Lindsay Owen-Jones ist Engländer, spricht perfekt französisch und gestikuliert wie ein Italiener: Er redet mit den Händen, mit der Stirn und mit den Augen. Das Lachen knipst er meist mit etwas Verzögerung an, nachdem er die Wirkung seiner Worte abgewägt hat. Dann aber zieht er die Mundwinkel fast bis zu den Ohren. Die vielen Lachfalten sind ein Gradmesser für seine Lebensfreude.
Herr Owen-Jones, Sie sind Chef des grössten Kosmetikkonzerns der Welt, was ist Schönheit für Sie? «Jeder Mensch ist schön, wenn er sich pflegt. Wenn man sich selbst etwas Gutes tut, fühlt man sich schön. Das kann eine positive Wirkung darauf haben, wie man mit seiner Umgebung kommuniziert.» Monsieur L’Oréal hat den universellen Werbeslogan des Hauses verinnerlicht: Weil ich es mir wert bin.
Obschon von kleiner Statur, ist Owen-Jones’ Präsenz raumgreifend. Anfang September legt der Verwaltungsratspräsident und Chief Executive Officer von L’Oréal den Finanzanalysten Rechenschaft ab, am Hauptsitz des Unternehmens im gesichtslosen Pariser Vorort Clichy. Zuvor hat er dem Verwaltungsrat während Stunden Red und Antwort gestanden. Obschon er Halsweh hat, begrüsst er etliche Analysten aufgeräumt mit Namen, Handschlag und einem Augenzwinkern.
Owen-Jones beherrscht die Kunst der Verführung wie kein Zweiter in der Schönheitsindustrie. Das renommierte US-Magazin «Business Week» ernannte ihn zum Manager des Jahres 2002. Das britische Forschungsinstitut The Economist Intelligence Unit kürte L’Oréal zum erfolgreichsten europäischen Unternehmen. Tatsächlich schrieb keine andere börsenkotierte Firma eine solche Erfolgsgeschichte: Im Jahr 2002 wies L’Oréal zum 18. Mal in Serie ein zweistelliges Gewinnwachstum aus: Bei 14,3 Milliarden Euro Umsatz lieferte der Schönheitskonzern 1,45 Milliarden Gewinn ab. Mehr als ein Viertel davon fliesst in die Kasse von Nestlé (siehe «Die Dame im Hintergrund» unten). Fürs laufende Geschäftsjahr stellt Owen-Jones, seit 14 Jahren L’Oréal-Chef, abermals einen zweistelligen Zuwachs in Aussicht. Der Umsatz soll wie im Durchschnitt der letzten Jahre zwischen sieben und neun Prozent steigen.
Was sind die Ingredienzen dieses Erfolgs? Zunächst der Enthusiasmus, den «OJ», wie der Boss intern genannt wird, im Unternehmen verströmt. Passion ist das, was engen Mitarbeitern als Erstes in den Sinn kommt, wenn sie nach dem Wesen ihres Chefs befragt werden. Leidenschaft für seine Produkte und die Menschen. François Dalle, Owen-Jones’ Vorgänger an der Spitze von L’Oréal, rühmt dessen Fähigkeit, mit Menschen aller Kulturen und Länder in Kontakt zu treten. Darum sei er der geeignete Mann gewesen, L’Oréal im Zeitalter der Globalisierung zu führen. Ehedem ein traditionell französisches Unternehmen, machte Owen-Jones L’Oréal mit Akquisitionen und aggressivem internem Wachstum zur weltweiten Nummer eins. Erzielte das Unternehmen 1990 rund 90 Prozent des Umsatzes in Europa, sind es heute noch 50 Prozent.
Heute deckt L’Oréal alle Verkaufskanäle ab: Coiffeure, Apotheken, Parfümerien, Supermärkte. Und zwar in allen Marktsegmenten, vom teuren Armani-Parfum bis zum günstigen Fructis-Shampoo. Und auf allen Kontinenten. Jemand hat ausgerechnet, dass jede Sekunde auf der ganzen Welt hundert L’Oréal-Produkte über den Ladentisch gehen.
Ohne dass es die Konsumentin merkt, kann Owen-Jones so wertvolle Synergien nutzen: Das im Luxussegment erworbene Know-how ist in den Massenprodukten enthalten und umgekehrt. Um Kosten zu sparen, wird hinter den Kulissen markenübergreifend geforscht und entwickelt.
