Es kommt in den entwickelten Volkswirtschaften nicht häufig vor, dass das grösste Unternehmen des Landes von einem Tag auf den anderen verschwindet. Zwar nicht aus dem ökonomischen Leben, aber aus dem Leitindex, der die größten Börsengesellschaften versammelt. Genau das kommt jetzt auf Deutschland und den Deutschen Aktienindex (Dax) zu.

Mit Linde wird das grösste Dax-Unternehmen die Frankfurter Wertpapierbörse verlassen. Das haben die Anteilseigner am Mittwoch auf einer ausserordentlichen Hauptversammlung beschlossen. Als Termin für den Rückzug wird der 1. März anvisiert. 

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Mit der Einstellung des Listings in Frankfurt entfällt die Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Leitindex, und damit verliert der Deutsche Aktienindex gewissermassen sein Flaggschiff. «Mit Linde verlässt das derzeit schwergewichtigste Dax-Unternehmen den Index», sagt Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte und Strategie bei der DekaBank.

Marktkapitalisierung überragt alle anderen

Gross ist der Industriegase-Spezialist Linde gemessen an der Zahl seiner Mitarbeiter und an seinen Erlösen. Die Grösse, die an den Börsen zählt, ist jedoch die Marktkapitalisierung: der Wert der Aktien zum aktuellen Börsenkurs. Was diese Marktkapitalisierung angeht, überragt der Konzern alle anderen Unternehmen im Leitindex.

Linde wird aktuell mit 157 Milliarden Euro bewertet, der Software-Riese SAP – als Nummer zwei im Börsenbarometer – mit 126 Milliarden. Dann folgen die Technologiefirma Siemens mit 116 Milliarden und die Deutsche Telekom mit 102 Milliarden Euro. 

Linde will sich künftig auf die Notierung an der New Yorker Börse konzentrieren. Das Management hatte die Rückzugspläne mit dem Mehraufwand bei der Bilanzierung und mit Bewertungsfragen begründet. Unter anderem wurde argumentiert, dass die Begrenzung des maximalen Indexanteils auf zehn Prozent die Entwicklung des Aktienkurses hemme.

Die Bedeutung von Industrie und Finanzen im Dax nimmt zu.

Die Bedeutung von Industrie und Finanzen im Dax nimmt zu.

Quelle: Infografik Welt

In der Vergangenheit hat sich der Linde-Kurs deutlich besser entwickelt als der Leitindex und andere langjährige Dax-Mitglieder. Der Gasespezialist hat seinen Wert seit Ende 2018 mehr als verdoppelt, der Dax konnte nur ein Drittel zulegen. Fonds, die den Leitindex abbilden, könnten daher gezwungen sein, Aktien des Gaseherstellers zu verkaufen, damit der Linde-Anteil nicht die vorgeschriebenen zehn Prozent übersteigt. 

Für die Konkurrenzfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland ist der Abschied des Weltkonzerns vom Frankfurter Listing ein Schlag. Seit der Fusion mit dem US-Konkurrenten Praxair im Jahr 2018 hat das 1879 gegründete Traditionsunternehmen die Rechtsform einer plc.

Der juristische Sitz befindet sich im irischen Dublin, Entscheidungen im operativen Geschäft werden jedoch im britischen Guildford südwestlich von London getroffen. Wie Linde-CEO Sanjiv Lambades haben zahlreiche Vorstandsmitglieder ihren Lebensmittelpunkt in den Vereinigten Staaten, und so fand jetzt auch die ausserordentliche Hauptversammlung, die über den Rückzug entscheidet, an der US-Ostküste statt.

Schon jetzt höher bewertet als Air Liquide

Für Linde-Aktionäre dürfte sich relativ wenig ändern. Dem HV-Beschluss zufolge soll eine neue Holding-Gesellschaft in Irland gegründet werden. Für jede ihrer bisherigen Linde-Aktien sollen Anleger dann einen neuen Anteilschein bekommen, der an der New York Stock Exchange gelistet ist. Auch der Name und das US-Börsenkürzel sollen gleich bleiben.

Da das Unternehmen auch jetzt schon Mitglied im US-Leitindex S&P 500 ist, wird Linde auch weiter in dem vielleicht wichtigsten Börsenbarometer vertreten sein. Ob Linde mit dem Abschied von Deutschland wirklich in höhere Bewertungsdimensionen vorstossen kann, muss sich zeigen. Mit einem Kurs/Gewinn-Verhältnis auf Basis der erwarteten 2022er-Jahreszahlen ist Linde schon jetzt höher bewertet als zum Beispiel der französische Wettbewerber Air Liquide, dessen Aktie Börsianer mit dem 24-Fachen des Jahresgewinns bezahlen.

Für den deutschen Kapitalmarkt ist der Abschied von Linde ein weiterer Schlag. Dass der Industriegasespezialist aus dem Dax herausgewachsen ist oder sich in dessen Regelgerüst zumindest eingezwängt fühlt, hat auch damit zu tun, dass die anderen Börsenunternehmen relativ schwach kapitalisiert sind.

