
Einverstanden.

Warum haben Sie es nicht getan?
Woher wissen Sie das?

Sonst wäre die Affäre von Anfang an vermieden worden oder mindestens viel früher ans Licht gekommen.
Es ist ja nicht so, dass bei Corporate Gover-nance wie an der Ampel in fünf Sekunden von Rot auf Grün geschaltet wird. Diese Prozesse müssen sich entwickeln. Heute wissen wir, dass während zu langer Zeit zu viel Einfluss in einer Person konzentriert war. Es haben durchaus einige VR-Mitglieder in den letzten 24 Monaten ihren Beitrag dazu geleistet, dass solche Veränderungen möglich geworden sind. Und die Tatsache, dass wir erst jetzt endgültig so weit sind, muss auch im Zusam-menhang mit den personellen Veränderungen der letzten Zeit im VR gesehen werden.

Auf Deutsch: Die Bremser sind draussen.
Ich würde nicht Bremser sagen. Sagen wir: Leute, die sich in gutem Glauben so verhalten haben, weil jahrelang alles reibungslos lief.

Wiederum auf Deutsch: Barnevik hat den VR eingelullt.
Nicht eingelullt. Das waren vernünftige, kompetente, erfahrene Leute. Will man je-mandem einen Vorwurf daraus machen, dass er in einer Situation, die unternehmerisch und ergebnismässig gut war und in der kein offenkundiger Verdacht bestand, der Füh-rung ein gewisses Vertrauen entgegenbringt?

Das Vertrauen ist enttäuscht worden.
Ja, leider.

Sind Sie von Barnevik auch menschlich enttäuscht?
Ich enthalte mich dazu einer Wertung.

Dass Sie mit der ganzen Sache an die Öffentlichkeit gegangen sind, lässt darauf schliessen, dass Sie die Angelegenheit mit Barnevik und Lindahl schon vorher im Stillen zu regeln versucht haben und dass der Versuch fehlgeschlagen ist.
Die Annahme ist falsch. In dem Moment, als wir alle Fakten kannten, sind wir an die Öffentlichkeit gegangen.

Wollten Sie durch die Veröffentlichung auch zeigen, dass unter Jürgen Dormann bei ABB nun ein anderer Wind weht?
Ja, das auch. Aber primär mussten wir vermeiden, dass Dritte das Thema besetzen. Zum Beispiel Sie. Es gab zu viele Leute, die wir für die internen und externen Analysen brauchten und die daher davon wussten. Das Thema wäre früher oder später öffentlich geworden. Da gaben wir die Initiative lieber nicht aus der Hand.

Ihre Analysen haben vier Monate gedauert. Daraus schliesse ich, dass Lindahl und Barnevik nicht kooperiert haben bei der Aufarbeitung der Affäre.
Der Schluss ist viel zu einfach. Wir reden hier über Dokumente, die zehn Jahre oder älter sind. Die mussten erst mal gefunden und überprüft werden. Was davon nicht mehr vorhanden war, musste durch Gespräche rekonstruiert werden. Die damaligen Entscheidungsträger sind heute zum Teil gar nicht mehr am Leben. Dann gab es nach der Fusion von Asea und BBC doppelte Zuständigkeiten – Eierschalen aus der Entstehungsgeschichte, die noch viel zu lange existierten. Das alles hat die Sache extrem verkompliziert. Dass beide durchaus kooperationswillig waren, zeigt ja auch die rasche Einigung über die Rückzahlung eines guten Teils dieser Summen.

Aus heutiger Sicht ist es wohl nahe liegend, dass der im November noch überraschende Rücktritt Barneviks aus dem VR-Präsidium auch mit den Pensionskassenzuschüssen zusammenhängt?
Das ist korrekt.

Wer konkret hat ihn zum Rücktritt gedrängt?
Es gibt nicht nur eine Ursache und eine Wirkung. Herr Barnevik hat ja bei seinem Ausscheiden erklärt, dass er einen Teil der Verantwortung übernimmt für die schwierige wirtschaftliche Situation von ABB. Er war unzufrieden, dass nach seinem Wechsel vom CEO- auf den VR-Präsidenten-Sessel bei ABB der Faden riss. Das war für ihn wohl das Hauptmotiv.

Für ihn. Und für die anderen VR-Mitglieder?
Die Motive bei den anderen sieben VR- Mitgliedern waren nicht alle deckungsgleich. Aber einige gab es sicher, die beim Bekanntwerden dieser Zahlen gesagt haben: Jetzt ist genug.