Ob Masse oder Klasse – Markenpflege ist für Owen-Jones oberstes Gebot. «Links und rechts Marken zu kaufen, um das Wachstum zu beschleunigen, ist keine Kunst», sagt der Patron, «die wahre Herausforderung ist es, das Portefeuille zu straffen und nur die strategisch wichtigen Marken in die Welt hinauszutragen. Wir wollen uns auf die Produkte mit dem grössten Potenzial beschränken.» Also strafft er, ebenso wie Nestlé und die meisten anderen Konsumgütermultis, das Markenportfolio. Bereits wurden La Roche-Posay mit Phas zusammengelegt und Vichy mit Laboratoires d’Anglas. Die deutsche Marke Jade und die französische Gemey werden allmählich mit Maybelline verschmolzen. Rund ein Dutzend Dachmarken mit internationaler Ausstrahlung, die so genannten Umbrella-Brands, sollen künftig den Globus überziehen, darunter L’Oréal Paris, Garnier, Maybelline, Lancôme oder Vichy. Geschickt verbessert L’Oréal nach einer Übernahme die Qualität der Produkte und bringt sie mit neuem Namen, höheren Preisen und besseren Margen neu in die Regale. In Deutschland steht zwar noch der Name der vor Jahren übernommenen Jade auf der Packung, aber die Rezeptur ist längstens Maybelline.
Auf diese Art und Weise merzt OJ weisse Flecken auf der Landkarte aus. Indem er in kleineren Märkten Kosmetikunternehmen erwirbt, kommt er zu Marktanteilen und zu Know-how. So lief das in Argentinien, Chile und Brasilien, wo mit Miss Ylang, Princeton und Colorama lokale Produkte in die bestehenden Marken integriert wurden.
Während Coca-Cola auf dem ganzen Globus die gleiche Brause serviert, begann L’Oréal vor einiger Zeit, die Unterschiede zu pflegen. Produkte und Kampagnen werden an lokale Gegebenheiten angepasst. Zuständig für die Durchführung der Strategie ist Owen-Jones’ einzige Kollegin in der Konzernleitung, Béatrice Dautresme. Die 57-jährige Französin, verantwortlich für die strategische Geschäftsentwicklung, geht davon aus, dass «jede Zivilisation ihre eigene Wahrnehmung und Vision von Schönheit hat». Mit dieser Aussage sorgte sie vor einem Jahr am WWD Beauty CEO Summit von Evian – einem wichtigen Stelldichein der Schönheitsmanager – für Aufsehen.
Damit erfand die Frau das Geschäft irgendwie neu. «Wir müssen die Tatsache komplett überdenken, dass die Schönheitsindustrie in den letzten dreissig Jahren ein einziges Schönheitsideal auf die ganze Welt projizierte», sagt Dautresme. «Die Werte haben geändert, das moderne Leben ist vielfältig und multikulturell. Die Produkte müssen die Kulturen, in der sie vermarktet werden, spiegeln.» Mit Hochdruck werden nun die Gewohnheiten der Schönheitspflege in einzelnen Ländern erforscht.
Koreanische Frauen zum Beispiel pflegen ihr Gesicht jeden Tag mit rund 20 verschiedenen Produkten; L’Oréal bietet ihnen darum die Crèmes in viel kleineren Portionen an als den Frauen in der westlichen Hemisphäre. In Japan hat die Wimperntusche eine andere Textur als bei uns, weil die Wimpern einer japanischen Frau kürzer und weniger geschwungen sind, zudem fährt die Japanerin beim Tuschen viel häufiger über ihre Wimpern als eine Europäerin. Wegen der anderen Pigmentstruktur altert die Haut einer Chinesin zehn Jahre langsamer als die einer Europäerin. Die Rezepturen werden angepasst.
|
Nach den Asiaten lässt Owen-Jones nun die afrikanische Bevölkerung erforschen. In Chicago hat er kürzlich das Institute for Ethnic Hair and Skin Research eingeweiht, das sich der Grundlagenforschung von Haut und Haar der afrikanischen Bevölkerung widmet. Afrikanisches Haar zum Beispiel glänzt weniger als das von Europäerinnen, zudem ist es brüchiger. Auf Grund dieser Erkenntnisse werden nun auch für schwarze Kundinnen Produkte entwickelt. Ein Schritt Richtung Afrika war auch der Erwerb von SoftSheen, einer amerikanischen Marke zur Pflege von Afrolooks.