Viele Dax-Mitglieder haben eine «Market Cap» im niedrigen zweistelligen Milliardenbereich. So bringt der Autozulieferer Continental zum Beispiel nur rund 14 Milliarden Euro auf die Börsenwaage, nicht einmal ein Zehntel des Linde-Gewichts.

Linde ist Dax entwachsen
Quelle: Infografik Welt

«Die Entscheidung hat eine historische Tragweite, denn Linde gehörte dem deutschen Leitindex seit dessen Gründung 1988 an», sagt Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte und Strategie bei der DekaBank. Von den jetzigen Mitgliedern waren neben Linde seinerzeit nur Allianz, BASF, Bayer, BMW, Mercedes-Benz Group, Deutsche Bank, E.on, Henkel, RWE, Siemens und Volkswagen dabei.

Linde folge der Liquidität, meint Schallmayer. Schon heute werde in den USA täglich ein deutlich größeres Volumen an Linde-Aktien gehandelt, als das am deutschen Börsenplatz der Fall ist: «Nach der Fusion mit Praxair ist Linde nicht nur zu einem deutsch-amerikanischen, sondern zu einem multinationalen Konzern geworden.» Tatsächlich sind drei Viertel der Stimmrechte an dem Unternehmen in den USA domiziliert.

Allerdings ist Linde nicht der einzige Dax-Konzern, dessen grosse Anteilseigner ausserhalb Deutschlands zu Hause sind. «Die Zahl der Aktionäre in Deutschland hat zwar gerade erst ein neues Rekordhoch erklommen, was sehr erfreulich ist, allerdings gibt es weiter Nachholbedarf», sagt der Kapitalmarktstratege. Es wäre wünschenswert, wenn die Aktionärsbasis in den kommenden Jahren weiter kontinuierlich ansteigt. Eine Stärkung der heimischen Anlagekultur und damit auch Investoren würde auch den Finanzplatz in Deutschland stärken und für Unternehmen attraktiver machen.

Wie klein der deutsche Aktienmarkt im internationalen Vergleich ist, lässt sich am MSCI World ablesen, einem Index, der die größten Börsenunternehmen der industrialisierten Welt abdeckt. Deutsche Aktien kommen im MSCI World auf einen Anteil von lediglich 2,4 Prozent. Verglichen mit den Schwergewichten des US-Börsenbarometers S&P500 nehmen sich sämtliche 40 Dax-Werte winzig aus.

«Die Marktkapitalisierung der frei gehandelten Aktien des Dax-40 beläuft sich nur auf ein Zehntel des Börsenwerts der 40 größten S&P500-Unternehmen», rechnet Sven Streibel, Analyst bei der DZ-Bank vor. Nach dem Weggang von Linde wird sich diese Diskrepanz noch verschärfen. 

Gute Chancen für Commerzbank und Rheinmetall

Doch nicht für alle deutschen Börsenunternehmen wäre das Dax-Ende von Linde eine schlechte Nachricht. Profiteur Nummer eins könnte das Unternehmen sein, das aus dem Nebenwerte-Index MDax nachrückt. Nach den Kriterien der Deutschen Börse AG, die für die Zusammensetzung des Dax-40 klare Regeln formuliert hat, haben die Commerzbank und der Rüstungs- und Automobilzulieferkonzern Rheinmetall die besten Chancen. Auch der Medizintechnikspezialist Carl Zeiss Meditec könnte eventuell noch infrage kommen.

Ob die Commerzbank Linde ersetzt oder eher Rheinmetall, wird unter anderem von dem genauen Datum des Dax-Abschieds abhängen. Erfolgt die Entscheidung erst nach der Vorlage der Commerzbank-Jahreszahlen für 2022, hat das Geldhaus wohl die besseren Chancen, denn um in den Leitindex aufzusteigen, muss eine Firma mindestens zwei Jahre lang profitabel gewesen sein: 2022 und 2021 hat die Bank einen Gewinn gemacht, nicht aber 2020.

Weitere Profiteure sind die übrigen Dax-Werte, deren Indexanteil steigt. Sowohl Rheinmetall als auch Commerzbank oder Carl Zeiss Meditec sind gemessen am Wert der frei gehandelten Aktien (das entscheidende Kriterium für den Dax-Proporz) eher Leichtgewichte, die nur einen Anteil von rund einem Prozent haben werden.

Die restlichen neun Prozent, die durch Linde frei werden, verteilen sich also auf die übrigen 39 Titel. Durch die Käufe von Fonds könnten deren Kurse in den nächsten Wochen profitieren, am stärksten die der Dickschiffe SAP, Siemens, Deutsche Telekom, Airbus und Allianz. 

Innerhalb des Dax verschieben sich ausserdem die Branchengewichtungen. Linde zählt als Hersteller von Roh- und Grundstoffen, ebenso wie BASF, Symrise, Brenntag und Covestro. Künftig würde der Anteil dieses Sektors statt 15 Prozent nur noch sieben Prozent betragen, haben die Strategen der Deutschen Bank ausgerechnet.

Ohne Linde steigt SAP zur Nummer eins im Dax auf, gefolgt von Siemens. «Bei beiden ist zu erwarten, dass ihr Dax-Gewicht künftig bei knapp unter zehn Prozent liegen wird», schreibt Carolin Raab, Analystin bei der Deutsche Bank.