Das Engagement bei ABB hat Martin Ebner gewaltige Verluste beschert. Ist es korrekt, dass er die treibende Kraft hinter der Absetzung Barneviks war?
Interna aus den Verwaltungsratssitzungen werde ich nicht mit Ihnen teilen.

Göran Lindahl hat ABB in einem deutlich schlechteren Zustand hinterlassen, als er es von seinem Vorgänger übernommen hatte. Wie rechtfertigen Sie dann gegenüber den Aktionären die Tatsache, dass er im Lauf der Jahre 20 Millionen Franken Bonus bekommen hat?
Indem er einen Vertrag hatte. Und indem im Vertrag Kriterien festgelegt waren, welche die Bonuszahlungen auslösten. Aber Sie haben Recht, aus Sicht der Aktionäre und wohl auch der Mitarbeiter ist das schwer zu erklären.

Schwer zu erklären ist auch die Bonusregelung für das letzte Geschäftjahr. Es war das schlechteste in der ABB-Geschichte, zum ersten Mal gab es einen Verlust, der Aktien-kurs ist um fast 70 Prozent gefallen, und dennoch hat CEO Jörgen Centerman zu seinem Gehalt von 1,5 Millionen Franken noch einmal die gleiche Summe als Erfolgsbonus kassiert.
Die Bonuszahlungen hängen ja nicht nur von einem Kriterium ab wie dem Aktienkurs. Da gibt es ein ganzes Bündel von Teilzielen. Und jedes einzelne erreichte Teilziel löst einen Teil der Bonuszahlung aus. Centerman hat einen Bonus bekommen, obwohl ABB in die roten Zahlen gerutscht ist. Er hat ihn bekommen – und zu Recht bekommen –, weil die unternehmerische Leistung von ihm und seiner Equipe, die Sonderfaktoren aus-geklammert, befriedigend war. Deswegen ist der Bonus auch befriedigend ausgefallen, aber nicht hervorragend. Und was die Aktienkursentwicklung angeht: Natürlich ist die unbefriedigend, natürlich hat Centerman für dieses Teilziel keinen Bonus bekommen. Das ganze Management hat dieses Jahr mit ihren Stock-Options-Plänen lauter Luftnummern. Dafür hatten sie zum Teil auch privates Geld aufgewendet. Das ist nun verloren.

Nimmt man Centermans letztes Gehalt als Basis, bekommt auch er, wenn er mit 60 in Pension geht, Pensionszuschüsse von mindestens 42 Millionen Franken. Das sieht nicht so aus, als habe die ABB aus dem Skandal gelernt.
Doch, wir haben daraus gelernt. Wir haben das System geändert und einen Deckel draufgemacht. Exorbitante Zahlungen werden in Zukunft nicht mehr möglich sein. Lindahl und Barnevik werden Einzelfälle bleiben.

Das heisst, die 42 Millionen werden nicht ausbezahlt werden?
Das habe ich nicht gesagt. Ich habe die Rechnung nicht gemacht.

Können Sie wenigstens den Deckel quantifizieren?
Das kann ich. Das bisherige Bonussystem war ohne Limitierung nach oben offen. Für die Pensionsregelung kann die Bonuskomponente in Zukunft nicht höher sein als 100 Prozent des Basisgehalts.

Das einzig Positive an dieser ganzen Affäre ist die Tatsache, dass nun immer mehr Unternehmen die Bezüge des Managements offen legen. Werden damit Exzesse in Zukunft unterbunden, oder wird im Gegenteil die Transparenz zu einer Steigerung der Topsaläre führen nach dem Motto: Jeder möchte mehr verdienen als sein Kollege?
Definieren Sie mir «Exzesse»!

Drehen wir die Frage um: Was darf ein Topmanager verdienen?
Das entscheidet der Markt. Topmanager, die eine Gesellschaft dieser Grösse führen können, wachsen nicht auf Bäumen. Bei der nächsten Gehaltsdiskussion – und auch das ist neu bei ABB – werden wir im Entlöhnungsausschuss eine Wettbewerbsanalyse auf dem Tisch haben, die von unabhängigen Fachleuten erstellt wird und uns ermöglicht, ABB mit den weltweiten Wettbewerbern zu vergleichen. Das sind die Vorteile der Transparenz.