Da im Schönheitsgeschäft Quantensprünge wie die dauerhafte Bekämpfung von Haarausfall oder grauen Haaren nicht in Sicht sind, muss die Kundschaft mit einem steten Nachschub an kleineren Innovationen bei Laune gehalten werden. L’Oréal erzielt rund 17 Prozent des Umsatzes mit so genannt neuen Produkten.
Ein Hätschelkind von Owen-Jones ist das neue Segment Nutricosmetics, Kosmetik zum Essen sozusagen. Seine Augen beginnen zu glänzen, wenn er über diesen Zukunftsmarkt spricht. Zusammen mit Nestlé hat L’Oréal eine Pille entwickelt, die der Hautalterung von Frauen über 40 Jahren vorbeugen sollen. Das Produkt Innéov Fermeté ist das erste greifbare Resultat des Joint Venture zwischen Nestlé und L’Oréal. Nachdem die Pille im März in fünf europäischen Staaten eingeführt worden war, ist sie jetzt auch in der Schweiz in die Apotheken gekommen.
Mit seinen Produkten verkauft Owen-Jones auch viele Illusionen. Mitarbeiter rühmen sein Gespür für Marketing und für die Bedürfnisse der Frauen. Offenbar gelingt es dem Firmenchef auch, die rund 50 000 L’Oréal-Mitarbeiter mit seinem Enthusiasmus anzustecken. Der «Esprit L’Oréal», von dem Mitarbeiter schwärmen, spornt zu immer neuen Höchstleistungen an. Dabei müssen sich Mitarbeiter ständig von kritischen Vorgesetzten oder von OJ himself hinterfragen lassen. Die «Grill-Partys», wie die Befragungsrunden heissen, sind berühmt-berüchtigt.
Im Gegenzug hat jeder Mitarbeiter das Recht, Fehler zu machen. Auch Owen-Jones erzählte freimütig von einem seiner Misserfolge. Als er Anfang der Siebzigerjahre als Junior-Produktmanager in Belgien arbeitete, lancierte er einen Haarspray namens Toute Douceur. Leider machte das Produkt das Haar so weich, dass die Frisur jeglichen Halt verlor.
Hätte er keine zweite Chance erhalten, stünde er heute nicht an der Spitze von L’Oréal. Damit die Mitarbeiter lernen, unternehmerisch zu denken, und sich nicht scheuen, Risiken einzugehen, delegiert er selbst jungen Produktmanagern in einem frühen Stadium viel Verantwortung. Dies ist ein Grund, warum L’Oréal zu den beliebtesten Arbeitgebern von Hochschulabgängern gehört.
Zu Owen-Jones’ grössten Anliegen gehören die Rekrutierung und die Entwicklung von Talenten. Kosten spart er nicht durch Stellenabbau, sondern durch Einsparungen im Einkauf und in der Herstellung, etwa indem die Zahl der Verpackungstypen reduziert wird. Jeder Mitarbeiter weiss: Wenn ich hart arbeite und erfolgreich bin, werde ich rasch befördert, auch international. Da Führungskräfte in erster Linie intern rekrutiert werden, braucht niemand Angst zu haben, dass ihm plötzlich ein externer Kandidat vor die Nase gesetzt wird. Das ist ein Grund, warum rund die Hälfte der 50 000 Mann starken Belegschaft ein
Leben lang bei L’Oréal arbeitet.
Auch Konzernchef Owen-Jones absolvierte seine ganze Karriere beim Schönheitsunternehmen: Nach seinen Studien in Oxford und in Fontainebleau stieg er mit 23 Jahren als einfacher Verkäufer unten ein, um im Eiltempo sämtliche Hierarchiestufen zu durchlaufen. Von Zeit zu Zeit lassen sich die Analysten von Spekulationen über den Rücktritt ihres Lieblingsmanagers beunruhigen, worauf der Aktienkurs von L’Oréal vorübergehend prompt ins Minus fällt. Der 57-jährige Owen-Jones selbstentschärft jede Frage nach einem möglichen Ausscheiden mit einem breiten Lachen. Er lässt keinen Zweifel an der Tatsache: Von der Nationalität her ist und bleibt er L’Oréalier.
|