Kommen wir auf die Frage zurück: Wird durch die neue Transparenz die Lohnspirale nach oben geschraubt?
Ich sehe nicht, dass sich durch die Transparenz eine Systemänderung in der Schweizer Wirtschaft anbahnt. Aber der Wettbewerb ist immer die beste Antwort auf Übertreibungen, sofern es denn welche gibt – sowohl nach oben als auch nach unten. Wenn einer gehaltsmässig nach unten ausreisst, würde ich die Aktien seines Unternehmens sofort verkaufen, weil die nur runtergehen können.

Moment, damit sagen Sie, dass jemand, der schlecht bezahlt ist, automatisch schlechte Leistung bringt!
Wer gute Leistung bringt und sich schlecht bezahlen lässt, ist eine Null!

Kommen wir zur Zukunft von ABB. Sie haben Hoechst zerschlagen …
… (schreit auf) Oooch! Wo haben Sie denn das her? Ich habe mit klarer Vorstellung eine natürliche Zellteilung beschleunigt. Das ist ein kreativer unternehmerischer Prozess, der ein anderes Wort als Zerschlagung verdient!

Schön. Können Sie sich einen ähnlichen kreativen unternehmerischen Prozess, wie Sie es nennen, auch für ABB vorstellen?
Jeder Fall ist anders. Aber auch bei ABB müssen wir die Frage stellen: Wo sind unsere Stärken am weitesten ausgebildet? Und das kann nicht auf allen Gebieten gleich sein. Und da wir nur begrenzte Ressourcen haben – auch finanziell –, müssen wir uns auf die Gebiete konzentrieren, auf denen wir die besten Wettbewerbschancen haben.

Centerman hat bereits öffentlich geäussert, dass der Bereich Finanzdienstleistungen nicht mehr Kerngeschäft sei und daher nicht mehr weiterentwickelt werde. Sollte er Ihnen die Abspaltung dieses Bereichs vorschlagen, würden Sie zustimmen?
Falls er das vernünftig begründet und eine Realisierungsmöglichkeit im Markt vor-schlägt, die wir den Aktionären gegenüber vertreten können, dann wird das der VR sehr genau prüfen, ja.

1996 verzeichnete die ABB noch 34 Milliarden Dollar Umsatz. Seither ist ABB auf heute 23 Milliarden Dollar geschrumpft. Zahlt man nun den Preis für eine überschäumende Expansion in den boomenden Neunzigerjahren?
Die Entwicklung würde mich nicht sehr nachdenklich stimmen, wenn die richtigen Geschäftsfelder dazugekommen und die richtigen weggegangen wären. Ich habe jedoch meine Zweifel, ob wirklich die richtigen Geschäftsfelder dazugekommen sind. Der Anspruch des Wissenskonzern war überhöht und schlug wohl auch fehl. Und deshalb haben Jörgen Centerman und ich ziemlich gemeinsame Vorstellungen darüber, was nicht zu ABB gehören muss.

Sie haben 940 Millionen Dollar für die Asbestklagen zurückgestellt. Diverse Bankenstudien gehen davon aus, dass mindestens das Doppelte nötig sein wird, um alle Schadensersatzansprüche zu regeln. Bereits jetzt ist die Eigenkapitaldecke extrem dünn. Was passiert mit ABB, wenn diese Analysten Recht behalten?
Das ist eine Frage des Zeitraums. Zwei Milliarden morgen ist etwas ganz anderes als zwei Milliarden über drei, vier Jahre. Die Asbestklagen haben sogar die Perspektive, über 15 bis 20 Jahre abgewickelt zu werden. Über diesen Zeitraum gerechnet, macht eine Milliarde Franken fast keinen Unterschied.

Wie soll ABB in drei Jahren aussehen?
Schlanker, profitabler, eine wesentlich höhere Marktkapitalisierung ausweisen und management- und finanzmässig so aufgestellt sein, dass man am weiteren Konzentrations-prozess der Industrie aktiv teilnehmen kann. Das sind die Erfolgskriterien, an denen auch ich mich messen lassen werde.

Sie haben Ihren Rücktritt vom CEO-Posten bei Aventis bekannt gegeben und beschränken sich dort nun auf den Aufsichtsratsvorsitz. Muss man daraus schliessen, dass ABB künftig Ihre gesteigerte Aufmerksamkeit fordert?
Nein, da besteht überhaupt kein Zusam-menhang. Ich habe bereits früher gesagt, dass meine Priorität Aventis gilt – in welcher Form auch immer. Ich bleibe bei meiner Aussage: 105 Prozent meiner Arbeitskraft gehören Aventis, 15 Prozent gehören meiner Familie, und meine Frau hat netterweise zugestimmt, einige dieser Prozente an ABB abzugeben.
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